Und dann eine Entscheidung zum Verkehrsverfahrensrecht, und zwar der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.06.2022 – 5 Qs 40/22. Im Grunde handelt es sich um einen Klassiker zu folgendem Sachverhalt
Das AG hat gegen die Angeklagte einen Strafbefehl wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort erlassen. Der Angeklagten wird vorgeworfen, am 22.02.2022 mit ihrem Pkw ausgeparkt zu haben und dabei mit dem auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkenden Pkw kollidiert zu sein. Durch den Unfall sei ein Fremdsachschaden am Pkw des Geschädigten in Höhe von 3.268,69 EUR entstanden. Obwohl sie den Unfall bemerkt und erkannt, bzw. damit gerechnet habe, dass ein nicht völlig unbedeutender Fremdschaden entstanden war, soll sie die Unfallstelle, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen, verlassen haben. Durch die Tat soll sie sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben.
Darüber hinaus entzog das Amtsgericht der Angeklagten mit Beschluss vom gleichen Tag vorläufig die Fahrerlaubnis und ordnete die Beschlagnahme des Führerscheins an. Dagegen die Beschwerde der Angeklagten, die Erfolg hatte:
„Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Für ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort besteht derzeit kein dringender Tatverdacht.
Nach § 111a StPO kann die Fahrerlaubnis vorläufig nur dann entzogen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Fahrerlaubnis gem. § 69 StGB endgültig entzogen wird. Dringende Gründe für den endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis liegen vor, wenn dies in hohem Maße wahrscheinlich ist (BVerfG, Beschluss vom 25.04.1995 – 2 BvR 1847/94). Die Kammer hält nach derzeitigem Ermittlungsstand einen endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis zwar nicht für ausgeschlossen, gleichwohl aber nicht in hohem Maße für wahrscheinlich.
Eine Identifizierung der Angeklagten als verantwortliche Fahrzeugführerin ist derzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit gegeben.
1. Die Angaben der Angeklagten gegenüber dem Polizeibeamten S. sind unverwertbar.
a) Die polizeilichen Ermittlungen führten zur Angeklagten als Halterin des Fahrzeugs. Der Zeuge E. beobachtete die Kollision und teilte der Polizei das Kennzeichen des unfallverursachenden Fahrzeugs mit. Außerdem gab er an, dass die Fahrzeugführerin eine „ältere Dame, ca. 50-70 Jahre“ gewesen sei. Ausweislich des Aktenvermerks (Bl. 60/61 d.A.) wurde die Angeklagte anschließend über eine Kennzeichenabfrage als Halterin des flüchtigen Pkws an ihrer Anschrift angetroffen. Im Rahmen eines „informatorischen Gesprächs“ habe sie die Fahrereigenschaft eingeräumt. Auf die erst daraufhin erfolgte Beschuldigtenbelehrung machte sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.
Die Angeklagte war bereits vor der Befragung des Polizeibeamten gem. § 136 Abs. 1 StPO als Beschuldigte zu belehren. Beschuldigter in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist der Tatverdächtige, gegen den das Verfahren als Beschuldigter betrieben wird. Grundsätzlich ist es dabei der pflichtgemäßen Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde überlassen, ob sie gegen jemanden einen solchen Grad des Verdachts auf eine strafbare Handlung für gegeben hält, dass sie ihn als Beschuldigten verfolgt. Wenn aber ausreichende Gründe dafür vorliegen, einen einer Straftat Verdächtigen als Beschuldigten zu verfolgen, darf dieser nicht aus sachfremden Erwägungen in die Rolle eines Zeugen gedrängt und nur eine „informatorische Befragung“ durchgeführt werden. Bedeutsam ist die Stärke des Tatverdachts, den der Polizeibeamte gegenüber dem Befragten hegt. Hierbei hat der Beamte einen Beurteilungsspielraum, den er freilich nicht mit dem Ziel missbrauchen darf, den Zeitpunkt der Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO möglichst weit hinauszuschieben (BGH, Beschluss vom 27.02.1992, Az. 5 StR 190/91).
Vorliegend war es seitens des Polizeibeamten ermessensfehlerhaft, die Angeklagte vor der Befragung nicht als Beschuldigte zu behandeln und entsprechend zu belehren. Die mögliche Täterin war nicht mehr nur in einer nicht näher bestimmten Personengruppe zu suchen, sondern der Tatverdacht hatte sich nach der Ermittlung der Angeklagten als Fahrzeughalterin bereits auf sie verdichtet, auch wenn grundsätzlich auch andere Personen als Nutzer des Fahrzeugs des Angeklagten in Betracht kommen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 04.07.2013 – Az. 2 OLG Ss 113/13; LG Duisburg, Beschluss vom 13.07.2018, Az. 35 Qs 38/18; LG Zwickau, Beschluss vom 10.08.2015, Az. 1 Qs 147/15; Amtsgericht Bayreuth, Beschluss vom 17.10.2002, Az. 3 Cs 5 Js 8510/02). Bei der Ausübung des Ermessens ist auch der gesetzliche Schutzzweck des § 136 Abs. 1 StPO zu berücksichtigen, dass durch die Belehrung gegenüber dem Beschuldigten eindeutig klargestellt werden soll, dass es ihm freisteht, keine Angaben zu machen. Dieses Belehrungsgebot will sicherstellen, dass der Beschuldigte vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht bewahrt wird, zu der er möglicherweise durch die Konfrontation mit dem amtlichen Auskunftsverlangen veranlasst werden könnte (OLG Nürnberg aaO). Dieser Schutzzweck wird im vorliegenden Fall nur dann gewahrt, wenn der Halter des Kraftfahrzeugs vor seiner Befragung entsprechend belehrt wird.
Dies gilt erst recht, wenn eine Personenbeschreibung des Fahrers auf den Halter zutrifft (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.11.1993, Az. 3 Ss 121/93). So liegt der Fall hier. Der Zeuge E. hat die Fahrzeugführerin als ältere Dame zwischen 50 und 70 Jahren beschrieben. Die angetroffene Angeklagte als Halterin (zum Tatzeitpunkt 80 Jahre alt) passte offensichtlich zu dieser Personenbeschreibung. Es musste sich daher dem Polizeibeamten bereits vor der informatorischen Befragung – deren genauer Inhalt und Fragestellungen auch nicht aktenkundig ist – aufdrängen, dass sie nicht nur Halterin, sondern auch Fahrerin zum Unfallzeitpunkt gewesen sein könnte.
b) Ob von diesen Grundsätzen dann eine Ausnahme zu machen ist, wenn etwa äußere Umstände den Schluss zulassen, dass der Fahrer vom Halter divergieren könnte (bspw. bei Firmenwägen oder Personenbeschreibungen des Fahrers, die vom Halter abweichen), kann dahingestellt bleiben, da eine solche Ausnahme nicht vorliegt.
c) Aus der Verletzung der Belehrungspflicht ergibt sich ein Beweisverwertungsverbot. Ein Ausnahmefall, in dem die Angaben gleichwohl verwertet werden dürfen, liegt nicht vor. Angesichts der Befragung der Angeklagten durch den Polizeibeamten liegt auch keine Spontanäußerung vor, bei der eine vorherige Belehrung nicht erforderlich wäre.
2. Eine sonstige Identifizierung der Angeklagten als verantwortliche Fahrzeugführerin ist derzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit gegeben. Die Tatsache, dass sie Halterin des unfallverursachenden Fahrzeugs ist und eine vage Personenbeschreibung (älter Dame, 50-70 Jahre) auf sie zutrifft, lässt den Tatverdacht zwar nicht gänzlich entfallen, gleichwohl liegt derzeit aber kein dringender Tatverdacht vor.
Es wird der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben müssen, ob sich der Tatverdacht durch weitere Ermittlungen (etwa Durchführung einer Wahllichtbildvorlage mit dem Zeugen E. oder Einholung einer konkreteren Personenbeschreibung beim Zeugen E.) erhärten lässt.“