Schlagwort-Archive: Besorgnis der Befangenheit

Befangen I: Mehrfaches Übergehen eines Akteneinsichtsantrags, oder: Wenn ein BGH-Senat befangen ist

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Ich stelle heute drei Entscheidungen zum Ablehungsrecht vor.

Den Reigen eröffne ich mit dem BGH, Beschl. v. 29.01.2021 – AnwSt (B) 4/20. Am Aktenzeichen kann man erkennen: Betroffen ist der Anwaltssenat des BGH, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

Der Anwaltsgerichtshof Köln hatte die Berufungen eines Rechtsanwaltes und der Generalstaatsanwaltschaft gegen ein Urteil des AnwaltsG Köln verworfen; die Revision hat er nicht zugelassen. Der Verteidiger des Rechtsanwaltes hatte dann mit Schriftsatz vom 13.02.2020 um Akteneinsicht ersucht. Dieses Gesuch hat der Anwaltsgerichtshof nicht beschieden.

Im Februar 2020 hat der Rechtsanwalt persönlich Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, der der Anwaltsgerichtshof mit Beschluss vom 06.03.2020 nicht abgeholfen hat. Mit an den Anwaltsgerichtshof gerichtetem Schriftsatz vom 24.03.2020 hat der Rechtsanwalt darauf hingewiesen, dass ihm die erbetene Akteneinsicht noch nicht gewährt worden sei. Mit Schreiben vom 17.04.2020 hat der Rechtsanwalt gegenüber der Geschäftsstelle des Anwaltssenats des BGH auf das offene Akteneinsichtsgesuch hingewiesen. Mit Schriftsatz vom 18.05.2020 hat der Rechtsanwalt gegenüber dem Senat erneut auf den Umstand hingewiesen, dass das Akteneinsichts- gesuch noch nicht beschieden worden sei; er habe deswegen noch keine Gelegenheit gehabt, den „Revisionszulassungsantrag“ abschließend zu begründen.

Auch der Anwaltssenat hat das Akteneinsichtsgesuch nicht beschieden. Vielmehr hat der Senat die Nichtzulassungsbeschwerde durch einstimmigen Beschluss vom 30. 07.2020 verworfen.

Hiergegen richtet sich nun der nach § 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 356a StPO. Diesen verbindet der Rechtsanwalt mit einer gegen alle am Beschluss vom 30.07.2020 beteiligten Richter gerichteten Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit. Und der Antrag geht durch:

„Das zulässige Ablehnungsgesuch ist begründet. Nach § 24 Abs. 2 StPO findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn aus der Sicht eines Beteiligten bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juni 2013 – AnwZ (Brfg) 24/12, NJW-RR 2013, 1211 Rn. 6; vom 15. März 2012 – V ZB 102/11, NJW 2012, 1890 Rn. 10; vom 20. August 2014 – AnwZ 3/13, Rn. 5, juris; jeweils mwN). Nicht erforderlich ist dagegen, dass tatsächlich eine Befangenheit vorliegt. Vielmehr genügt es, dass die aufgezeigten Umstände geeignet sind, der Partei Anlass zu begründeten Zweifeln zu geben; denn die Vorschriften über die Befangenheit von Richtern bezwecken, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit und Objektivität zu vermeiden (vgl. BVerfGE 108, 122, 126; BGH, Beschlüsse vom 15. März 2012 und vom 20. August 2014, jeweils aaO). Aus dem Vorliegen eines Verfahrensfehlers durch ein Gericht kann zwar nicht unmittelbar auf eine Besorgnis der Befangenheit geschlossen werden; jedoch begründen solche (qualifizierten) Verfahrensfehler die Besorgnis der Befangenheit, die sich unmittelbar zum Nachteil eines Beteiligten auswirken und deswegen den Schluss zulassen, der Richter sei nicht unparteiisch, sondern gegen den betroffenen Beteiligten eingestellt (vgl. BayObLG NJW-RR 2001, 642, 643). Wird etwa ein Akteneinsichtsgesuch übergangen und dennoch ein Verkündungstermin anberaumt, so kann auch eine besonnene Partei den Eindruck gewinnen, ihr werde vom Gericht keine hinreichende Verteidigungsmöglichkeit gewährt (OLG Köln, MDR 2001, 891).

Nach diesen Grundsätzen ist ein Ablehnungsgrund gegen die am Beschluss vom 30. Juli 2020 beteiligten Richter zu bejahen. Der Umstand, dass das Akteneinsichtsgesuch des Rechtsanwaltes durch den Senat übergangen worden und es dennoch zu einer einstimmigen Zurückweisung der Beschwerde gekommen ist, kann jedenfalls dann, wenn – wie hier – mehrfach auf das offene Akteneinsichtsgesuch hingewiesen worden ist, einem Beteiligten bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung der beteiligten Richter zu zweifeln.

Das Übergehen des Akteneinsichtsgesuchs des Verteidigers des Rechtsanwaltes war verfahrensfehlerhaft. Zunächst besteht ein Akteneinsichtsrecht des Verteidigers des Rechtsanwaltes nach § 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 147 Abs. 1 StPO. Dieses gilt grundsätzlich voraussetzungslos und besteht auch gegenüber dem erkennenden Senat. Das Recht auf Akteneinsicht ist bereits in der Vorinstanz durch den Verteidiger geltend gemacht worden. In mehreren Schriftsätzen, u.a. vom 18. Mai 2020, ist auf das noch offene Gesuch hingewiesen worden.

Dieser Hinweis ist bei verständiger Würdigung nicht nur als Rüge der unterbliebenen Gewährung von Akteneinsicht durch den Anwaltsgerichtshof, sondern auch als Antrag auf Akteneinsicht gegenüber dem Senat selbst zu verstehen. Selbst wenn man dieser Auslegung nicht folgen wollte, wäre die Zuständigkeit zur Entscheidung über das bereits vor dem Anwaltsgerichtshof angebrachte Akteneinsichtsgesuch ipso iure auf den erkennenden Senat übergegangen, als der Anwaltsgerichtshof die Sache an diesen mit dem Nichtabhilfebeschluss abgegeben hat; mit diesem Zeitpunkt ist das Beschwerdegericht das befasste Gericht im Sinne von § 147 Abs. 5 Satz 1 Variante 3 StPO (vgl. BGH, Beschl. v. 7. November 2019 – StB 24/19, juris Rn. 10). Funktional zuständig für die Gewährung der Akteneinsicht war der Vorsitzende (§ 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 147 Abs. 5 Satz 1 Variante 3 StPO).

Tatsächlich sind Gründe, die ausnahmsweise eine Verweigerung der Akteneinsicht rechtfertigen könnten (insbesondere § 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 147 Abs. 2 StPO), nicht ersichtlich. Der Beschluss des Senats geht auf das noch offene Gesuch nicht ein, weshalb auch nicht erkennbar ist, ob der Senat ggf. einen Grund für die Verweigerung der Akteneinsicht angenommen hat. Allein der Umstand, dass ein Beteiligter bereits einmal Akteneinsicht erhalten hat, schließt eine weitere Akteneinsicht jedenfalls dann nicht aus, wenn der Akten- inhalt – wie hier – umfangreicher geworden ist (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 147 Rn. 12). Zudem hatte sich der Rechtsanwalt eine abschließende Begründung seines Antrages nach Akteneinsicht vorbehalten.

Die Besorgnis der Befangenheit besteht bei allen Mitgliedern des Senats, die am Beschluss vom 30. Juli 2020 mitgewirkt haben, da es sich um einen einstimmigen Beschluss gehandelt hat und daher prozessual ausgeschlossen werden kann, dass einzelne Mitglieder des Senats sich der Entscheidung unter Hinweis auf das offene Akteneinsichtsgesuch widersetzt hätten.

Einer dienstlichen Äußerung nach § 26 Abs. 3 StPO bedurfte es nicht, da der zur Besorgnis der Befangenheit führende Sachverhalt eindeutig feststeht (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2007 – 4 StR 236/07, NStZ 2008, 117).“

Corona I: Bitte Terminsverlegung wegen der Pandemie, oder: Keine Befangenheit bei Ablehnung des Antrags

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Und in die 6. KW. geht es dann mit zwei Entscheidungen zu Corona bzw. zu Coronafragen.

Ich starte mit dem AG Plön, Beschl. v. 03.02.2021 – 34 OWi 563 Js 37777/20. An dem Aktenzeichen erkennt man: Es handelt sich um eine Bußgeldsachen. Der Verteidiger hatte unter Hinweis auf die gestiegenen Fallzahlen (ja, sie sinken) Terminsverlegung beantragt. Die hatte der Amtsrichter abgelehnt. Dagegen dann ein Befangenheitsgesuch, das (auch) keinen Erfolg hatte:

„Die Zurückweisung erfolgt, weil ein Befangenheitsgrund gegen Richter pp. tatsächlich nicht gegeben ist. Ein Richter kann als befangen abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen (§ 46 OWiG, § 24 StPO). Bei der hier in Rede stehenden Ablehnung einer Terminverlegung verhält es sich so, dass der erkennende Richter auch mit Blick auf die gegenwärtige Pandemielage und der vorgetragenen Risikofaktoren aufseiten des Betroffenen (Bezugsperson eines kleinen Kindes, zur Risikogruppe gehörende Eltern) keine Willkür hat erkennen lassen. Es war nicht sachfremd, insoweit auf die im Amtsgericht Plön getroffenen Sicherheitsvorkehrungen zu verweisen.

Im Rahmen des für das Gericht beschlossenen Hygienekonzeptes wird der Gefahr der Verbreitung des Sars-CEO V-2-Virus dadurch Rechnung getragen, dass neben einer gestaffelten Terminierung in den verschiedenen Sitzungssälen die jeweiligen Dezernenten, soweit erforderlich, Zeugen ebenfalls zeitlich gestaffelt zu den jeweiligen Terminen laden, um auf diese Weise zu verhindern, dass im Wartebereich vor den Sitzungssälen eine höhere Personenzahl vorhanden ist. Zudem lässt sich der Wartebereich vor den Sitzungssälen gut lüften, so dass mit einer Aerosolanreicherung im nennenswerten Umfange nicht zu rechnen ist. Zudem sieht das Hygienekonzept die Bereitstellung ausreichenden Händedesinfektionsmittels vor. Solches befindet sich an mobilen Spendern im Eingangsbereich des Gerichtes, aber auch vor den Sitzungssälen. Im Laufe des Tages finden im Übrigen Desinfektionen im Bereich der öffentlich zugänglichen Flächen wie Eingangsbereich, Treppenhaus, WC-Bereich aber auch im Sitzungssaal statt.

Der für die Durchführung der Hauptverhandlung zur Verfügung stehende Sitzungssaal ist gekennzeichnet durch ein Raumangebot, welches einen Mindestabstand von 1,5 m der Verfahrensbeteiligten zueinander ohne Weiteres ermöglicht. Im Übrigen können mobile Schutzwände(Plexiglas) zwischen den Verfahrensbeteiligten aufgestellt werden, um einen weiteren Schutz vor Aerosolen in der Atemluft zu erreichen. Zudem befindet sich in Sitzungssaal ein mobiles Messgerät für den Raumluftgehalt an CO2. Eine Überschreitung des CO2-Gehaltes wird angezeigt, so dass bei Be-darf die Sitzung unterbrochen werden kann, um für eine ausreichende Lüftung zu sorgen. Zudem wird dem Risiko einer Anreicherung der Raumluft durch Aerosole dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht in regelmäßigen Abständen Sitzungspausen einlegen und diese unter anderem zum Stoßlüften nutzen kann.

Diese organisatorischen und räumlichen Maßnahmen sind seit Monaten im Sitzungsbetrieb beim Amtsgericht erprobt, ohne dass ein einziger Fall bekannt geworden wäre, in dem sich eine Person infolge der Teilnahme an einer Sitzung in den Räumlichkeiten des Amtsgerichts mit dem neuartigen Coronavirus infiziert hätte. Zudem ist bekannt, dass in Schleswig-Holstein seit Auftreten der Corona-Pandemie landesweit von in der Justiz beschäftigten Personen lediglich ca. ein Dutzend an dem neuartigen Corona-Virus erkrankt sind/waren. Dies ist durchaus ein Beleg dafür, dass die in der Justiz angewendeten Hygienekonzepte die an sie gerichteten Erwartungen zu er-füllen vermögen. Zudem gehört es zu dem im Amtsgericht bestehenden Hygienekonzept, dass allen Verfahrensbeteiligten im Rahmen der Ladung zum Termin entsprechende schriftliche Hin-weise zum bestehenden Hygienekonzept und zu den Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie übermittelt werden.

Konkrete gesundheitliche Beeinträchtigungen des Betroffenen selbst oder seines Verteidigers, die darüber hinausgehende weitere Schutzmaßnahmen erforderlich machen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Dem allgemeinen Risiko einer Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus auch vor dem Hintergrund erheblich gestiegener Fallzahlen in der Bundesrepublik Deutschland steht das Interesse an der Sicherung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege gegenüber. Angesichts der vorstehend dargelegten, vom Gericht ergriffenen Schutzmaßnahmen besteht kein Anlass, das Interesse an der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege hinter das Interesse des Betroffenen am Schutz seiner Gesundheit zurücktreten zu lassen.

Das durfte auch der erkennende Richter in diesem Verfahren so sehen. Eine Besorgnis der Befangenheit liegt insoweit fern.“

So weit, so gut, oder auch nicht, kommt auf die Sichtweise an. Ich frage mich allerdings bei bei solchen Beschlüssen – auch schon vor Corona übrigens -immer, warum eigentlich gleich der Untergang des Rechtsstaates droht, wenn in einer Bußgeldsache ein Termin verlegt werden soll.

Manipulierter Verkehrsunfall, oder: Wenn der Richter von sich aus zum Ermittler von Indizien wird

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In der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, dem OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.11.2020 – 11 W 35/20, geht es auch um einen mutmaßlich manipulierten Unfall/Versicherungsfall. Der Kläger macht beim LG Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls, den der Beklagte schuldhaft verursacht haben soll, geltend. Der Beklagte hat im Verfahren behauptet, der Kläger habe den Unfall absichtlich herbeigeführt. Dazu hat er zahlreiche Indizien, wie z.B. Spurwechselunfall, Geschwindigkeitserhöhung durch den Kläger, älteres Fahrzeugmodell des Klägers mit zahlreicher Sonderausstattung, Abrechnung auf Gutachtenbasis, mehrfache und erhebliche Vorschäden am klägerischen Fahrzeug, vorgetragen, die seiner Meinung nach für einen fingierten Unfall sprechen. Der mit der Sache befasste Richter recherchierte daraufhin im gerichtsinternen Verfahrensregister den Nachnamen des Klägers. Nach Erhalt mehrerer Treffer zu vergleichbaren Verfahren forderte er die Akten an. Er weist dann die Parteien darauf hin, dass er beabsichtige, das Verfahren gemäß § 149 Abs. 1 ZPO auszusetzen und die Akte der Staatsanwaltschaft mit der Bitte um Einleitung von Ermittlungen gegen den Kläger zuzuleiten. Grundlage für die von ihm in dem Beschluss für einen provozierten Verkehrsunfall angeführten Indizien waren u. a. Erkenntnisse aus den beiden beigezogenen Verfahrensakten.

Der Kläger lehnt daraufhin den Richter als befangen ab. Dieser führte in seiner dienstlichen Stellungnahme aus, dass er aufgrund des vom Beklagten erhobenen massiven Vorwurfs frühzeitig habe klären wollen, ob dieser berechtigt oder aus der Luft gegriffen sei. Er habe den Parteien frühzeitig einen entsprechenden Hinweis geben wollen, um den Rechtsstreit bestmöglich auf der sachlichen Ebene zu halten. Das LG hat das Befangenheitsgesuch zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde des Klägers hatte beim OLG Erfolg:

„Die gemäß § 46 Abs. 2, § 567 Abs. 1 ZPO statthafte und nach § 569 ZPO fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist begründet.

 Nach § 42 Abs. 2 ZPO ist die Besorgnis der Befangenheit gerechtfertigt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Darunter sind Gründe zu verstehen, die vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung wecken können, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit nicht unparteiisch gegenüber. Nicht erforderlich ist, dass der Richter tatsächlich befangen ist; unerheblich ist, ob er sich für befangen hält. Entscheidend ist allein, ob aus der Sicht des Ablehnenden genügend objektive Gründe vorliegen, die nach Meinung einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (Vollkommer, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 32. Aufl. 2017, § 42 Rn. 9 m. w. N.).

Aus Sicht des Klägers liegen bei vernünftiger Betrachtung genügend objektive Gründe vor, die die Befürchtung wecken können, Richter am Landgericht R. stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber. Diese objektiven Gründe sind darin zu sehen, dass der abgelehnte Richter unzulässigerweise von Amts wegen ermittelt hat, um dadurch belastende Indizien zum Nachteil des Klägers zu finden.

Im Zivilprozess herrscht der Beibringungsgrundsatz. Das Gericht ermittelt den Sachverhalt nicht von Amts wegen, sondern legt seiner Entscheidung nur das Tatsachenmaterial zugrunde, was von den Parteien vorgetragen wird. Der Richter kann jedoch durch Fragen und Hinweise auf eine weitere Konkretisierung und Ergänzung hinwirken (vgl. Greger in Zöller, Kommentar zur ZPO, 33. Auflage, Vor § 128 Rn. 10 und 10a). Abweichend von diesem Grundsatz dürfen aber Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, auch ohne Behauptung durch die Parteien zum Gegenstand des Rechtsstreits gemacht werden (vgl.: BGH, VersR 2007, 1087; OLG Zweibrücken, BeckRS 2014, 13307; Prütting in MüKo, Kommmentar zur ZPO, 6. Auflage, § 291 Rn. 13; Dötsch, MDR 2011, 1017).

In diesem Fall war es so, dass keine der Parteien sich auf die beigezogenen Akten berufen hatte. Es handelte sich bei dem Inhalt der beigezogenen Akten auch nicht um sogenannte offenkundige Tatsachen, § 291 ZPO. Der Akteninhalt war weder allgemeinkundig noch gerichtskundig. Die Akten konnten daher nicht ohne Verletzung des Beibringungsgrundsatzes in das Verfahren eingebracht werden.

Denn offenkundige Tatsachen sind einerseits solche, die einer größeren Anzahl von Personen bekannt oder für diese ohne Weiteres (z.B. aus allgemein zugänglichen Nachschlagewerken, Zeitschriften etc.) zuverlässig wahrnehmbar sind (Saenger, ZPO, 2019, § 291 Rn 3). Bei den beigezogenen Gerichtsakten handelt es sich nicht um allgemein zugängliche Quellen und bei ihrem Inhalt nicht um allgemeinkundige Tatsachen.

Offenkundig sind andererseits zwar auch solche Tatsachen, die das erkennende Gericht, etwa in einem früheren Verfahren oder aufgrund dienstlicher Mitteilungen, amtlich wahrgenommen hat, sog. gerichtskundige Tatsachen (Saenger, a.a.O. § 291 ZPO Rn. 4; BAG, Urteil vom 28.10.2010, NZA-RR 2011, 378). Nicht gerichtskundig in diesem Sinne sind jedoch Tatsachen, die dem erkennenden Gericht erst durch neu erworbenes Wissen (etwa durch gezieltes Studium) bekannt werden. So ist es nicht ausreichend, wenn die betreffende Tatsache lediglich ohne Weiteres aus Akten desselben Gerichts ersichtlich, dem erkennenden Gericht aber nicht positiv bekannt ist, sog. aktenkundige Tatsache (Saegner, a.a.O. § 291 ZPO Rn. 5, 6; Huber in Musielak/Voit, Kommentar zu ZPO, 17. Auflage 2020, § 291 ZPO, Rn. 2; Bacher in BeckOK, ZPO, Stand 01.09.2020, § 291 Rn. 6; Prütting in MüKo, ZPO, 2020, § 291 Rn. 9). Ebenfalls genügt es nicht, wenn der Richter die Tatsache selbst positiv nicht gekannt hat, sondern nur weiß, dass es dazu gerichtliche Akten in seiner Behörde gibt, durch deren Einsicht er sich die Kenntnis verschaffen kann. Damit wäre die Grenze zum Urkundenbeweis überschritten, die einen entsprechenden Beweisantritt voraussetzt (BAG, Urteil vom 28.10.2010, a.a.O.:, OLG Jena, Beschluss vom 13.09.2001, Az.: 6 W 519/01, recherchiert nach JURIS).

Die Beteiligung des Klägers an anderen Verkehrsunfällen war dem prozessleitenden Richter aus seiner bisherigen amtlichen Tätigkeit nicht bekannt. Er hat hiervon auch nicht etwa im Rahmen einer Vorprüfung seiner Kammerzuständigkeit erfahren, weil es nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts etwa auf eine entsprechende Vorbefassung ankäme. Eine gerichtskundige Tatsache lag somit nicht vor.

Vielmehr hat sich der abgelehnte Richter ausweislich seiner dienstlichen Stellungnahme zur Abklärung des von dem Beklagten erhobenen Vorwurfs eigenständig auf die Suche nach weiteren, den Kläger belastenden Indizien gemacht, die er dann auch in seinem Hinweisbeschluss zum Nachteil des Klägers verwertet hat. Die amtswegige Ermittlung durch die Nachforschung im gerichtsinternen Register und das Sammeln von Indizien zum Nachteil des Klägers stellen ausreichende objektive Gründe dar, die auch nach Meinung einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.

Aus der von Seiler in Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 2020, § 291 Rn. 2, zitierten Entscheidung des BGH (Urteil vom 14.07.1954, NJW 1954, 1656) ergibt sich nichts Gegenteiliges. Es reicht nach dieser Entscheidung – entgegen Seiler – nicht, wenn die Tatsache ohne Weiteres aus den Akten desselben Gerichts ersichtlich ist. Auch in dieser Entscheidung stellt der BGH darauf ab, dass der Richter das verwerten darf, was ihm im Zusammenhang mit seiner amtlichen Tätigkeit – auch in anderen Verfahren – bekannt geworden ist, ebenso wie er die Kenntnis von Urteilen anderer Kollegen verwerten darf. Die Entscheidung besagt aber nicht, dass sich ein Richter in Verfahren, in denen der Beibringungsgrundsatz herrscht, von sich aus auf die Suche nach weiteren Umständen begeben darf, die sich aus anderen Akten des Gerichts ergeben könnten.

Ablehnung II: Ablehnung der Aussetzung/Unterbrechung, oder: Nichtabwarten mit der Eröffnungsentscheidung

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Im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zur Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit, einmal ein AG und einmal ein LG, oder auch: Einma positiv, einmal negativ.

Zunächst „negativ“, also Zurückweisung des Antrags , nämlich der LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 07.04.2020 – 2 KLs 1042 Js 890/19. Der Angeklagte hatte sein Ablehnungsgesuch gegen die Strafkammer damit begründet, dass diese einen von ihm gestellten Aussetzungs-/Unterbrechungsantrag zu Unrecht abgelehnt habe. Das LG sieht das unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH anders:

„Der Angeklagte stützt sein Ablehnungsgesuch auf die Zurückweisung seines Aussetzungsantrages und seines hilfsweise gestellten Unterbrechungsantrages durch Beschluss der Kammer.

Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob die Bescheidung der Anträge zu Recht erfolgte.

Denn selbst wenn ein Richter eine gegebenenfalls unzutreffende Rechtsmeinung äußert, rechtfertigt dies in der Regel nicht die Annahme der Befangenheit. Gleiches gilt für etwaige Verfahrensverstöße, die auf einem Irrtum oder auf einer unrichtigen Rechtsansicht beruhen; auch diese stellen grundsätzlich keinen Ablehnungsgrund dar (vgl. BGH, Urteil vom 12.11.2009, Az.: 4 StR 275/09). Dies folgt aus dem Grundsatz, dass sachliche und rechtliche Fehler für sich nicht geeignet sind, die Besorgnis der Befangenheit eines Richters zu begründen. Etwas anderes gilt lediglich, wenn dessen Entscheidungen abwegig sind oder sogar den Anschein der Willkür erwecken. Ein solcher Fall liegt hier jedoch ersichtlich nicht vor. Der beanstandete Beschluss wurde ausweislich des Sitzungsprotokolls begründet, die maßgeblichen Erwägungen der Kammer wurden dargelegt. Für eine grob falsche Rechtsanwendung ist nichts ersichtlich.“

Die zweite – positive – Entscheidung vom AG Offenbach. Da hatte im AG Offenbach, Beschl. v. 17.03.2020 – 250 Ds – 1300 Js 85929/19 – der Ablehnungsantrag des Kollegen Hein Erfolg. Den hatte er damit begründet, dass der abgelehnte Richter „vorschnell“ entschieden habe.:

„Der Befangenheitsantrag ist darüber hinaus auch begründet.

Dabei kommt es auf den Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten an. Der Umstand, dass die Eröffnung und Terminierung des Hauptverfahrens erfolgte, bevor der Angeklagte Gelegenheit zur (abschließenden) Stellungnahme hatte, rechtfertigt (allein schon) Misstrauen in die Unparteilichkeit des Gerichts. „

StPO I: Kann der Ehemann über das Urteil seiner Frau entscheiden?, oder: Besorgnis der Befangenheit

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In die 15. KW./2020 starte ich dann mit dem BGH, Beschl. v. 27.02.2020 – III ZB 61/19. Der kundige Leser wird am Aktenzeichen erkennen, dass es sich um eine Entscheidung des BGH aus einem Zivilverfahren handelt. Richtig. Ja, und es ist auch richtig, dass die Entscheidung nicht an einem Samstag im „Kessel Buntes“ läuft. Denn die vom BGH entschiedene Frage kann auch im Bußgeld- und/oder Strafverfahren eine Rolle spielen. Es geht nämlich um die Problematik: Beteiligung von Ehepartnern am Verfahren und Besorgnis der Befangenheit? Grundlage der Entscheidung ist folgender Sachverhalt:

In dem ursprünglich beim AG Koblenz anhängigen Verfahren macht die Klägerin gegen den Beklagten Ansprüche aus einem Beratungsvertrag geltend. Im erstinstanzlichen Verfahren war Richterin am AG H. zur Entscheidung über die Klage berufen. Nachdem ein gegen sie gerichtetes Ablehnungsgesuch des Beklagten zurückgewiesen worden war, verurteilte sie ihn im Wesentlichen antragsgemäß, an die Klägerin 3.808,00 € zuzüglich Zinsen und vorgerichtlicher Mahnkosten zu zahlen. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren ist bei der 6. Zivilkammer des LG Koblenz anhängig, deren Mitglied – bis zu seinem Tod am 4.12.2019 – der Ehemann von Richterin am AG H. war.

Der Beklagte hat im Berufungsverfahren Richter am AG H. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Er hat ausgeführt, dass der abgelehnte Richter mit der erkennenden Richterin erster Instanz verheiratet sei, begründe die Besorgnis der Befangenheit. Die Berufungsbegründung stütze sich wesentlich auf die Prozessführung und Beweiswürdigung durch die Ehefrau des abgelehnten Richters. Es könne deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass während des zwei Jahre dauernden Verfahrens erster Instanz Gespräche und Beratungen zwischen den Eheleuten stattgefunden hätten.

Richter am AG H. hat sich zu dem Ablehnungsgesuch des Beklagten dahingehend geäußert, seine Frau habe ihm gegenüber erwähnt, sie sei in einem Verfahren von dem Beklagten wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden. Eine inhaltliche Befassung mit diesem Verfahren habe nicht vorgelegen. Er habe von ihm erst dadurch Kenntnis erlangt, dass er in Vertretung des Kammervorsitzenden am 4.7.2019 die Frist zur Begründung der Berufung verlängert habe.

Das LG hat das Ablehnungsgesuch des Beklagten für unbegründet erklärt. Hiergegen richtet sich die vom LG zugelassene Rechtsbeschwerde des Beklagten. Dieser hat nach dem Tod von Richter am Amtsgericht H. die Rechtsbeschwerde für erledigt erklärt und beantragt, die Kosten des Verfahrens der Klägerin aufzuerlegen. Die Klägerin hat sich der Erledigungserklärung des Beklagten nicht angeschlossen.

Der BGH hat für erledigt erklärt und ausgeführt, dass die Rechtsbeschwerde war zum Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses – dem Tod des vom Beklagten abgelehnten Richters – zulässig und begründet war:

„a) Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet die Ablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn aus der Sicht einer Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln. Nicht erforderlich ist dagegen, dass tatsächlich eine Befangenheit vorliegt. Vielmehr genügt es, dass die aufgezeigten Umstände geeignet sind, der betroffenen Partei Anlass zu begründeten Zweifeln zu geben; denn die Vorschriften über die Befangenheit von Richtern bezwecken, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit und Objektivität zu vermeiden (st. Rspr.; siehe nur Senat, Beschlüsse vom 8. Januar 2020 – III ZR 160/19, juris Rn. 5 und vom 25. Mai 2016 – III ZR 140/15, juris Rn. 3 mwN).

In Anwendung dieser Grundsätze stellt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Mitwirkung des Ehegatten eines Rechtsmittelrichters an der angefochtenen Entscheidung keinen generellen Ablehnungsgrund gemäß § 42 Abs. 2 ZPO im Hinblick auf dessen Beteiligung an der Entscheidung im Rechtsmittelverfahren dar (Beschlüsse vom 20. Oktober 2003 – II ZB 31/02, NJW 2004, 163 f und vom 17. März 2008 – II ZR 313/06, NJW 2008, 1672; vgl. auch Senat, Beschluss vom 26. August 2015 – III ZR 170/14, juris Rn. 3; a.A. z.B. Feiber, NJW 2004, 650 f; Zöller/ G. Vollkommer aaO § 42 Rn. 13a mwN; auf weitere Umstände abstellend: BSG, Beschlüsse vom 24. November 2005 – B 9a VG 6/05 B, juris Rn. 8 und vom 18. März 2013, BeckRS 2013, 68558 Rn. 6 ff).

Ob hieran festzuhalten ist, kann offenbleiben. Denn der vorliegende Fall unterscheidet sich von den höchstrichterlich bisher entschiedenen Konstellationen dadurch, dass die Ehefrau des abgelehnten Richters nicht lediglich als Mitglied eines Kollegialgerichts an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt, sondern diese als Einzelrichterin allein verantwortet hat. Jedenfalls dieser Umstand vermochte den Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu begründen. Denn aus Sicht des Beklagten konnte die Alleinverantwortung der Ehefrau des abgelehnten Richters für das angefochtene Urteil die Bedeutung des ehelichen Näheverhältnisses in Gestalt einer – zumindest unbewussten – Solidarisierungsneigung des abgelehnten Richters verstärken. Letztere ist nicht in gleichem Maße zu erwarten, wenn der Ehegatte des abgelehnten Richters lediglich als Mitglied eines Kollegialgerichts an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat (vgl. zu dieser Konstellation BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2003 aaO).“