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OWi II: Mal wieder Verwerfung des Einspruchs, oder: „Mit Corona infiziert, das reicht.“

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.10.2022 – IV-3 RBs 198/22 – kommt aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der OLG-Entscheidungen zu § 74 Abs. 2 OWiG, also unentschuldigtes Ausbleiben des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin.

Hier hatte das AG auch verworfen. Das OLG hat (mal wieder) aufgehoben:

„Die im Sinne von § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. §. 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ordnungsgemäß ausgeführte Verfahrensrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung.

Die Voraussetzungen für eine Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG lagen nicht vor. Denn der Betroffene ist dem Hauptverhandlungstermin vom 28. Juli-2022 nicht ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben. Er war mit Corona infiziert und daher ausreichend entschuldigt. Auf die vom Gericht alleine thematisierte Frage, ob er rechtzeitig seine Rückreise aus der Türkei antreten konnte, kommt es daher nicht an. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, dass der Beschuldigte es versäumt hat, den tatsächlich vorliegenden Entschuldigungsgrund rechtzeitig vor der Hauptverhandlung durch ein ärztliches Attest zu belegen. Entscheidend ist nicht, ob sich ein Betroffener entschuldigt hat, sondern ob er tatsächlich entschuldigt ist (vgl. Göhler, OWiG, 17. Aufl., Rn. 31 zu § 74 m.w.N.), zumal der Entschuldigungsgrund einer Erkrankung sowie die Ankündigung der Einreichung von Nachweisen/Attestierungen bereits vor der Hauptverhandlung vom Verteidiger vorgetragen worden war.“

OWi II: Verspätung wegen Vergessen des Impfpasses, oder: Genügende Entschuldigung

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Die zweite Entscsheidung des Tages kommt mit dem KG, Beschl. v. 10.03.2022 – 3 Ws (B) 56/22 – auch noch einmal aus Berlin. Es geht um die Frage der genügenden Entschuldigung und/oder die Frage der Zulässigkeit der Verwerfung des Einspruchs. Also um die Frage: War der Betroffene im Termin unentschuldigt ausgeblieben.

Folgender Sachverhalt: Zur Hauptverhandlung war der Betroffene nicht erschienen. Grund hierfür ist gewesen, dass der Betroffene keinen Einlass in das Gerichtsgebäude erhalten hatte, weil er weder ein Impfzertfikat noch einen Genesenen- oder Testnachweis bei sich hatte. Das AG hat den Einspruch daraufhin mit der Begründung verworfen, der Betroffene fehle unentschuldigt.

Mit der Rechtsbeschwerde ist dann vorgetragen worden, dass Betroffene 20 bis 30 Minuten vor Terminsbeginn um 10.30 Uhr an der Pforte des AG gewesen sei, dort jedoch mangels Impfnachweises abgewiesen worden. Daraufhin sei er umgekehrt und habe das Zertifikat holen wollen. Fünf Minuten vor Terminsbeginn sei er von seinem Verteidiger angerufen worden; diesem habe er den Sachverhalt geschildert und mitgeteilt, er werde zwischen 10.45 Uhr und 10.55 Uhr erscheinen. Der Verteidiger habe daraufhin dem Gericht mitgeteilt, er, der Betroffene, werde sich geringfügig verspäten. Um 10.45 Uhr habe das AG den Einspruch verworfen.

Die Rechtsbeschwerde hatte beim KG Erfolg:

„2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet. Das Amtsgericht hätte, nachdem es von einer 15 Minuten nicht erheblich überschreitenden Verspätung des Betroffenen wusste, dessen Einspruch nicht ohne weiteres Zuwarten verwerfen dürfen.

a) Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiterverfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet (vgl. BGHSt 24, 143; Senge in Karlsruher Kommentar, OWiG 5. Aufl., § 74 Rn. 19). Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Rechtsbeschwerde dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Betroffene noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten (vgl. VerfGH Berlin NJW-RR 2000, 1451) die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt (vgl. OLG Köln VRS 42, 184; BayObLG VRS 47, 303; 60, 304; 67, 438; StV 1985, 6; 1989, 94; NJW 1995, 3134; OLG Stuttgart MDR 1985, 871; OLG Düsseldorf StV 1995, 454; OLG Hamm NZV 1997, 408; ebenso zu den Anforderungen an den Erlass eines Versäumnisurteils wegen Nichterscheinens vor Gericht: OLG Dresden NJW-RR 96, 246 und BGH NJW 1999, 724). Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. Senat VRS 123, 291 m. w. N.). Diese über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (vgl. Senat, a. a. O.).

b) So verhielt es sich hier. Nach dem nachvollziehbaren und glaubhaften Rechtsbeschwerdevortrag war die Abteilungsrichterin bereits vor Terminsbeginn darüber unterrichtet, dass sich der Betroffene „geringfügig“, nämlich 15 bis 25 Minuten, verspäten würde. Dass der Betroffene beim ersten Aufruf der Sache um 10.34 Uhr und beim zweiten Aufruf um 10.45 Uhr fehlte, beruhte also, wie das Gericht wusste, nicht darauf, dass der Betroffene kein Interesse an der Rechtsverfolgung hatte. Es ergab sich vielmehr, wie das Amtsgericht im Urteil auch zutreffend feststellt, daraus, dass der Betroffene seine „Obliegenheit“ verletzt hatte, sich über die pandemiebedingten Zugangsregeln zu informieren. Eine solche Pflichtwidrigkeit erfüllt aber jedenfalls dann nicht die Voraussetzungen des in § 74 Abs. 2 OWiG genannten Merkmals der nicht genügenden Entschuldigung, wenn das alsbaldige Erscheinen des Betroffenen angekündigt und tatsächlich zu erwarten ist. Dies war hier der Fall. Auch grobe Fahrlässigkeit oder gar Mutwillen stehen hier schon angesichts der Volatilität der Pandemieregeln nicht in Rede.

c) Die Generalstaatsanwaltschaft vertritt in ihrer auf die Verwerfung der Rechtsbeschwerde antragenden Zuschrift die bedenkenswerte Auffassung, es könne dahinstehen, ob das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen bereits nach einer fünfzehnminütigen Wartezeit verwerfen durfte. Jedenfalls beruhe das Urteil nicht auf einem solchen – unterstellten – Verstoß gegen § 74 Abs. 2 OWiG, denn die Rechtsbeschwerde verschweige, ob sich der Betroffene überhaupt wieder zurück zum Gericht begeben habe und wann er dort eingetroffen sei.

Dieser Überlegung ist zuzugeben, dass sich die Rechtsbeschwerde nicht dazu verhält, ob und wann sich der Betroffene tatsächlich verhandlungsbereit vor dem Gerichtssaal eingefunden hat. Weiter ist anzuerkennen, dass die gerichtliche Wartepflicht auch dann nicht unbegrenzt andauert, wenn dem Gericht die Gründe der Verspätung bekannt sind. Daraus lassen sich die Erfordernisse ableiten, dass die Rechtsbeschwerde die Dauer der tatsächlichen oder zu erwarten gewesenen Verspätung beziffern und auch mitteilen muss, dass diese dem Tatrichter unterbreitet worden ist. Denn nur in diesem Fall kann das Rechtsbeschwerdegericht beurteilen, ob dem Amtsgericht ein Zuwarten tatsächlich zumutbar war.

Allerdings teilt die Rechtsbeschwerde hier mit, dass von einer 15- bis 25-minütigen Verspätung auszugehen gewesen sei und dem Amtsgericht demzufolge eine „geringfügige Verspätung“ angekündigt worden sei. Nach der Auffassung des Senats reicht dies für die Bewertung aus, dass das Amtsgericht nicht bereits nach einer fünfzehnminütigen Wartezeit den Einspruch des Betroffenen verwerfen durfte. Es dürfte die Anforderungen überspannen, würde vom Betroffenen die Mitteilung verlangt, dass und wann er sich im Falle eines bereits verkündeten Verwerfungsurteils tatsächlich verhandlungsbereit an Gerichtsstelle eingefunden hat.“

Rechtsmittel I: Dreimal Berufungsverwerfung, oder: übersetzte Ladung?, AU, Verteidiger fehlt

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Heute dann ein „Rechtsmitteltag“, also mit Entscheidungen zu Berufung, Revision und Rechtsbeschwerde.

Und ich beginne mit einigen Entscheidungen zum Dauerbrenner: Berufungsverwerfung, also § 329 StPO. Das stelle ich folgende Entscheidungen vor, allerdings jeweils nur mit Leitsatz:

Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung macht eine Verhandlungsunfähigkeit auch dann nicht glaubhaft, wenn auf ihr der ICD10-Code Z 29.0 (Notwendigkeit der Isolierung als prophylaktische Maßnahme) eingetragen wurde. Es ist Sache des Gerichts, darüber zu entscheiden, wie es einem von dem Angeklagten ausgehenden Ansteckungsrisiko, dem durch die ärztlich für erforderlich gehaltene Isolierung vorgebeugt werden soll, begegnet.

1. Die Beanstandung, dass verfahrensrechtliche Voraussetzungen einer Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht vorgelegen haben, ist mit der Verfahrensrüge geltend zu machen.
2. Ist der Angeklagte nicht der deutschen Sprache mächtig und ist seine Unterrichtung nicht auf andere Weise sichergestellt, liegt es nahe, dass sich aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren die Pflicht zur Übersetzung der Ladung und des Warnhinweises gemäß §§ 216 Abs. 1 Satz 1, 323 Abs. 1 Satz 2 StPO ergibt.
3. Unterbleibt die Übersetzung, führt dies nicht zur Unwirksamkeit der Ladung; der Anspruch auf ein faires Verfahren wird in der Regel durch die Möglichkeit zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewahrt.

1. Das Vertrauen eines Angeklagten darauf, sein Verteidiger werde absprachegemäß von der ihm erteilten Vertretungsvollmacht Gebrauch machen, entschuldigt die eigene Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht.
2. Nimmt der Verteidiger den Termin in solchen Fällen schuldhaft nicht wahr, ist die Berufung des Angeklagten zu verwerfen.
3. Ein Wiedereinsetzungsantrag, der lediglich damit begründet wird, dass der Angeklagte seinen Verteidiger pflichtbewusst und sorgfältig mit der Vertretung beauftragt und sich auf dessen Erscheinen verlassen hat, ist unbegründet.
4. Alle Tatsachen, auf die der Antragsteller sein Wiedereinsetzungsgesuch stützen möchte, müssen innerhalb der Frist des § 329 Abs. 7 Satz 1 StPO dargelegt werden.

OWI I: Einspruchsverwerfung, wenn Betroffener fehlt, oder: Krankheit als Entschuldigung

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Und heute dann OWi-Entscheidungen, und zwar mit dem Themenschwerpunkt: Verwerfung des Einspruchs, also §3 73, 74 OWiG.

Und in dem Zusammenhang stelle ich hier zunächst zwei Entscheidungen zur genügenden Entschuldigung und zur Amtsaufklärung vor, und zwar:

    1. Der Rechtsmittelführer ist in der Rechtsbeschwerde auch zur Darstellung eines potentiell rügefeindlichen Aktenvermerks des Tatrichters (hier: Erklärung, ein Entschuldigungsschreiben habe zunächst nicht vorgelegen) verpflichtet.
    2. Unterbleibt die Darstellung, führt dies ausnahmsweise nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, wenn der Tatrichter den Einspruch des säumigen Betroffenen unabhängig vom Vorliegen der Urkunde nicht verwerfen durfte.
    3. Eine zur Entschuldigung der Abwesenheit geltend gemachte Erkrankung muss nicht im Wortlaut benannt werden; die Benennung des ICD-10-Codes genügt.
    4. Bei einer durch ärztliches Attest dokumentierten Gastroenteritis ist die bestehende Symptomatik mit „akuter Brechdurchfall“ ausreichend beschrieben.
    5. Es ist regelmäßig unzulässig, aus dem Umstand, dass der erkrankte Betroffene einen Arzt aufgesucht hat, auf seine Verhandlungsfähigkeit zu schließen.
    1. Maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausbleibt (§ 74 Abs. 2 OWiG) ist jedoch nicht, ob er sich durch eigenes Vorbringen genügend entschuldigt hat, sondern vielmehr, ob er entschuldigt ist. Das AG hat insofern auch bei einer „Folgebescheinigung“ eine Amtsaufklärungspflicht.
    2. Im Falle des Nichterscheinens wegen Krankheit liegt ein Entschuldigungsgrund vor, wenn die Erkrankung nach Art und Auswirkung eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht, wobei eine Verhandlungsunfähigkeit nicht gegeben sein muss. Ein ärztliches Attest, das ohne Diagnose lediglich eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, ist prinzipiell nicht ungeeignet, einen Entschuldigungsgrund darzustellen.

Corona II: Ausbleiben des Angeklagten und Aussetzung der Hauptverhandlung, oder: Was sagen Gerichte?

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Und im zweiten Posting dann zwei weitere Entscheidungen mit Corona-Bezug.

Zunächst der LG München I, Beschl. v. 04.01.2021 – 15 Qs 46/20. Der Angeklagte war zu einem Fortsetzungstermin in der auf seinen Einspruch gegen einen Strafbefehl anberaumten Hauptverhandlung nicht erschienen. Begründung: Bei ihm sei eine Testung auf Covid19 durchgeführt worden. Das AG hat das als nicht genügend angesehen und den Einspruch verworfen. Das LG München I hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt:

„Die Beschwerde ist auch begründet. Nach Ansicht der Kammer ist dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da das Nichterscheinen im Hauptverhandlungs-termin unverschuldet war. Nach § 412, § 392 Abs. 7 S. 1 i.V.m. § 44 S. 1 StPO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, den Einspruchstermin wahrzunehmen. Der Angeklagte war durch das Telefax seines Rechtsanwaltes vom 26.10.2020 mit den beigefügten Unterlagen ausreichend entschuldigt. Aufgrund der geschilderten Symptome und der Entnahme eines Abstrichs bestand bis zur Mitteilung des Testergebnisses für den Angeklagten eine Quarantänepflicht. Überdies darf das Gerichtsgebäude ohnehin nur von fieberfreien Personen ohne akute respiratorische Symptome betreten werden. Auch das Nichterscheinen des Verteidigers war ausreichend entschuldigt. Zwar war insoweit eine Isolierung bzw. Quarantäne ärztlich bzw. behördlich nicht angeordnet worden. Tatsächlich bestand aber insbesondere aufgrund der mehrstündigen gemeinsamen Autofahrt des Verteidigers mit dem Angeklagten wenige Tage vor Auftreten der Symptome beim Angeklagten ein nicht unerhebliches Risiko einer COVID-19 Infektion auch beim Verteidiger. Bis zum Vorliegen des Testergebnisses des Angeklagten war eine freiwillige Isolierung des Verteidigers sinnvoll und bei einer Risikoabwägung auch geboten.“

Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 18.01.2021 – 23 Kls 17/20 jug. – vom anderen Ende der Republik. Der Beschluss behandelt die Aussetzung der Hauptverhandlung, wenn wegen der Corona-Pandemie eine hinreichende räumliche Distanzierung der Prozessbeteiligten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Öffentlichkeit im Verhandlungssaal nicht zu gewährleisten ist. Und: Er setzt in einem Verfahren mit dem Vorwurf des versuchten Totschlags Haftbefehle gegen einige der Angeklagten außer Vollzug.

Die Aussetzung ist m.E. auf der Grundlage der vom LG in dem Beschluss geschilderten räumlichen Umstände auf jeden Fall gerechtfertigt. Bis zu 34 Personen auf knapp 117 m² Schwurgerichtssaal ist einfach zu viel. Was nicht geht, geht nicht. Und: Die Außervollzugsetzung der Haftbefehle ist/war dann die zwingende Folge.