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Durchsuchung II: Verhältnismäßigkeit, oder: Sachverständigengutachten?

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Im zweiten Beschluss, dem BVerfG, Beschl. v. 29.07.2020 – 2 BvR 1188/18, nimmt das BVerfG zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung Stellung. Auch hier hatte die Verfassungsbeschwerde Erfolg.

Angeordnet worden war die Durchsuchung in Hamburg. Dort hatte am 01.05.2015 ein Teilnehmer einer Demonstration zwei Glasflaschen sowie zwei weitere harte Gegenstände in Richtung der anwesenden Polizeibeamten geworfen, diese jedoch nicht getroffen. Die Taten wurden gefilmt und das Videomaterial wurde anschließend in Form von Standbildern zur Ermittlungsakte genommen. Der Täter konnte während und nach der Demonstration nicht aufgegriffen und seine Identität nicht geklärt werden, weswegen er im März 2016 zur Fahndung ausgeschrieben wurde.

Am Rande einer Demonstration am 30.06.2016 wurde dann der Beschuldigte von Polizeikräften in Hamburg angehalten, da er nach Auffassung der Polizeibeamten dem Flaschenwerfer vom 01.05.2015 ähnlich sah. Die Polizei stellte seine Identität fest und fertigte Lichtbilder von ihm an, die zur Ermittlungsakte genommen wurden. Gegen den Beschuldigten erging ein Strafbefehl wegen Versuchs der gefährlichen Körperverletzung. Auf den hiergegen gerichteten Einspruch des Beschuldigten hin ordnete das AG auf Antrag des Verteidigers die Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens an, um durch einen Bildvergleich zu klären, ob zwischen dem Täter vom 01.05.2015 und dem Beschwerdeführer eine Personenidentität bestehe. Die Sachverständige kam nach einem umfassenden Lichtbildvergleich zahlreiche Körpermerkmale des Täters vom 01.05. 2015 und des Beschuldigten zu dem Ergebnis, dass eine Identität auszuschließen sei. Die StA schloss sich dem nicht an, sondern beantragt, da der Sachverhalt auch auf andere Weise aufgeklärt werden könne, einen Durchsuchungsbeschluss. Das AG lehnte die beantragte Durchsuchung ab. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das LG mit Beschluss vom 31.01.2018 diese Ablehnung auf. Es bejahte den Anfangsverdacht und auch Auffindevermutung im Hinblick auf einen Rucksack mit auffälligen weißen Streifen sowie einer Brille mit einem reflektierenden Element am Bügel, die für die Identifizierung des Beschuldigten von Bedeutung sein konnten. Die Durchsuchung blieb im Hinblick auf den Durchsuchungszweck erfolglos; als Zufallsfunde wurden Betäubungsmittel, dazugehörige Utensilien, eine Gaspistole sowie die entsprechende Munition sichergestellt. Die Verfassungsbeschwerde des Beschuldigten gegen die Beschlüsse des LG Hamburg vom 31.01.2018 hatte Erfolg.

Das BVerfG sieht die Durchsuchungsanordnung als unverhältnismäßig an:

„b) Die Entscheidungen des Landgerichts Hamburg vom 31. Januar 2018 werden diesen Anforderungen nicht gerecht. Sie erweisen sich angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalles als unverhältnismäßig.

aa) Dabei ist es im Hinblick auf das Fehlen eines gesicherten Stands der Wissenschaft im Bereich der anthropologischen Identitätsgutachten zwar vertretbar, ein derartiges Sachverständigengutachten als nicht gleich geeignet im Vergleich zu einer Durchsuchung nach Beweisgegenständen wie der Brille und dem Rucksack des Täters anzusehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juli 2016 – 2 BvR 2748/14 -, Rn. 31; BGH, Urteil vom 15. Februar 2005 – 1 StR 91/04 -, juris, Rn. 26).

bb) In Anbetracht des schwachen Anfangsverdachts gegen den Beschwerdeführer sowie des Umstandes, dass grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung standen, und im Hinblick auf die nur geringe Auffindevermutung war die Durchsuchung der Wohnräume des Beschwerdeführers jedoch nicht mehr angemessen.

(1) Der Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer erweist sich allenfalls als schwach.

Für einen Anfangsverdacht sprach zwar eine jedenfalls auf den ersten Blick bestehende optische Ähnlichkeit zwischen dem Beschwerdeführer und dem Täter vom 1. Mai 2015 im Hinblick auf Gesicht und Körperbau. Eine vom zuständigen Gericht festgestellte erhebliche Ähnlichkeit zwischen Abbildungen des Täters und des Verdächtigen kann grundsätzlich auch geeignet sein, einen Anfangsverdacht zu begründen. Da ein Bildvergleich nicht stets einer besonderen Sachkunde bedarf, besteht insofern keine generelle Pflicht, in derartigen Fällen vor der Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung stets ein anthropologisches Gutachten einzuholen.

Hier war jedoch das Amtsgericht zu der Auffassung gelangt, angesichts der nicht optimalen Bildqualität und der Bedeckungen des Täters (Kapuze, Schirmmütze) die Personenidentität nicht selbst beurteilen zu können. Entscheidend ist insofern, dass im vorliegenden Fall ein vom Amtsgericht in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten vorlag. Dieses kam zu dem Ergebnis, dass im Hinblick auf die Lippen- und Nasenstruktur zwei Ausschlusskriterien vorlägen und eine Nichtidentität sehr wahrscheinlich sei.

Soweit das Landgericht Hamburg inhaltlich zum Gutachten ausführt, ausweislich des Sachverständigengutachtens seien Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in etlichen auswertbaren Merkmalsausprägungen zu finden, während die Sachverständige demgegenüber lediglich zwei nach ihrer Einschätzung überhaupt zu berücksichtigende Abweichungen aufführe und dabei die Bildqualität sowie Verdeckungen prädikatsmindernd zugunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt worden seien, hat es die Kernaussage des Sachverständigengutachtens nicht zutreffend erfasst. Das Gutachten stellte nicht lediglich zwei, sondern insgesamt vier Abweichungen fest, von denen es zwei Merkmale nicht lediglich als „Abweichungen“, sondern als „Ausschlusskriterien“ einstufte. Sowohl die Form des unteren Lippenrots als auch die Länge und Orientierung des Nasenrückens stellten demnach stabile, keinen Gewichtsschwankungen unterliegende Merkmale dar, wobei im vorliegenden Fall von unterschiedlicher Anatomie und deshalb einem Ausschluss ausgegangen werde. Die unterschiedliche Form beider Körpermerkmale erläuterte die Sachverständige in Wort und Bild.

Darüber hinaus greifen auch die Einwände des Landgerichts Hamburg gegen die methodischen Standards des Gutachtens nicht durch. So führt allein der Umstand, dass die Sachverständige in Bezug auf die Bilder des Beschwerdeführers vom 30. Juni 2016 offenbar von einem früheren Aufnahmezeitpunkt ausging, nicht dazu, dass die Aussagekraft des Gutachtens mangels Einhaltung methodischer Mindeststandards vollständig erschüttert würde. Insoweit hat die Sachverständige auf Nachfrage des Amtsgerichts ausgeführt, dass die Ausführungen zu diesen Lichtbildern keinen Einfluss auf das Ergebnis hatten, welches einzig und allein auf dem Merkmalsabgleich und den diesbezüglichen Ergebnissen beruhe. Soweit das Landgericht Hamburg diese Stellungnahme der Sachverständigen für unzureichend hält, würdigt es den Inhalt des Sachverständigengutachtens nicht hinreichend. Die Sachverständige nimmt in ihrem Gutachten auf annähernd 28 Seiten einen Vergleich zwischen den Bildern vom 1. Mai 2015 und den Bildern des Beschwerdeführers vom 3. Mai 2017 vor, wobei sie unter Punkt „12. Beurteilung“ zu dem Ergebnis kommt, dass sich bei einem Vergleich Widersprüche fänden, die eine Identität ausschlössen und die Nichtidentität daher sehr wahrscheinlich sei. Erst nach dieser endgültigen Beurteilung machte die Sachverständige unter Punkt 13 auf circa einer Seite „Anmerkungen“ zu den Bildern vom 30. Juni 2016.

Ebenso wenig kann dem Landgericht Hamburg dahingehend gefolgt werden, das Gutachten sei unbrauchbar, weil die Vergleichsbilder vom Verteidiger des Beschwerdeführers eingereicht worden und daher weder die Identität der auf den Bildern abgelichteten Person noch die Manipulationsfreiheit sichergestellt seien. Insofern bestanden keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der kooperationsbereite Beschwerdeführer durch Einreichung falscher oder manipulierter Bilder versucht hätte, das Verfahren zu manipulieren. Im Hinblick auf den – durch nichts belegten – Vorwurf, der Beschwerdeführer habe womöglich Fotos einer dritten Person eingereicht, ist festzustellen, dass sich neben den vom Beschwerdeführer eingereichten Vergleichsfotos auch von der Polizei erstellte Fotos des Beschwerdeführers vom 30. Juni 2016 in der Ermittlungsakte befanden und ein Abgleich der Identität wegen der sehr guten Qualität dieser Fotos möglich gewesen wäre. Ferner ließ das Landgericht Hamburg unbeachtet, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers die Identität der auf den eingereichten Bildern gezeigten Person mit seinem Mandanten versichert hatte. Insofern ist zu berücksichtigen, dass der Strafverteidiger kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege nach geltendem Recht einen Vertrauensvorschuss genießt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2012 – 2 BvR 988/10 -, Rn. 35). Ebenso wenig lagen Anhaltspunkte für manipulierte Fotos vor.

Abgesehen von den auch dem Sachverständigengutachten zugrundeliegenden Fotos vom 1. Mai 2015 waren sonstige Anhaltspunkte, die für eine Täterschaft des Beschwerdeführers gesprochen hätten, nicht ersichtlich.

Zusammenfassend war der Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer daher im Hinblick auf das den Mindeststandards genügende Sachverständigengutachten, welches eine Nichtidentität als sehr wahrscheinlich einstufte, und dem Fehlen sonstiger Anhaltspunkte allenfalls gering und beruhte allein auf der im Widerspruch zu einem Sachverständigengutachten stehenden Feststellung, der Beschwerdeführer sehe den Fotos des Täters vom 1. Mai 2015 ähnlich.

(2) Gleichwohl bestehende Zweifel an der Aussagekraft des Gutachtens hätten bei einem derart niedrigen Verdachtsgrad durch die deutlich mildere Maßnahme der Einholung eines weiteren, den Anforderungen des Landgerichts genügenden Gutachtens beseitigt werden können. Durch eine erkennungsdienstliche Behandlung des Beschwerdeführers und die Verwendung dieser Fotos für das weitere Gutachten hätten sich auch die Bedenken zur möglichen Manipulation des Bildmaterials leicht ausräumen lassen. Gründe, warum das Landgericht seinen Bedenken an der Vorgehensweise der Sachverständigen nicht zunächst durch die Einholung eines neuen Gutachtens begegnet ist, sind nicht ersichtlich. Erst recht ist es nicht verhältnismäßig, eine Durchsuchung auch zum Auffinden von Lichtbildern „für ein gegebenenfalls einzuholendes weiteres anthropologisches Gutachten“ anzuordnen, da insoweit die sowohl grundrechtsschonendere als auch deutlich geeignetere Maßnahme einer erkennungsdienstlichen Behandlung zur Verfügung steht.

(3) Darüber hinaus war in der vorliegenden Fallkonstellation auch der Auffindeverdacht nur sehr gering.

Zwar sind konkrete Gründe, die dafür sprechen müssen, dass der zu suchende Beweisgegenstand in den zu suchenden Räumlichkeiten gefunden werden kann, regelmäßig nur bei der Durchsuchung beim Unverdächtigen erforderlich (BVerfGK 1, 126 <132>; 15, 225 <241>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Januar 2016 – 2 BvR 1361/13 -, juris, Rn. 13).

Im Fall des Beschwerdeführers ist allerdings zu berücksichtigen, dass ihm das gegen ihn gerichtete Ermittlungsverfahren bereits seit seiner Vorladung im Juli 2016 bekannt war. Im August 2016 erging gegen ihn ein Strafbefehl. Seit spätestens September 2016 war der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten; im Oktober 2016 wurde seinem Verteidiger Akteneinsicht gewährt. Im Jahr 2017 wirkten der Beschwerdeführer und sein Verteidiger an der Erstellung des von ihnen beantragten anthropologischen Gutachtens mit. Gerade wenn es sich bei dem Beschwerdeführer um den Täter vom 1. Mai 2015 handeln sollte, hätte er jedenfalls nicht ausschließen können, dass das Gutachten dies auch so feststellen würde und er weiter im Visier der Ermittlungsbehörden stünde. Die nicht näher erläuterte Feststellung des Landgerichts, Anhaltspunkte für die Vernichtung der Gegenstände bestünden gleichwohl nicht, erscheint aus diesen Gründen nicht überzeugend.

(4) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung war zwar ebenso einzubeziehen, dass vorliegend mit einer versuchten gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil von Polizeibeamten eine Straftat von nicht unerheblicher Bedeutung im Raum stand, und dass die zu suchenden Beweismittel von hohem Beweiswert sind. Allerdings vermögen diese Umstände im vorliegenden Fall den schwachen Anfangsverdacht, das Vorhandensein eines milderen Mittels zur Erhärtung des nur sehr schwachen Verdachts sowie die geringe Auffindewahrscheinlichkeit nicht auszugleichen. Die Anordnung der Durchsuchung durch das Landgericht Hamburg erweist sich hiernach unter diesen Umständen als nicht mehr angemessen.“

Durchsuchung I: Anfangsverdacht, oder: Anderes Verfahren nach § 153 StPO eingestellt?

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Zum Start der 37.KW/2020 gibt es hier heute zwei Entscheidungen des BVerfG. Beide zur Durchsuchungsanordnung.

Im BVerfG, Beschl. v. 27.07.2020 – 2 BvR 2132/19 – nimmt das BVerfG erneut zum Anfangsverdacht Stellung. Der Entscheidung liegt etwa folgender Sachverhalt zugrunde:

Es geht um eine Durchsuchung der Wohnung der Beschuldigten wegen des Verdachts der Sachbeschädigung im Zuge eines gegen sie geführten Ermittlungsverfahrens im Jahr 2019. Diesem Ermittlungsverfahren 2019 ging 2018 ein gleichfalls gegen die Beschuldigte geführtes Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung voraus. Anlass dieses Ermittlungsverfahrens war eine Strafanzeige einer Zeugin von Anfang April 2018 zu einem Vorfall am 31.3.2018, nämlich das Aufsprühen von Graffiti, u.a. des Schriftzuges „KLIT“. Das daraufhin gegen die Beschuldigte eingeleitete Strafverfahren ist dann später vom AG § 153 Abs. 2 StPO auf Kosten der Staatskasse und unter Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschuldigten eingestellt worden.

Ausgangspunkt des Ermittlungsverfahrens 2019 war ebenfalls die Strafanzeige einer Zeugin, die angegeben hat, eine Frau beim Sprühen an eine Hauswand beobachtet und im Weggehen von hinten fotografiert zu haben. Die Zeugin hatte die Täterin beschrieben. In dem daraufhin gefertigten Ermittlungsbericht regte die Polizei eine Wohnungsdurchsuchung bei der Beschwerdeführerin an. Zur Begründung führte die Polizei aus, dass in einem umfangreichen Ermittlungsverfahren 2018, das zu einer Einstellung nach § 153 StPO geführt habe, der Beschuldigte „der Schriftzug ‚KLIT‘ als individuelles Tag zugeordnet“ worden sei. Das AG hat die Durchsuchung der Wohnung der Beschuldigten angeordnet. In den Gründen des Beschlusses heißt es, die Beschuldigte sei verdächtig, am 21.7. 2019 in Braunschweig im Windfang eines näher bezeichneten Mehrfamilienhauses den Schriftzug „KLIT“ zweimal auf die Wand aufgesprüht zu haben. Der Tatverdacht beruhe auf den Angaben der Zeugin und den polizeilichen Ermittlungen.

Im Rahmen der Durchsuchung wurden weder Graffitiutensilien noch der Täterinnenbekleidung ähnliche Kleidungsstücke aufgefunden. Zwei Laptops der Beschuldigten wurden beschlagnahmt. Im Anschluss an die Durchsuchung wurde die Beschuldigte erkennungsdienstlich behandelt. Die Zeugin schloss die Beschuldigte in einer kurz darauf durchgeführten sequentiellen Wahllichtbildvorlage als Täterin aus. Auf eine Auswertung der Laptops der Beschwerdeführerin wurde daher verzichtet und das Ermittlungsverfahren gegen sie gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Die Beschuldigte hat gegen die Durchsuchungsanordnung Beschwerde eingelegt, die beim LG keinen Erfolg hatte. Die Verfassungsbeschwerde der Beschuldigten hatte Erfolg.

Ich beschränke mich hier mit den Gründen ein wenig – auch der Sachverhalt ist schon gekürzt. Das BVerfG führt u.a. aus:

„a) Die Angaben der Zeugin B. waren nicht geeignet, einen Anfangsverdacht gegen die Beschwerdeführerin zu begründen. Ihre Zeugenaussage enthielt keine Angaben, die konkret auf die Beschwerdeführerin als Täterin der Sachbeschädigung hingedeutet hätten. Insbesondere die Personenbeschreibung der Zeugin war allgemein und wies keine spezifischen Merkmale auf. Die von ihr beschriebenen Eigenschaften treffen in ihrer Allgemeinheit auf eine große Anzahl von Frauen zu, so dass eine individuelle Zuordnung zu einer bestimmten weiblichen Person auf dieser Grundlage kaum möglich erscheint. Individuelle Merkmale, die selten vorkommen und besonders auffällig sind (beispielsweise Narben, Tätowierungen, Piercings), hat die Zeugin indes nicht beschrieben. Die Beschreibung war jedenfalls ungeeignet, einen Tatverdacht gerade oder ausschließlich gegen die Beschwerdeführerin zu begründen, zumal die Ermittlungsakte im Zeitpunkt der Anordnung der Durchsuchung keine Beschreibung oder Fotoaufnahme der Beschwerdeführerin enthielt.

b) Soweit die Durchsuchungsanordnung zudem auf die polizeilichen Ermittlungen gestützt wurde, waren auch diese nicht geeignet, einen Tatverdacht in Richtung der Beschwerdeführerin zu begründen. Der Ermittlungsbericht vom 31. Juli 2019, auf den das Amtsgericht Braunschweig in seiner Nichtabhilfeentscheidung Bezug genommen hat, enthält neben einer Schilderung der Anzeigeerstattung durch die Zeugin B. lediglich die Bewertung, dass der Beschwerdeführerin im Rahmen eines nach § 153 StPO eingestellten Ermittlungsverfahrens im Jahr 2018 der Schriftzug „KLIT“ als individuelles Tag zugeordnet worden sei. Eine belastbare Tatsachengrundlage für diese Bewertung enthalten allerdings weder der Ermittlungsbericht noch die Ermittlungsakte im Übrigen.

aa) Ungeachtet des Umstandes, dass sich bei näherer Betrachtung der Fotoaufnahmen beider Schriftzüge nicht unerhebliche Unterschiede in der Gestaltung erkennen lassen und die Bewertung, es handele sich um ein individuelles, einer bestimmten Person zuordenbares Tag, bereits deshalb zweifelhaft erscheint, lässt auch ein Vergleich der Fotoaufnahmen der abgebildeten Personen nicht den Schluss zu, es handele sich um dieselbe Täterin. Insofern fehlt es an vergleichbaren individuellen Merkmalen. Anhand der Fotoaufnahmen, die die Täterin jeweils von hinten beziehungsweise von der Seite zeigen, war jedenfalls keine Identifizierung der Beschwerdeführerin möglich.

bb) Die weiter im Ermittlungsbericht enthaltene Feststellung der Polizei, die Täterinnenbeschreibung lasse sich, soweit es Alter, Größe, Haare und das junge Gesicht betreffe, auf die Beschwerdeführerin anwenden, erweist sich aufgrund der Allgemeinheit der Merkmale ebenfalls als ungeeignet, den Verdacht ausgerechnet auf die Beschwerdeführerin zu lenken.

cc) Ebenso ungeeignet ist der im Ermittlungsbericht enthaltene Hinweis auf die Wohnungsdurchsuchung bei der Beschwerdeführerin. Die Feststellung, dass im Rahmen der Durchsuchung im Jahr 2018 bei der Beschwerdeführerin keine Gegenstände aufgefunden worden seien, die mit dem Deliktsfeld Graffiti in Zusammenhang stehen, legt eher nahe, dass die Beschwerdeführerin mit der Tat im Jahr 2018 gerade nicht in Verbindung gebracht werden konnte. Bei der Mutmaßung, die Beschwerdeführerin sei auf die Durchsuchung vorbereitet gewesen, handelt es sich um eine nicht durch Tatsachen gestützte Behauptung der Polizei.

dd) Auch der Umstand, dass 2018 wegen eines gleichgelagerten Delikts ein Ermittlungsverfahren gegen die Beschwerdeführerin geführt und dieses nach § 153 StPO eingestellt wurde, begründet keine tragfähige Grundlage für die Annahme, die Beschwerdeführerin habe die Tat am 21. Juli 2019 begangen. Denn darin kommt lediglich zum Ausdruck, dass zu einem anderen Zeitpunkt durch die Ermittlungsbehörden ein Tatverdacht wegen Sachbeschädigung gegen die Beschwerdeführerin angenommen wurde und welche prozessuale Behandlung dieses Verfahren erfahren hat.

Insbesondere die Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO konnte für das Ermittlungsverfahren 2019 keine Aussagekraft entfalten. Eine Einstellung nach § 153 StPO lässt die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung unberührt. Denn Feststellungen zur Schuld zu treffen und Schuld auszusprechen, ist den Strafgerichten erst gestattet, wenn die Schuld eines Angeklagten in dem mit rechtsstaatlichen Verteidigungsgarantien ausgestatteten, bis zum prozessordnungsgemäßen Abschluss durchgeführten Strafverfahren nachgewiesen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 <372>; 82, 106 <116>). Zwar schließt es die Unschuldsvermutung nicht aus, einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten, auch wenn dem Tatverdacht nicht weiter nachgegangen wird und das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zum Nachweis der Schuld nicht stattgefunden hat. Dabei muss aber erkennbar berücksichtigt werden, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung, sondern lediglich um einen Verdacht handelt (vgl. BVerfGE 82, 106 <117>).

Indem die Fachgerichte den polizeilichen Ermittlungsbericht, wonach der Beschwerdeführerin der Tag „KLIT“ in einem anderen Verfahren zugeordnet worden sei, pauschal in Bezug nahmen, haben sie dieser Unterscheidung zwischen Schuldzuweisung und Verdacht nicht hinreichend Rechnung getragen.

ee) Hiernach fehlte es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage, die geeignet gewesen wäre, den Verdacht der Sachbeschädigung gerade gegen die Beschwerdeführerin zu richten. Die Anordnung der Durchsuchung durch das Amtsgericht Braunschweig sowie die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts erweisen sich als objektiv willkürlich.“

BVerfG II: Frist zum Stellen von Beweisanträgen, oder: Das BVerfG zweifelt

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Die zweite BVerfG-Entscheidung, der BVerfG, Beschl. v. 08.05.2020 – 2 BvR 1905/19 -, betrifft due Frist zum Stellen von Beweisanträgen (§ 244 Abs. 6 StPO).

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zwar aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht zur Entscheidung angenommen – leider 🙂 – macht aber eine ganz interessante „Anmerkung“ zu § 244 Abs. 6 StPO:

„Zwar erscheint es zweifelhaft, ob die Auslegung des § 244 Abs. 6 StPO in den angegriffenen Entscheidungen, wonach eine Frist zum Stellen von Beweisanträgen wirksam bleibt, wenn das Gericht – wie im vorliegenden Fall – nach der Fristsetzung erneut in die Beweisaufnahme eintritt, dem Anspruch auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) genügt (vgl. auch BT-Drucks 18/11277, S. 35; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 244 Rn. 99; Krehl, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 244 Rn. 87e; Börner, JZ 2018, S. 232 <239>).

Jedoch hätte die Beschwerdeführerin im Wege der Glaubhaftmachung nach § 244 Abs. 6 Satz 4 StPO a.F. (§ 244 Abs. 6 Satz 5 StPO n.F.) vorbringen können und müssen, dass zum einen die Stellung des Beweisantrags vom 15. Juni 2018 vor der Fristsetzung vom 15. Februar 2018 nicht möglich war, weil er sich auf die Einlassung des Mitangeklagten in den Hauptverhandlungsterminen vom Mai 2018 bezog, und dass zum anderen die Fristsetzung mit dem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme gegenstandlos geworden ist. Hierdurch hätte eine Zurückweisung des Beweisantrags erst im Urteil möglicherweise verhindert werden können.

Darüber hinaus hätte die Beschwerdeführerin die dargelegte Verletzung ihres Rechts auf ein faires und rechtstaatliches Verfahren mit der Einlegung des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO gegen das Unterlassen der Bescheidung des Beweisantrages im Hauptverhandlungstermin vom 15. Juni 2018 verhindern können (vgl. Schneider, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 238 Rn. 12; Becker, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2020, § 238 Rn. 18, jeweils m.w.N.).

Schließlich hat es die Beschwerdeführerin versäumt, das Anhörungsrügeverfahren nach § 356a Satz 1 StPO durchzuführen, soweit der Bundesgerichtshof – insoweit dem Generalbundesanwalt folgend – angenommen hat, die Beschwerdeführerin hätte mit dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO bereits gegen die Fristsetzung vom 15. Februar 2018 vorgehen müssen. Eine solche Anhörungsrüge wäre nicht offensichtlich aussichtslos gewesen (vgl. BVerfGE 107, 395 <410 f.>; BVerfGK 11, 390 <393>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 – 2 BvR 1569/12 -, Rn. 9 f.).“

BVerfG I: Klageerzwingungsverfahren, oder: Nicht mehr nachvollziehbare Beweiswürdigung

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Die 34. KW. eröffne ich mit zwei BVerfG-Entscheidungen.

Die erste, der BVerfG, Beschl. v. 23.03.2020 – 2 BvR 1615/16 – betrifft das Klageerzwingungsverfahren. Dort war eine Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung von Ermittlungen wegen des Todes eines Kindes nach einer Operation erfolgreich. Das BVerfG „beanstandet“ die Beweiswürdigung:

„Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 30. Mai 2016 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausformung als Willkürverbot (a), da die Beweiswürdigung wesentliche Aspekte der zur Verfügung stehenden Beweismittel unberücksichtigt lässt und hierfür ein vernünftiger Grund nicht erkennbar ist (b).

a) Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt jedoch unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; stRspr). Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 74, 102 <127>; 83, 82 <84>; 87, 273 <278 f.>). Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. BVerfGE 4, 294 <297>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. August 1996 – 2 BvR 1304/96 -, NJW 1997, S. 999 <1000>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2017 – 2 BvR 2584/12 -, Rn. 27).

b) Ein solcher Verstoß gegen Art. 31 GG liegt dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Mai 2016 zugrunde. Soweit das Oberlandesgericht zu der Annahme gelangt ist, dass allein die Anästhesistin für die postoperative Überwachung verantwortlich und damit nur sie verpflichtet war, im Vorfeld der Operation über die sich hieraus ergebenden Risiken aufzuklären, ist die Beweiswürdigung nicht mehr nachvollziehbar und willkürlich.“

„Nicht mehr nachvollziehbar und willkürlich“ liest sich nicht so schön für das OLG. 🙂 .

Beleidigung II: „solange …. die rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert“, oder: Strafbar?

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Bei dem zweiten Beschluss des Tages handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 19.05.2020 – 1 BvR 1094/19. In ihm geht es um die Verfassungsbeschwerde gegen die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung des ehemaligen Finanzministers des Landes NRW in einem Schreiben an die Finanzbehörden.

Folgender Sachverhalt: Im Rahmen eines einkommensteuerrechtlichen Festsetzungsverfahrens, in dem insbesondere die Abzugsfähigkeit der Kosten für ein gerichtliches Vorgehen gegen den Rundfunkbeitrag strittig war, erhielt der Beschwerdeführer neben dem sonstigen behördlichen Schriftverkehr ein an ihn persönlich gerichtetes, mit dessen abgedruckter Unterschrift versehenes Rundschreiben des nordrhein-westfälischen Finanzministers. Dort heißt es unter anderem: „Steuern machenkeinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif“. Daraufhin äußerte sich der Beschwerdeführer im März 2017 am Ende eines weiteren Schreibens an die Finanzbehörden, das hauptsächlich die Frage der Absetzbarkeit der Kosten des rechtlichen Vorgehens gegen den Rundfunkbeitrag, die angebliche Rechtswidrigkeit dieses Beitrags sowie die vermeintlich rechtswidrige Vorauszahlungsverpflichtung für das nächste Steuerjahr betraf und das auch allgemein eine „Drangsalierung“ und „Tyrannisierung“ der Bürger seitens des Fiskus geltend machte, wie folgt: