Heute mache ich dann mal wieder einen „Pflichti-Tag“ mit einigen Entscheidungen zur Pflichtverteidigung (§§ 140 ff. StPO).
Ergangen ist der Beschluss in einem beim OLG Stuttgart anhängigen Staatsschutzverfahren. In dem hat der Vorsitzende des Strafsenats den Antrag, dem Angeklagten Rechtsanwalt S. als zweiten Pflichtverteidiger zusätzlich beizuordnen, abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers lägen nicht vor. Das Verfahren sei weder besonders umfangreich noch besonders schwierig. Zudem sei keine Verfahrensdauer absehbar, die eine Mitwirkung eines zweiten Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung erforderlich erscheinen lasse. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Pflichtverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt K mit der sofortigen Beschwerde. Diese war zulässig, hatte in der Sache aber keinen Erfolg.
Zur Zulässigkeit der vom Verteidiger eingelegten sofortigen Beschwerde nur kurz (mein) Leitsatz:
„Das Rechtsmittel hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
1. a) Nach der Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“.
Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche – „vom Willen des Beschuldigten unabhängige“ (BT-Drucks. 19/13829 S. 49) – Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 13).
Soweit der Gesetzeswortlaut „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, benennt er lediglich exemplarisch („insbesondere“) Hauptanwendungsfälle für diese zentrale Normvoraussetzung. Hierauf ist bei der Auslegung Bedacht zu nehmen. Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es mithin nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne einen weiteren (bzw. zwei weitere) Verteidiger gefährdet wäre (BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 13).
Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein „unabweisbares Bedürfnis“ besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.
Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 14 mwN zur grundsätzlich weiterhin relevanten Rechtsprechung aus der Zeit vor der Schaffung des § 144 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 [BGBl. 2019 I S. 2128]; KG, Beschluss vom 12. Januar 2022 – 4 Ws 4/22-161 AR 265/21, juris Rn. 13; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 21. Oktober 2021 – 2 Ws 166/21, juris Rn. 6; s. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 49 f.).
b) Zwar gilt für das Rechtsmittel der (sofortigen) Beschwerde im Grundsatz, dass das Beschwerdegericht an die Stelle des Erstgerichts tritt und eine eigene Sachentscheidung trifft. Soweit seine Prüfungsbefugnis nicht auf die Gesetzwidrigkeit einer Anordnung beschränkt ist (§ 305a Abs. 1 Satz 2, § 453 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 59 Abs. 2 Satz 2 JGG), nimmt das Beschwerdegericht – anders als das Revisionsgericht – eine eigene sachliche Beurteilung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen vor und übt selbst Ermessen aus (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 1997 – 1 StR 781/96, BGHSt 43, 153, 155; Beschluss vom 26. März 2009 – StB 20/08, BGHSt 53, 238, 243 f.). Für die Prüfung der (Ablehnung der) Bestellung eines weiteren Verteidigers gilt jedoch Abweichendes.
Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. ….
2. Hieran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden. Der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart hat die Ablehnung des Antrags des Angeklagten auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers damit begründet, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO lägen nicht vor. Mit dieser Beurteilung hat er die Grenzen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums nicht überschritten.
a) Der Aktenbestand beläuft sich auf 44 Ordner aus dem Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten; hinzu kommen zwölf weitere Aktenordner des hinzuverbundenen Verfahrens gegen die Mitangeklagte. Der Vorsitzende hat vor diesem Hintergrund in seiner Entscheidung ausgeführt, der Verfahrensstoff sei nicht besonders umfangreich. Diese Wertung ist nicht zu beanstanden. Ein „unabweisbares Bedürfnis“ für die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers hat der Vorsitzende aus dem Aktenbestand nicht ableiten müssen. Ein solches läge nur vor, wenn der Verfahrensstoff als so außergewöhnlich umfangreich zu beurteilen wäre, dass er überhaupt nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit beherrscht werden könnte, und anderenfalls eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung eines ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens bestünde. Dass der Vorsitzende solches – abweichend von der Wertung in der Beschwerdeschrift – nicht angenommen hat, ist jedenfalls vertretbar. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des vom Pflichtverteidiger des Angeklagten in seiner Stellungnahme vom 18. März 2022 vorgebrachten Umstandes, der Generalbundesanwalt habe während der bereits laufenden Hauptverhandlung weiteres – überwiegend elektronisches – Beweismaterial vorgelegt. Soweit dessen Sichtung besonderen Zeitaufwand erfordert, kann dem erforderlichenfalls durch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung Rechnung getragen werden. Dies ist nach dem Vortrag des Beschwerdeführers bereits geschehen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich der Umfang des Verfahrensstoffs während der Hauptverhandlung voraussichtlich so stark erhöhen wird, dass der Aufwand für deren Durchdringung einen Verteidiger überfordern könnte.
b) Gleichfalls als jedenfalls vertretbar erweist sich die Annahme des angefochtenen Beschlusses, die aufgeworfenen Rechtsfragen seien nicht besonders schwierig. Es geht bei der Beweisaufnahme im Wesentlichen um die Einordnung des „IS“ als terroristische Vereinigung im Ausland, den Nachweis der dem Angeklagten zur Last gelegten Aktivitäten zu Gunsten des „IS“, wobei als Beweismittel insofern maßgeblich sichergestellte und ausgewertete Messenger-Kommunikation des Angeklagten in Betracht kommt, sowie um die Rechtsfrage der Einordnung der mutmaßlichen Aktivitäten des Angeklagten als mitgliedschaftliche Beteiligung an der Vereinigung „IS“ und Zuwiderhandlung gegen ein EU-Bereitstellungsverbot. Zu den damit inmitten stehenden Rechtsfragen liegt umfangreiche und gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung vor. Dass der Pflichtverteidiger die zu beantwortenden Rechtsfragen subjektiv für schwierig hält, ist demnach im vorliegenden Zusammenhang nicht maßgebend. Dafür, dass sich im Laufe der weiteren Hauptverhandlung komplexe oder ungeklärte Rechtsfragen stellen könnten, zu deren Bewältigung ein Verteidiger allein nicht in der Lage wäre, besteht kein Anhalt.
c) Der Einwand des Verteidigers des Angeklagten, der Generalbundesanwalt sei in der Hauptverhandlung mit zwei Staatsanwälten vertreten, verfängt nicht (OLG Frankfurt, Beschluss vom 11. Mai 2007 – 3 Ws 470/07; NStZ-RR 2007, 244; ebenso HansOLG Bremen, Beschluss vom 30. April 2021 – 1 Ws 24/21, juris Rn. 20 a.E.; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 141 Rn. 5; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 141 Rn. 9). Zum einen ist die autonome Entscheidung der Staatsanwaltschaft, mit welchen personellen Ressourcen der Sitzungsdienst wahrgenommen wird, für die hier relevante Beurteilung des Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrens durch den Vorsitzenden ohne Belang, zumal für die staatsanwaltschaftliche Entscheidung auch andere Kriterien als der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens maßgeblich sein können. Zum anderen üben der Verteidiger und die Staatsanwaltschaft unterschiedliche Funktionen in der Hauptverhandlung aus; die Staatsanwaltschaft, die auch auf die Aufklärung und Berücksichtigung den Angeklagten entlastender Umstände Bedacht zu nehmen hat, ist dort nicht „Gegner“ des Angeklagten. Somit verlangt auch das Gebot der Verfahrensfairness und der „Waffengleichheit“ nicht, dass die Zahl der Verteidiger des Angeklagten der Anzahl der an der Hauptverhandlung mitwirkenden Staatsanwälte entspricht.
d) Als ohne Weiteres vertretbar erweist sich zudem die Einschätzung des Vorsitzenden, die voraussichtliche weitere Dauer der Hauptverhandlung zwinge ebenfalls nicht zu der Bestellung eines zweiten Verteidigers. In Fällen einer absehbar außergewöhnlich langen Hauptverhandlung rechtfertigt sich die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger aus der Erfahrung, dass sich bei einer derartigen Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger könnte durch Erkrankung für einen längeren Zeitraum als durch Unterbrechungen nach § 229 StPO überbrückbar ausfallen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 23; OLG Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, juris Rn. 18 mwN; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 13. Januar 2020 – 2 Ws 3/20, StV 2021, 154, 155). Vom Vorsitzenden ist geplant, dass sich die im Januar 2022 begonnene Hauptverhandlung bis Ende Juni 2022 erstreckt. Eine außergewöhnlich lange Hauptverhandlung steht mithin nicht zu erwarten.
Dass – etwa wegen Vorerkrankungen des dem Angeklagten bestellten Verteidigers – eine tatsächlich erhöhte Gefahr besteht, dieser könnte für längere Zeit ausfallen, so dass ausnahmsweise ungeachtet der hier zu erwartenden nicht besonders langen Hauptverhandlungsdauer die Bestellung eines Sicherungsverteidigers gerechtfertigt sein könnte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Eine bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit eines späteren Ausfalls des Pflichtverteidigers gibt – außer in Fällen voraussichtlich ganz besonders langer Hauptverhandlungen – regelmäßig keinen Anlass zur Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – StB 17/21, NJW 2021, 1894 Rn. 9; OLG Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, NStZ 2021, 123 Rn. 12; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 13. Januar 2020 – 2 Ws 3/20, StV 2021, 154, 157; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 144 Rn. 4).
e) Das vom Verteidiger des Angeklagten geltend gemachte allgemeine Risiko seiner Erkrankung am Corona-Virus begründet nicht die Notwendigkeit der Bestellung eines weiteren Verteidigers (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – StB 17/21, NJW 2021, 1894 Rn. 9; OLG Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, NStZ 2021, 123 Rn. 17; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Mai 2020 – III-4 Ws 94/20, juris Rn. 2). Insofern ist zu berücksichtigen, dass Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus gegenwärtig zumeist nicht schwerwiegend oder langwierig verlaufen. In der Regel wird daher im Falle einer solchen Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten eine Unterbrechung der Hauptverhandlung innerhalb der Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO bis zur Genesung des Betroffenen ausreichen, auch wenn eine Hemmung des Laufes der Unterbrechungsfristen nach § 10 Abs. 1 EGStPO wegen der – gegenwärtig bis zum 30. Juni 2022 – befristeten Geltung dieser Vorschrift zukünftig ausscheiden sollte…..“
Und kleine Anmerkung mit leichtem Stirnrunzeln im Hinblick auf die Feststellung des BGH, wonach die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung nicht „Gegner“ des Angeklagten sei. In der Praxis dürfte doch wohl eher das Gegenteil der Fall sein.