Und dann noch der BGH, Beschl. v. 27.04.2023 – 5 StR 52/23 – mit einer „klassischen“ Problemati, bei der man sich wieder mal fragt: Warum?
Das LG hat den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Dagegen die Revision des Angeklagten, die ein Selbstläufer ist/war. Der BGH hat aufgehoben:
„Nach den Feststellungen des Landgerichts sprach die Geschädigte den Angeklagten am 6. September 2021 auf die Zahlung seiner Schulden in Höhe von zwei Euro an. Um sie zum Forderungsverzicht zu bewegen, sprühte er ihr unvermittelt Pfefferspray ins Gesicht und forderte sie vergeblich zum Weggehen auf. Daraufhin versetzte er ihr mit der Metallschnalle seines Ledergürtels mehrere Schläge auf Kopf und Oberkörper; sie erlitt eine Platzwunde am Hinterkopf und Schwellungen an den Händen. Nach dem letzten Schlag hielt der Angeklagte es für möglich, alles getan zu haben, um die Geschädigte endgültig zum Verzicht auf ihre Forderung zu bewegen. Dies war aber entgegen seiner Erwartung nicht der Fall.
Der Angeklagte hat angegeben, er habe keine Schulden bei der Geschädigten gehabt, vielmehr habe sie ihm seinen Rucksack weggenommen. Als er sich diesen zurückholen wollte, habe sie ihn geschubst und geschlagen, so dass er zu Boden gegangen sei. Um ihre Angriffe abzuwehren, habe er sie mit dem Gürtel geschlagen.
Das Landgericht hat diese bestreitende Einlassung als unglaubhaft angesehen. Denn für den Fall, dass seine Schilderung zuträfe, sei zu erwarten gewesen, dass er diese bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Verfahrens zu seiner Verteidigung gemacht hätte und nicht erst, nachdem er sich bereits seit über drei Monaten in Untersuchungshaft befunden hatte.
Diese Erwägung verstößt gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten. Diesem kann der Zeitpunkt, zu dem er erstmals eine entlastende Einlassung vorbringt, nicht zum Nachteil gereichen.
Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schweigerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Es steht dem Angeklagten frei, sich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 2, § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO). Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden. Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus einer durchgängigen noch aus einer anfänglichen Aussageverweigerung eines Angeklagten – und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem er sich erstmals einlässt – nachteilige Schlüsse gezogen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Juni 2022 – 1 StR 139/22 Rn. 12; vom 23. März 2021 – 3 StR 68/21 Rn. 11, jeweils mwN).
Dem Urteil lässt sich entnehmen, dass der Angeklagte sich erstmals gegenüber dem Sachverständigen geäußert hat. Dass er nicht schon früher geltend gemacht hat, in Notwehr gehandelt zu haben, darf deshalb bei der Bewertung seiner Aussage keine Berücksichtigung finden. Dieser Rechtsfehler ist auf die Sachrüge hin zu beachten (BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – 3 StR 344/15, NStZ 2016, 220).
Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Würdigung der Einlassung des Angeklagten zu einer anderen, dem Angeklagten günstigeren Überzeugung vom Tatablauf gelangt wäre (§ 337 Abs. 1 StPO).“
Oh Mann.