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StA nimmt ihre Berufung vor Begründung zurück, oder: Ignorante/falsche Entscheidung des LG Karlsruhe

daumen

Und im zweiten Posting dann den LG Karlsruhe, Beschl. v. 20.06.2024 – KO 3 Qs 20/24. In der Entscheidung geht es mal wieder um die Problematik/Frage: Gebühren(erstattung( für den Rechtsanwalt, wenn die StA ihr Rechtsmittel vor Begründung zurücknimmt, der Verteidiger aber schon tätig geworden ist.

Die gibt es – so auch das LG Karlsruhe mal wieder – nicht:

„Allein streitig war im vorliegenden Fall die Frage, inwieweit auch Gebühren für das Berufungsverfahren erstattungsfähig sind, nachdem die am 08.12.2023 eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft Karlsruhe am 16.01.2024 zurückgenommen wurde, ohne dass in der Zwischenzeit eine Begründung erfolgt war. Im Ergebnis handelte es sich bei den hierfür geltend gemachten Kosten nicht um notwendige Auslagen.

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass diese Frage in Literatur und Rechtsprechung umstritten ist. Während große Teile der Literatur die Meinung vertreten, dass jedes Tätigwerden des Verteidigers in diesem Verfahrensstadium notwendig ist, besteht in der Rechtsprechung jedenfalls für die Revision überwiegend Einigkeit, dass ein Handeln des Verteidigers vor Eingang der Revisionsbegründung nicht angezeigt ist (vgl.: OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.02.2021, Az.: 2 Ws 246/20 m. w. N.). Der letztgenannten Auffassung schließt sich die Kammer an, da in diesem Verfahrensstadium ein Tätigwerden des Verteidigers zwecklos ist. Für eine sachgerechte und sinnvolle Tätigkeit besteht in dieser Zeit regelmäßig keine Veranlassung, eine Beratung kann sich allenfalls auf hypothetische Angriffsziele des Rechtsmittels beziehen. Allein das subjektive Bedürfnis des Verurteilten nach einer Beratung lässt eine solche nicht als notwendig erscheinen.

Diese Maßstäbe gelten auch für die Berufung. Die Kammer hält insoweit an ihrer Auffassung aus dem Beschluss vom 26.03.2012, Az.: 3 Qs 22/12 KO, fest. Zwar sieht § 344 StPO eine Begründungspflicht nur für das Rechtsmittel der Revision vor, während das Rechtsmittel der Berufung nach S 317 StPO eine Begründung nicht zwingend vorsieht. Gleichwohl ist die Staatsanwaltschaft nach Nr. 156 Abs. 1 RiStBV zur Begründung eingelegter Berufungen verpflichtet, ihre Einlegung und Begründung sind dem Verteidiger zuzustellen. Daher ist es einem Angeklagten grundsätzlich auch bei der Berufung zumutbar, auf die Rechtsmittelbegründung zu warten, um erst anschließend mit seinem Verteidiger die notwendigen Maßnahmen zur Verfolgung seiner Interessen zu ergreifen (so auch: OLG Stuttgart, a. a. O. m. w. N.).“

Mich überzeugt das nicht – hat es übrigens noch nie. Natürlich ist ein Handeln des Verteidigers als Beistand des Angeklagten gerade auch in diesen Fällen „angezeigt“. Denn gerade in diesen Fällen wird beim Verteidiger ja Rat gesucht, wie es weitergeht. Und den gen Rat gibt es dann kostenlos? Nein, das ist falsch. Ich weiß auch nicht, warum LG und OLG diese falsche Ansicht dauernd wiederholen. Die sind doch dort alle so schlau, jedenfalls tut man so.

Und hier ist/war es m.e. besonders frech. Denn hier hatten wir – so die Mitteilung der Kollegin, die mir die falsche Entscheidung geschickt hat – folgende „Zwischengeschehen“.

„Hintergrund war Folgendes: Mein Mandant, dem ich als PfV beigeordnet war, wurde erstinstanzlich freigesprochen. Die StA wollte eine Verurteilung wegen Betrugs zu 2 J 10 M und die Einziehung iHv 181.500 EUR. Nach dem Freispruch kündigte die StA lauthals an, Rechtsmittel hiergegen einlegen zu wollen. Das LG würde dieses Urteil sicher nicht halten, hieß es.

Nachdem die Begründung des Urteils vom AG pp. kam, habe ich ein Schreiben dorthin geschickt und gegenüber der StA die Rücknahme der Berufung anheim gestellt. Dass die StA tatsächlich zurücknehmen würde, hätte ich niemals erwartet.

Dem Mandanten ging der A… auf Grundeis, insbesondere wegen der drohenden Einziehung. Dementsprechend erfolgte naturgemäß auch eine Beratung, wie das Ganze nun weitergeht.

Tatsächlich nahm die StA aber die Berufung nach meinem Schreiben zurück.“

Das war also nicht ein „sachgerechte und sinnvolle Tätigkeit“? Man versteht die Ignoranz der Kammer nicht. Sie ist in meinen Augen frech, zumal die Begründung mit keinem Wort auf den Verfahrensverlauf eingeht. Man hätte auch schreiben können: Gibt es nicht, haben wir immer schon so gemacht. Dann wäre man noch schneller mit „ander Leuts“ Einnahmen „fertig gewesen“.

Auslagenerstattung nach Einstellung des Verfahrens, oder: Verfahrenshindernis der Verjährung

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Heute stelle ich dann ein paar Entscheidungen vor, die sich mit der Frage der Kosten- und Auslagenentscheidung nach Einstellung des Verfahrens, also §§ 467, 467a StPO, befassen.

Zunächst etwas aus Karlsruhe. Das AG Karlsruhe hatte eine Bußgeldverfahren wegen Verjährung eingestellt – der Bußgeldbescheid war nicht fristgemäß zugestellt – eingestellt. In der Kosten- und Auslagenentscheidung hieß es dann kurz und zackig nur: „Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 464, 467 Abs. 1 und 3 StPO. Unter Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls wird daher davon abgesehen, die notwendi­gen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Das sieht das LG Karlsruhe dann im LG Karlsruhe, Beschl. v. 31.01.2024 – 4 Qs 46/23 – anders:

2. Die Kostenentscheidung des Amtsgerichts Karlsruhe vom 25.08.2023 war auf die sofortige Beschwerde der Betroffenen insoweit aufzuheben, als darin angeordnet wurde, dass die Betroffene ihre notwendigen Auslagen im Bußgeldverfahren selbst zu tragen hat. Diese waren der Staatskasse aufzuerlegen.

Gemäß § 467 Abs. 1 StPO fallen grundsätzlich die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last, soweit das Verfahren gegen ihn eingestellt wird. Über § 46 Abs. 1 OWiG gilt diese Vorschrift sinngemäß auch für das Bußgeldverfahren. Gemäß §§ 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO, 46 OWiG kann das Gericht jedoch davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.

Ein Fall der §§ 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO, 46 OWiG ist indes in vorliegender Sache im Ergebnis nicht gegeben:

Soweit in dem Beschluss des Amtsgerichts zur Begründung auf die „Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls“ abgestellt wird, bleibt schon unklar, ob damit ein Tatverdacht gegen die Betroffene in einem für eine Anwendbarkeit des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO erforderlichen Maß begründet werden sollte. In Rechtsprechung und Literatur gehen hin-sichtlich der insoweit zu fordernden Tatverdachtsstufe die Ansichten auseinander: § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO verlangt, dass der Angeschuldigte wegen einer Straftat „nur deshalb nicht verurteilt wird“ weil ein Verfahrenshindernis besteht. Teilweise wird insoweit verlangt, dass bei Hinweg-denken des Verfahrenshindernisses mit Sicherheit von einer Verurteilung auszugehen sein müsse (vgl. etwa KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, StPO § 467, Rn. 10a). Dies erscheint vorliegend mangels einer Beweisaufnahme zum Tatvorwurf in der Sache zumindest zweifelhaft. Nach anderer Ansicht und wohl herrschender Rechtsprechung genügt eine niedrigere Tatverdachtsstufe und insbesondere ein auf die bisherige Beweisaufnahme gestützter erheblicher Tatverdacht (vgl. etwa OLG Bamberg, Beschluss vorn 20.07.2010, Az.: 1 Ws 218/10). Letztlich kann die Frage der Verdachtsstufe aber vorliegend offen bleiben.

Die Möglichkeit, nach § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO von einer Erstattung der notwendigen Auslagen abzusehen. besteht nämlich nur dann, wenn zusätzlich zu dem Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es als billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.2017, BvR 1821/16, NJW 2017, 2459). Die erforderlichen besonderen Umstände dürfen dabei aber gerade nicht in der voraussichtlichen Verurteilung und der zu Grunde liegenden Tat gefunden werden, denn das ist bereits Tatbestandsvoraussetzung für die Ermessensentscheidung des Gerichts (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 20.07.2010, 1 Ws 218/10) Grundlage für ein Absehen von der Erstattung notwendiger Auslagen muss vielmehr ein hinzutretendes vorwerfbar prozessuales Fehlverhalten des Betroffenen sein. Bei einem in der Sphäre der Verwaltungsbehörde oder des Gerichtes eingetretenen Verfahrenshindernis hingegen, wird es regelmäßig der Billigkeit entsprechen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzubürden (vgl. BVerfG. a.a.O., KK-StPO/Gieg, a.a.O., Rn 10b; LG Ulm, Beschluss vorn 06.11.2020 — 2 Qs 46/20, BeckRS 2020, 32961).

Im vorliegenden Fall liegt ein prozessuales Fehlverhalten der Betroffenen nicht vor. Der Grund für den Eintritt des Verfahrenshindernisses der Verjährung liegt vielmehr darin, dass eine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheids (unter der ausweislich der Meldeauskunft vorn 02.11.2021 seit dem 13.10,2021 maßgeblichen Adresse „26 Rue pp. in pp. /Frankreich“) nicht erfolgt ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint es im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung nach §§ 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO. 46 OWiG unbillig, die Betroffene entgegen der gesetzlichen Regel nach §§ 467 Abs. 1 StPO, 46 OWiG mit ihren notwendigen Auslagen zu belasten.“

Und in die gleiche richtige Richtung geht der AG Limburg, Beschl. v. 19.03.2024 – 3 OWi 110/24.

Formulierung der Grundentscheidung zum StrEG, oder: Teilvollstreckung zwischen Widerruf und Aufhebung

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Und dann als zweite Entscheidung mal wieder etwas zum StrEG und damit zusammenhängend zur Auslegung der Formulierung einer Grundentscheidung. Folgender Sachverhalt:

Der Antragsteller begehrt Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Strafverfolgungsentschädigung. Er ist durch inzwischen rechtskräftiges amtsgerichtliches Urteil wegen Vollstreckungsvereitelung und Bankrott zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung auf 3 Jahre, verurteilt worden. Das Urteil wurde am 21.03.2017 nach Rücknahme der hiergegen eingelegten Berufungen der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft rechtskräftig. Nachdem der Verurteilte die Bewährungsauflagen nicht erfüllt hat, hat das AG die Bewährung widerrufen. Die Vollstreckung der Strafhaft hat ab dem 14.10.2020 begonnen. Mit Beschluss vom 17.02.2021 hat das AG eine Anhörung nach § 33a StPO gewährt und die Vollstreckung unterbrochen. Der Verurteilte wurde noch am selben Tag aus der Strafhaft entlassen. Mit Beschluss vom 28.07.2021 hat das AG den Widerrufsbeschluss aufgehoben und die ausgesetzte Strafe erlassen.

Mit Beschluss vom 27.05.2022 hat das AG … „für die erlittene Strafhaft“ eine Entschädigung zugesprochen. Mit Schreiben vom 31.10.2022 beantragte der Verurteilte eine Entschädigung für die erlittene Strafhaft, und zwar folgende Einzelpositionen Strafhaft (127 Tage zu je 75.- EUR) 9.525.- EUR; Anwaltskosten Vollstreckungsverfahren: 799,48 EUR, Anwaltskosten Entschädigungsverfahren 1.054,10.- EUR, insgesamt also 11.378,58 EUR. Für eine Klage über diese Summe ist die Prozesskostenhilfe beantragt worden. Der Antrag hatte keinen Erfolg, er ist mit dem LG Karlsruhe, Beschl. v. 23.10.2023 – 11 O 19/23 – zurückgewiesen worden:

„Der Prozesskostenhilfeantrag war zurückzuweisen.

Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, § 114 ZPO.

Aus der Grundentscheidung des Amtsgerichts pp. ergibt sich nicht, dass der Antragsteller für eine bestimmte Anzahl von Hafttagen (geltend gemacht sind: 127 Tage) zu entschädigen ist.

Der Tenor und die Gründe der Entscheidung schweigen zur Länge der „erlittenen Strafhaft“.

Die Grundentscheidung des Strafgerichts muss indes nach § 8 Abs. 2 StrEG die Art und gegebenenfalls den Zeitraum der Strafverfolgungsmaßnahme bezeichnen, für die Entschädigung zugesprochen wird. Eine Ergänzung der Entschädigungsentscheidung im Betragsverfahren kommt allenfalls dann in Betracht, wenn sich die fehlenden Angaben zum Entschädigungszeitraum aus den Gründen der die Entschädigungspflicht feststellenden Entscheidung oder ihrem unmittelbaren Aktenzusammenhang ohne jeden Zweifel eindeutig entnehmen lassen (OLG Düsseldorf, JMBl NW 1986, 30). Ist dies – wie hier – nicht möglich und bleibt der Zeitraum offen, für den eine Entschädigung zu gewähren ist, scheitert der Entschädigungsanspruch im Betragsverfahren insgesamt an der Unvollständigkeit der Grundentscheidung (OLG Düsseldorf, JMBl NW 1987, 198: Urt. v. 21. 5. 1987 – 18 U 249/86; v. 5. 11. 1987 – 18 U 86/87; v. 23. 11. 1989 – 18 U 137/89), auf deren fristgerechte Ergänzung bei der zuständigen Stelle nicht beantragt wurde.

Im Übrigen kann weder der amtsgerichtlichen Grundentscheidung noch dem Klageentwurf noch sonstigen Aktenbestandteilen entnommen werden, dass der Antragsteller überhaupt „durch eine strafgerichtliche Verurteilung einen Schaden erlitten hat“, wie § 1 Abs. 1 StrEG dies voraussetzt. Denn wenn das Gericht die Aussetzung einer Strafe (§ 56 StGB) oder eines Strafrestes (§ 57 StGB) widerruft, aber die Widerrufsentscheidung später abgeändert wird, gibt es für eine Teilvollstreckung zwischen Widerruf und Aufhebung keine Entschädigung nach dem StrEG (vgl. KG 25.2.2005 – 5 Ws 67/05, juris Rn. 5?ff.; MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 29). § 1 Abs. 1 StrEG setzt vielmehr voraus, dass eine rechtskräftige Verurteilung später fortfällt oder gemildert wird. Beide Voraussetzungen sind nicht gegeben. Die hier zugrunde liegende strafrechtliche Verurteilung hat in dem genannten Sinne keine Korrektur erfahren (vgl. KG Beschluss vom 25.2.2005 – 5 Ws 67/05, BeckRS 2005, 11575, beck-online).

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung der Entschädigung bei einem vergleichbaren Sachverhalt nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 24.7.1973 – 2 BvR 440/73, unveröffentlicht). Der deswegen angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Beschwerde für nicht begründet erklärt und eine Entschädigung nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ebenfalls abgelehnt, weil der Betroffene nach der Verurteilung durch ein zuständiges Gericht rechtmäßig in Haft gehalten worden war (Entsch. vom 9.3.1978, Appl. No. 7629/76).

Eine analoge Anwendung der Norm auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation kommt nicht in Betracht – es fehlt an einer Regelungslücke, insbesondere verlangt höherrangiges Recht eine solche Gleichstellung nicht.“

Erstattungsfähigkeit von Reisekosten nach Freispruch, oder: Anreise von einem anderen Ort ohne Anzeige

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Am RVG-Tag heute zunächst eine Entscheidung zur Erstattungsfähigkeit von Reisekostendes Angeklagten.

Insoweit gilt der Grundsatz: Wird ein Angeklagter frei gesprochen, kann er Auslagenersatz verlangen. Dazu gehören auch seine Reisekosten. Nur ist manchmal fraglich, in welchem Umfang der Angeklagte Erstattung verlangen kann. Dazu hat sich der LG Karlsruhe, Beschl. v. 06.12.2023 – 16 Qs 57/23 – geäußert, den ich schon in anderem Zusammenhang vorgestellt habe (vgl. hier: Bemessung der Rahmengebühr als Mittelgebühr I, oder: Freispruchantrag der StA hat keine Auswirkungen).

Für den „zweiten Teil“ der Entscheidung folgender Sachverhalt: Der Angeklagte war in dem gegen ihn anhängigen Verfahren unter seiner Wohnanschrift/Meldeadresse in Pforzheim in der Bundesrepublik Deutschland schriftlich vorgeladen. Daraufhin legitimierte sich sein Verteidiger als Wahlverteidiger. Seinem Schreiben vom 20.07.2022 war beigefügt die auf ihn ausgestellte und unterschriebene Vollmacht des ehemaligen Angeklagten, auf der sich ebenfalls die Adressdaten der deutschen Meldeadresse befand.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat das AG gegen den ehemaligen Angeklagten einen Strafbefehl. Auf den Einspruch des Verteidigers fand am 01.03.2023 beim AG Pforzheim von 11:02 Uhr bis 11:16 Uhr die Hauptverhandlung statt. In dieser erwähnte der ehemalige Angeklagte erstmals, dass er aus geschäftlichen Gründen eine österreichische Anschrift habe. Die Hauptverhandlung wurde am 22.03.2023 von 14:52 Uhr bis 15:00 Uhr fortgesetzt.

Der Angeklagte wurde frei gesprochen. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten wurden der Staatskasse auferlegt. Das Urteil des Amtsgerichts Pforzheim ist echtskräftig.

Der ehemalige Angeklagte dann hat u.a. Reisekosten in Höhe von 985,- EUR geltend gemacht. Das hat er u.a. damit begründet, er sei tatsächlich in Oberparschenbrunn in Österreich wohnhaft. Hierzu legte er eine entsprechende Meldebestätigung vom 04.11.2021 vor. Nach Aktenlage hat der Angeklagte erstmals im Rahmen der Kostenfestsetzung erwähnt, dass er auch von Österreich aus und nicht von seiner Meldeadresse in Pforzheim zu den Hauptverhandlungsterminen habe anreisen müssen.

Die Bezirksrevision ist der Festsetzung der geltend gemachten Reisekosten entgegen getreten. Die Fahrtkosten aus Österreich seien nicht festzusetzen. Der Angeklagte sei offiziell in Pforzheim gemeldet und auch dort geladen worden. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die beabsichtigte Fahrt aus dem Ausland sei vor Durchführung der Hauptverhandlung nicht ersichtlich. Ansonsten wäre es dem Gericht ggf. möglich gewesen, die Hauptverhandlung so zu legen, dass sich der Beschwerdeführer ohnehin an seiner Meldeadresse in Pforzheim aufgehalten hätte. Das AG ist dem gefolgt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des ehemaligen Angeklagten hatte Erfolg:

„3. Die dem Beschwerdeführer selbst entstandenen Fahrtkosten sind nach § 464a Abs. 2 Nr. 1 StPO i.V.m. § 5 JVEG erstattungsfähig.

Der Beschwerdeführer macht Fahrtkosten von seinem Wohnsitz in Österreich aus geltend, obwohl er jeweils an seiner Meldeadresse in Pforzheim geladen wurde.

Ausgangspunkt für die Beurteilung der Erstattungsfähigkeit ist § 5 Abs. 5 JVEG, der unmittelbar anwendbar ist. Durch den ausdrücklichen gesetzlichen Verweis bedarf es einer entsprechenden Anwendung von §§ 5, 6 JVEG nicht (in diesem Sinne aber offenbar Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 464a Rn. 15 m.w.N.). Aus § 5 Abs. 5 JVEG folgt: Wird die Reise zum Ort des Termins „von einem anderen als dem“ in der Ladung oder Terminsmitteilung bezeichneten oder der zuständigen Stelle „unverzüglich angezeigten Ort“ angetreten oder wird zu einem anderen als zu diesem Ort zurückgefahren, werden Mehrkosten nach billigem Ermessen nur dann ersetzt, wenn der Berechtigte zu diesen Fahrten durch besondere Umstände gezwungen war.

Eine förmliche Anzeige des Reiseantritts des Beschwerdeführers aus Österreich ist nicht aktenkundig. Die jedenfalls vom Beschwerdeführer behauptete Erwähnung seiner Arbeitsstelle in Österreich im Rahmen der Hauptverhandlung erfüllt erkennbar nicht die Anforderung an eine ordnungsgemäße Anzeige.

Dem Wortlaut der Norm nach kommt die vom Beschwerdeführer begehrte Erstattung nach billigem Ermessen demnach nur noch in Betracht, wenn der Berechtigte zu diesen Fahrten durch besondere Umstände gezwungen war (vgl. LG Koblenz MDR 1998, 1183 zu § 9 ZESG; erwähnt bei JVEG/Schneider, 4. Aufl. 2021, JVEG, § 1 Rn. 158).

Für Angeklagte ist die Regelung nach ihrem Sinn und Zweck sowie dem systematischen Zusammenhang mit den Vorschriften der StPO jedoch einschränkend auszulegen: Die unverzügliche Anzeige soll dem Gericht nur die Prüfung ermöglichen, ob es den Zeugen, Sachverständigen oder sonstigen Beteiligten zunächst abbestellen will (vgl. OLG Dresden, JurBüro 1998, 269; Hartmann, KostenG, 39. Aufl., § 5 JVEG Rn 22). Hätte das Gericht die Ladung aber in jedem Fall aufrechterhalten, so sind dem Beteiligten die Mehrkosten der An- und/oder Rückreise von oder zu einem anderen als dem in der Ladung angegebenen Ort auch dann zu erstatten, wenn er die Anreise von dem anderen Ort verspätet oder überhaupt nicht angezeigt hat (vgl. OLG Celle NStZ-RR 2013, 62; OLG Dresden, JurBüro 1998, 269; OLG Schleswig, RPfl 1962, 367; Hartmann, § 5 JVEG Rn. 24; Meyer/Höver/Bach, JVEG, 25. Aufl., § 5 Rn 5.23). Das ist aber bei Angeklagten stets der Fall. Da gegen einen ausgebliebenen Angeklagten gem. § 230 Abs. 1 StPO eine Hauptverhandlung grundsätzlich nicht stattfinden kann, ist es ausgeschlossen, dass das Amtsgericht den Beschwerdeführer abgeladen hätte, wenn er seine Anreise aus Österreich rechtzeitig angezeigt hätte. Zwar wäre es dem Beschwerdeführer gem. § 411 Abs. 2 Satz 1 StPO grundsätzlich möglich gewesen, seinen Verteidiger für die Vertretung im Einspruchsverfahren gegen einen Strafbefehl gesondert zu bevollmächtigen. Insofern hätte ausnahmsweise entgegen § 230 Abs. 1 StPO eine Hauptverhandlung auch ohne den Beschwerdeführer stattfinden können. Eine solche Vorgehensweise liegt indes nicht in der Disposition des Gerichts. Die insoweit von der Bezirksrevision hypothetisch angedachte Möglichkeit einer kostenschonenden Terminierung von Hauptverhandlungen rund um die Verfügbarkeiten des Beschwerdeführers an seiner Meldeadresse in Pforzheim entspricht nicht den realen organisatorischen Gegebenheiten einer durch erheblichen Terminierungsdruck geprägten Strafjustiz.

Die fehlende Anzeige steht also der Erstattungspflicht hier nicht entgegen.

Die Anreise aus Österreich ist auch glaubhaft gemacht.“

Bemessung der Rahmengebühr als Mittelgebühr I, oder: Freispruchantrag der StA hat keine Auswirkungen

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Und dann heute „Gebührentag“. Heute gibt es dann zwei Postings zu LG-Entscheidungen, die sich beide mit der richtigen Bemessung der Rahmengebühr befassen.

Ich beginne mit LG Karlsruhe, Beschl. v. 06.12.2023 – 16 Qs 57/23, und zwar zur Bemessung der (Rahmen)Gebühren nach einem Freispruchantrag des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung.

Dem ehemaligen Angeklagten war das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und wegen Volksverhetzung gem. §§ 86a Abs. 1 Nr. 4, 86a Abs. 1 Nr. 1, 130 Abs. 3, 52 StGB vorgeworfen worden. Nach Einspruch gegen den gegen ihn erlassenen Strafbefehl hat beim AG die Hauptverhandlung stattgefunden, und zwar am zunächst am 01.03.2023 von 11:02 Uhr bis 11:16 Uhr und dann noch am 22.03.2023 von 14:52 Uhr bis 15:00 Uhr. In der Hauptverhandlung haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung beantragt, den Angeklagten freizusprechen. Dem ist das AG gefolgt. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten wurden der Staatskasse auferlegt.

Der Angeklagte hat dann die Erstattung der bei ihm entstandenen Verteidigerkosten beantragt. Geltend gemacht worden sind auch bei der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und der Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG die Mittelgebühren. Der Vertreter der Staatskasse hat geltend gemacht, diese seien niedriger anzusetzen. Zu berücksichtigen sei u.a. auch, dass die Staatsanwaltschaft ebenfalls einen Freispruch gefordert habe. Dem ist das AG gefolgt hat nur festgesetzt bei der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG 170,00 EUR und bei der Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG nur 140 EUR. Die u.a. dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des ehemaligen Angeklagten hatte Erfolg. Das LG hat die vom Verteidiger angesetzte Mittelgebühr festgesetzt:

„Die erstattungsfähige Gebühr innerhalb des Rahmens des Vergütungsverzeichnisses des RVG hängt von den in § 14 RVG aufgeführten Umständen ab. Die Angemessenheit der von dem Verteidiger bestimmten Gebühr wird im Kostenfestsetzungsverfahren überprüft (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 464b Rn. 3). Der Rechtspfleger prüft gem. § 464a Abs. 2 StPO die Notwendigkeit der Auslagen und ist berechtigt, die vom Verteidiger nach § 14 RVG bestimmte Rahmengebühr herabzusetzen, wenn sie unbillig hoch ist (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.). So liegt der Fall hier indes nicht.

Der Rechtsanwalt darf zwar nicht ohne Abwägung der Bemessungskriterien stets die Mittelgebühr abrechnen. Denn die Mittelgebühr ist lediglich Ausgangspunkt der Ermessensausübung des Rechtsanwalts. Soweit eines der Kriterien des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG von dem Durchschnitt abweicht, ist dies Anlass für den Rechtsanwalt, von der Mittelgebühr nach oben oder nach unten abzuweichen. Dem ist aber vorliegend nicht so.

Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass es sich um eine Sache vor dem Amtsgericht handele. Dort ist der beabsichtigte Strafbefehl mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zwar leicht überdurchschnittlich bedeutsam, nicht jedoch im für die Mittelgebühr maßgeblichen Vergleich auch mit Verfahren vor dem Oberlandes- und Landgericht.

In Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles erachtet die Kammer die Ansetzung der Mittelgebühr gleichwohl gemäß § 14 RVG als angemessen. Die Schwere der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte – Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung – begründet eine überdurchschnittliche Bedeutung des Falles. Die Komplexität, insbesondere die Klärung der Mobiltelefonnummern sowie die Bewertung der Zeugenaussage, bedingte einen erhöhten Arbeitsaufwand für den Verteidiger. In der Gesamtschau der dargelegten Gründe erweist sich die Mittelgebühr als sachgerecht und den Erfordernissen des Falles entsprechend.

Der von der Staatsanwaltschaft beantragte Freispruch steht dem nicht entgegen. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass das deutsche Strafverfahren nicht kontradiktorisch ausgestaltet ist und die Staatsanwaltschaft als objektive Behörde gem. § 160 Abs. 2 StPO auch entlastende Umstände zu Gunsten des Beschwerdeführers ermittelt. Ihren Antrag stellt die Staatsanwaltschaft indes erst am Ende des Verfahrens. Bereits deswegen ist ein erst zu diesem Zeitpunkt erkennbarer Anknüpfungspunkt ungeeignet, um eine angeblich geringere Komplexität des Verfahrens aus Verteidigersicht bis dahin rückwirkend zu rechtfertigen. Soweit auf den Schlussvortrag abzustellen ist, hat diesen ein gewissenhafter Strafverteidiger beim Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft schon im Wesentlichen vorbereitet. Zudem entfaltet auch ein übereinstimmender Antrag von Staatsanwaltschaft und Verteidigung keine Bindungswirkung für das Gericht, sodass ein gewissenhafter Strafverteidiger auch dann noch umfassend vortragen wird.“

Wegen der anderen vom LG behandelten Problematik komme ich noch mal auf die Entscheidung zurück.