In der zweiten Entscheidung des Tages, dem LG Stuttgart, Beschl. v. 04.11.2021 – 6 Qs 9/21 – geht es auch noch einmal um die Anforderungen an die Anordnung der Durchsuchung bei Dritten im Sinne von § 103 StPO, und zwar hier bei Rechtsanwälten.
Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, das die StA gegen die Beschuldigten L., I. K. und T. K. u.a. wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das Insiderhandelsverbot führt. Der Beschuldigte L. ist Rechtsanwalt und Partner der Beschwerdeführerin, der C., die ihre Kanzleiräume in der S.-Straße in S. hat. Auf Antrag der StA hat das AG die Durchsuchung der Wohnräume des Beschuldigten L. in der C.-Straße in S. sowie seiner Geschäftsräume, der Kanzlei C. in der S.-Straße in S., jeweils einschließlich der auf dem Anwesen befindlichen Sachen, Behältnisse und Fahrzeuge, welche der Beschuldigte L. nutzen kann, angeordnet. Der Sicherstellung sollten auch elektronisch gespeicherte Daten und die zum sichtbar machen geeigneten Geräte unterfallen. Die Durchsuchungsanordnung ist dann ausgeführt worden, es sind verschiedene Gegenstände pp. sicher gestellt worden.
Dagegen hat sich die C gewandt, die mit ihrem Rechtsmittel teilweise Erfolg hatte:
„1. Die Anordnung der Durchsuchung war rechtmäßig. Die Voraussetzungen für den Erlass der Durchsuchungsanordnung gemäß §§ 102, 105 Abs. 1, 162 Abs. 1 und Abs. 2 StPO waren im allein maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses gegeben.
a) Es bestand ein Anfangsverdacht gegen die Beschuldigten L., I. K. und T. K. ….
b) Die Anordnung der Durchsuchung der Wohnräume und der Geschäftsräume des Beschuldigten L. in der Kanzlei C. ist nicht zu beanstanden.
aa) Der Begriff der Wohnung in § 102 StPO ist weit auszulegen. Darunter fallen auch nicht allgemein zugängliche Geschäfts- und Büroräume, die der Beschuldigte tatsächlich innehat (KK-StPO/Bruns, § 102 Rn. 8). Um einen solchen Raum handelt es sich jedenfalls bei dem persönlichen Büro des Beschuldigten L. nebst angeschlossenem Sekretariat.
Hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit der Anordnung der Durchsuchung weiterer Räume der Kanzlei ist zu differenzieren: Insoweit bleibt § 102 StPO dann maßgeblich, wenn weitere Personen lediglich Mitinhaber der tatsächlichen Herrschaft über die Räumlichkeiten sind. Wenn die Räumlichkeiten hingegen allein einer unbeteiligten Person zuzuordnen sind, ist § 103 StPO maßgeblich (BGH, NStZ 1986, 84, 85; OLG Köln, BeckRS 2018, 6002 Rn. 6).
Vor diesem Hintergrund handelt es sich nach Ansicht der Kammer auch bei den Archivräumen der Kanzlei um Geschäftsräume des Beschuldigten L., da dieser als Partner der Kanzlei an den Räumen Mitgewahrsam hatte. Soweit die Beschwerde die Rechtsansicht vertritt, es bedürfe hierzu der tatsächlichen Nutzung, eine rechtliche Nutzungsbefugnis reiche nicht aus (LR-StPO/Tsambikakis, 27. Auflage 2018, § 102 Rn. 54; Hiéramente, NStZ 2021, 390, 392), folgt die Kammer dem nicht. Der Mitgewahrsam besteht bereits dann, wenn der beschuldigte Partner der Sozietät den Archivraum als Informationsquelle für seine Tätigkeit in der Kanzlei nutzen darf und der Archivraum anderen Bediensteten der Kanzlei nicht exklusiv zugeordnet ist (LG Bonn, BeckRS 2011, 11803). Insoweit setzt Mitgewahrsam, also die (geteilte) tatsächliche Sachherrschaft, nicht voraus, dass in dem Archivraum eine bestimmte Anzahl von Unterlagen des beschuldigten Partners der Sozietät gelagert sind, vielmehr kommt es auf die potentielle Zugriffsmöglichkeit an. Diese besteht auch dann, wenn der beschuldigte Partner der Sozietät nicht jeden einzelnen Archivraum der räumlichen Lage nach kennt. Es genügt insoweit, dass der Partner der Sozietät unter Zuhilfenahme beispielsweise des ihm zugeordneten Sekretariatspersonals Zugriff auf die Räumlichkeiten und die darin gelagerten Unterlagen nehmen kann. Soweit dem pauschal „Gründe des effektiven Geheimnisschutzes“ entgegengehalten (LR-StPO/Tsambikakis, a.a.O.) oder „ausufernde Unternehmensdurchsuchungen“ besorgt (Hiéramente, a.a.O.) werden, überzeugt dies nicht. Insoweit erfolgt eine Begrenzung im Rahmen des Durchsuchungsprogramms, wie es auch das Bundesverfassungsgericht fordert (BVerfG, NJW 1976, 1735, 1736; 1994, 2079; 2005, 1917, 1920).
bb) Eine weitere Konkretisierung der zu durchsuchenden Räumlichkeiten war nicht geboten, denn es war zulässig, den Ermittlungspersonen Zugang zu allen Räumen zu gewähren, an denen der Beschuldigte L. zumindest Mitgewahrsam hatte. Welche Räume dies sein würden, konnte im Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses nicht abschließend beurteilt werden. Die insoweit von der Beschwerde geltend gemachten Erfahrungssätze zur Einrichtung von Anwaltskanzleien existieren nicht.
cc) Die Anordnung der Durchsuchung gegen den Beschuldigten L. war auch unter Berücksichtigung seiner beruflichen Stellung als Rechtsanwalt und des Umstandes, dass seine Kanzlei durchsucht werden sollte, nicht unverhältnismäßig.
Mildere, gleich wirksame Mittel, die vorzuziehen gewesen wären, sind nicht ersichtlich. Ein Herausgabeverlangen gemäß § 95 StPO kam nicht in Betracht. Die Pflicht zur Vorlage und Auslieferung trifft nur den Zeugen (KK-StPO/Greven, § 95 Rn. 2). Die Anordnung einer solchen Maßnahme gegenüber dem Beschuldigten L. kam daher von vornherein nicht in Betracht.
Es handelt sich, anders als die Beschwerde meint, auch keineswegs um einen Tatvorwurf von untergeordneter Bedeutung, der nach Opportunitätsvorschriften einzustellen wäre. Die Gewinne, die der Beschuldigte L. erzielt haben soll, sind mit ca. 15.000 € gerade nicht geringfügig, sondern machen einen fünfstelligen Betrag aus. Hinzu käme, dass die Tat, sofern sie nachgewiesen werden würde, in engem Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit des Beschuldigten L. als Rechtsanwalt stünde.
Die Anordnung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil potentiell der Mitgewahrsam anderer Rechtsanwälte betroffen war. Insoweit waren die sicherzustellenden Unterlagen so genau bezeichnet, dass der Umfang der Maßnahme von vornherein auf ein Mindestmaß beschränkt war.
c) Eine wirksame Anordnung der Durchsuchung bei Dritten nach § 103 StPO enthält der Beschluss nicht.
Zwar zitiert die Beschlussformel auch § 103 StPO. Dies genügt jedoch für die wirksame Anordnung einer Durchsuchung bei unverdächtigen Dritten nicht. Es wird weder klar, gegen wen sich die Durchsuchung insoweit richten soll, noch ob die Voraussetzungen hierfür vorlagen und geprüft wurden.
aa) Als Dritte im Sinne von § 103 StPO kamen hier bereits nach Aktenlage im Zeitpunkt des Erlasses die Zeugen Rechtsanwälte S. und R. in Betracht. Diese werden im Beschluss aber weder namentlich als Betroffene nach § 103 StPO bezeichnet, noch wird die Durchsuchung der ihnen allein zuzuordnenden Räume ausdrücklich angeordnet. Zwar werden die Zeugen S. und R. im Tenor in Zusammenhang mit den aufzufindenden Beweismitteln genannt. Es handelt sich bei der Aufzählung potentieller Beweismittel um nicht mehr als eine Richtlinie für die Durchsuchung im Sinne einer gattungsmäßigen Umschreibung von Beweismitteln (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, 64. Auflage 2021, § 98 Rn. 9). Ausdrücklich angeordnet wird lediglich die Durchsuchung der Geschäftsräume des Beschuldigten L. an der Geschäftsanschrift der Kanzlei C.
bb) Darüber hinaus fehlt es betreffend die Zeugen S. und R. aber auch an der Begründung einer solchen Anordnung der Durchsuchung. Die bei Rechtsanwälten gebotene besonders sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2015 – 2 BvR 497/12, BeckRS 2015, 45182) ist nicht erkennbar. Der Beschluss des Amtsgerichts verhält sich mit Blick auf die Zeugen S. und R. weder zu der nach § 103 StPO erforderlichen qualifizierten Auffindevermutung, noch zu der Frage, ob eine Durchsuchung bei diesen als Dritte verhältnismäßig ist.
cc) Diese Mängel können auch nicht im Beschwerdeverfahren geheilt werden.
Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass das Beschwerdegericht die Begründung des Erstgerichts ergänzt, allerdings setzt dies voraus, dass die Funktion der präventiven Kontrolle gewahrt bleibt (MüKoStPO/Hauschild, 1. Aufl. 2014, § 105 Rn. 41b; BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2005 – 2 BvR 1108/03, BeckRS 2005, 24600). Die Heilung einer vollzogenen Durchsuchungsanordnung kommt somit nicht in Betracht, wenn diese dem mit der Begrenzungsfunktion des Durchsuchungsbeschlusses bezweckten Schutz des von der Durchsuchung Betroffenen zuwiderliefe (BVerfG, NJW 2009, 2518, 2520 f.). Letzteres wäre angesichts des gänzlichen Fehlens der Begründung der Fall. Es ist nicht nachvollziehbar, ob das Amtsgericht die Durchsuchung bei den Dritten S. und R. anordnen wollte und geprüft hat. Da bereits die Begründung im Beschwerdeverfahren nicht nachgeholt werden kann, kann erst recht nicht die Anordnung selbst nachgeholt werden.
dd) Da bereits keine Anordnung einer Durchsuchung nach § 103 StPO vorliegt, kann auch dahinstehen, ob ein Herausgabeverlangen gemäß § 95 StPO betreffend die Zeugen S. und R. ein milderes, gleich wirksames Mittel gewesen wäre. Die Kammer neigt aber zu der Ansicht, dass ein grundsätzlicher Vorrang des Herausgabeverlangens gegenüber einer Durchsuchung nach § 103 StPO auch bei einer Rechtsanwaltskanzlei nicht existiert (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, § 103 Rn. 1a; LG Köln, wistra 2021, 37).
ee) Die L1 als Mandantin der Zeugen S. und R. ist nicht Dritte im Sinne von § 103 StPO. Die Vorschrift setzt nämlich voraus, dass es sich um eine Durchsuchung „bei“ der dritten Person handelt, dass also ihre Wohn- oder Geschäftsräume, ihre Person oder ihre Sachen durchsucht werden sollen. Bei den Kanzleiräumen von C. handelt es sich nicht um Geschäftsräume der L1 Insoweit käme nur eine Durchsuchung von Sachen, insbesondere Unterlagen, der L1 in Betracht. Jedoch gilt § 103 StPO nur für Sachen, die beim Nichtverdächtigen abgestellt sind. Im Umkehrschluss war die Anordnung der Durchsuchung, sofern sich die Sachen im Mitgewahrsam des Beschuldigten L. befanden, bereits von der Anordnung nach § 102 StPO gedeckt (vgl. KK-StPO/Bruns, § 102 Rn. 11).
2. Die Art und Weise der Durchsuchung war rechtswidrig, soweit Büroräume und E-Mail-Konten durchsucht wurden, die allein den Zeugen S. und R. zuzuordnen waren.
Insoweit fehlte es an der erforderlichen ermittlungsrichterlichen Anordnung nach §§ 103, 105 Abs. 1, 162 Abs. 1 und Abs. 2 StPO (siehe oben).
Im Übrigen war die Art und Weise der Durchsuchung nicht zu beanstanden. Soweit die Beschwerde vorträgt, es seien über 100 Rechtsanwälte betroffen gewesen, ist dies unzutreffend, denn die Anordnung der Durchsuchung betraf lediglich den Beschuldigten L. und Räume an denen dieser Mitgewahrsam hatte. Dass Unterlagen dritter Rechtsanwälte – mit Ausnahme der Zeugen S. und R. – erhoben oder durchgesehen worden wären, ist nicht ersichtlich.
a) Die vorläufige Sicherstellung der Asservate Nr. 1/1/1 und 1/2/1 bis 1/2/17 zur Durchsicht ist nach § 110 StPO rechtmäßig erfolgt. Eine solche setzt voraus, dass Papiere, worunter auch elektronische Aufzeichnungen und E-Mails auf dem Server des E-Mail-Providers fallen, im Gewahrsam des Betroffenen stehen ohne weiteres als Beweisgegenstand aufgrund des Durchsuchungsbeschlusses in Betracht kommen (KK-StPO/Bruns, § 110 Rn. 2 f.). Dies ist angesichts des im Beschluss vom 26. April 2021 enthaltenen Durchsuchungsprogramms für die genannten Asservate der Fall. Das Asservat 1/1/1 wurde im Büro des Beschuldigten L., die übrigen Asservate in den Archivräumen der Kanzlei erhoben, an denen der Beschuldigte L. Mitgewahrsam hatte.
b) Die vorläufige Sicherstellung des Asservats Nr. 1/3/1 ist rechtswidrig, soweit E-Mails der Zeugen S. und R. sichergestellt wurden. Eine Durchsuchung nach § 103 StPO wurde nicht angeordnet. Folglich kann auch keine Durchsicht nach § 110 StPO erfolgen, da diese Teil der Durchsuchung ist. Die Anordnung der Durchsuchung beim Beschuldigten L. nach § 102 StPO bietet insoweit keine hinreichende Grundlage, da dieser nicht zumindest Mitgewahrsam an den E-Mail-Postfächern der Zeugen S. und R. hatte.
Die E-Mails sind daher herauszugeben bzw. die elektronischen Kopien zu löschen, sofern keine richterliche Beschlagnahme durch das hierfür zuständige Amtsgericht angeordnet wird. Obwohl die Staatsanwaltschaft die richterliche Beschlagnahme bereits mit Schreiben vom 3. August 2021 beantragt hat, ist eine Entscheidung des Amtsgerichts insoweit noch nicht erfolgt.“
Ist ein bisschen viel, aber das LG musste ja auch einiges prüfen 🙂 .