Befangen I: Mehrfaches Übergehen eines Akteneinsichtsantrags, oder: Wenn ein BGH-Senat befangen ist

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Ich stelle heute drei Entscheidungen zum Ablehungsrecht vor.

Den Reigen eröffne ich mit dem BGH, Beschl. v. 29.01.2021 – AnwSt (B) 4/20. Am Aktenzeichen kann man erkennen: Betroffen ist der Anwaltssenat des BGH, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

Der Anwaltsgerichtshof Köln hatte die Berufungen eines Rechtsanwaltes und der Generalstaatsanwaltschaft gegen ein Urteil des AnwaltsG Köln verworfen; die Revision hat er nicht zugelassen. Der Verteidiger des Rechtsanwaltes hatte dann mit Schriftsatz vom 13.02.2020 um Akteneinsicht ersucht. Dieses Gesuch hat der Anwaltsgerichtshof nicht beschieden.

Im Februar 2020 hat der Rechtsanwalt persönlich Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, der der Anwaltsgerichtshof mit Beschluss vom 06.03.2020 nicht abgeholfen hat. Mit an den Anwaltsgerichtshof gerichtetem Schriftsatz vom 24.03.2020 hat der Rechtsanwalt darauf hingewiesen, dass ihm die erbetene Akteneinsicht noch nicht gewährt worden sei. Mit Schreiben vom 17.04.2020 hat der Rechtsanwalt gegenüber der Geschäftsstelle des Anwaltssenats des BGH auf das offene Akteneinsichtsgesuch hingewiesen. Mit Schriftsatz vom 18.05.2020 hat der Rechtsanwalt gegenüber dem Senat erneut auf den Umstand hingewiesen, dass das Akteneinsichts- gesuch noch nicht beschieden worden sei; er habe deswegen noch keine Gelegenheit gehabt, den „Revisionszulassungsantrag“ abschließend zu begründen.

Auch der Anwaltssenat hat das Akteneinsichtsgesuch nicht beschieden. Vielmehr hat der Senat die Nichtzulassungsbeschwerde durch einstimmigen Beschluss vom 30. 07.2020 verworfen.

Hiergegen richtet sich nun der nach § 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 356a StPO. Diesen verbindet der Rechtsanwalt mit einer gegen alle am Beschluss vom 30.07.2020 beteiligten Richter gerichteten Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit. Und der Antrag geht durch:

„Das zulässige Ablehnungsgesuch ist begründet. Nach § 24 Abs. 2 StPO findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn aus der Sicht eines Beteiligten bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juni 2013 – AnwZ (Brfg) 24/12, NJW-RR 2013, 1211 Rn. 6; vom 15. März 2012 – V ZB 102/11, NJW 2012, 1890 Rn. 10; vom 20. August 2014 – AnwZ 3/13, Rn. 5, juris; jeweils mwN). Nicht erforderlich ist dagegen, dass tatsächlich eine Befangenheit vorliegt. Vielmehr genügt es, dass die aufgezeigten Umstände geeignet sind, der Partei Anlass zu begründeten Zweifeln zu geben; denn die Vorschriften über die Befangenheit von Richtern bezwecken, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit und Objektivität zu vermeiden (vgl. BVerfGE 108, 122, 126; BGH, Beschlüsse vom 15. März 2012 und vom 20. August 2014, jeweils aaO). Aus dem Vorliegen eines Verfahrensfehlers durch ein Gericht kann zwar nicht unmittelbar auf eine Besorgnis der Befangenheit geschlossen werden; jedoch begründen solche (qualifizierten) Verfahrensfehler die Besorgnis der Befangenheit, die sich unmittelbar zum Nachteil eines Beteiligten auswirken und deswegen den Schluss zulassen, der Richter sei nicht unparteiisch, sondern gegen den betroffenen Beteiligten eingestellt (vgl. BayObLG NJW-RR 2001, 642, 643). Wird etwa ein Akteneinsichtsgesuch übergangen und dennoch ein Verkündungstermin anberaumt, so kann auch eine besonnene Partei den Eindruck gewinnen, ihr werde vom Gericht keine hinreichende Verteidigungsmöglichkeit gewährt (OLG Köln, MDR 2001, 891).

Nach diesen Grundsätzen ist ein Ablehnungsgrund gegen die am Beschluss vom 30. Juli 2020 beteiligten Richter zu bejahen. Der Umstand, dass das Akteneinsichtsgesuch des Rechtsanwaltes durch den Senat übergangen worden und es dennoch zu einer einstimmigen Zurückweisung der Beschwerde gekommen ist, kann jedenfalls dann, wenn – wie hier – mehrfach auf das offene Akteneinsichtsgesuch hingewiesen worden ist, einem Beteiligten bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung der beteiligten Richter zu zweifeln.

Das Übergehen des Akteneinsichtsgesuchs des Verteidigers des Rechtsanwaltes war verfahrensfehlerhaft. Zunächst besteht ein Akteneinsichtsrecht des Verteidigers des Rechtsanwaltes nach § 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 147 Abs. 1 StPO. Dieses gilt grundsätzlich voraussetzungslos und besteht auch gegenüber dem erkennenden Senat. Das Recht auf Akteneinsicht ist bereits in der Vorinstanz durch den Verteidiger geltend gemacht worden. In mehreren Schriftsätzen, u.a. vom 18. Mai 2020, ist auf das noch offene Gesuch hingewiesen worden.

Dieser Hinweis ist bei verständiger Würdigung nicht nur als Rüge der unterbliebenen Gewährung von Akteneinsicht durch den Anwaltsgerichtshof, sondern auch als Antrag auf Akteneinsicht gegenüber dem Senat selbst zu verstehen. Selbst wenn man dieser Auslegung nicht folgen wollte, wäre die Zuständigkeit zur Entscheidung über das bereits vor dem Anwaltsgerichtshof angebrachte Akteneinsichtsgesuch ipso iure auf den erkennenden Senat übergegangen, als der Anwaltsgerichtshof die Sache an diesen mit dem Nichtabhilfebeschluss abgegeben hat; mit diesem Zeitpunkt ist das Beschwerdegericht das befasste Gericht im Sinne von § 147 Abs. 5 Satz 1 Variante 3 StPO (vgl. BGH, Beschl. v. 7. November 2019 – StB 24/19, juris Rn. 10). Funktional zuständig für die Gewährung der Akteneinsicht war der Vorsitzende (§ 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 147 Abs. 5 Satz 1 Variante 3 StPO).

Tatsächlich sind Gründe, die ausnahmsweise eine Verweigerung der Akteneinsicht rechtfertigen könnten (insbesondere § 116 Abs. 1 Satz 2 BRAO, § 147 Abs. 2 StPO), nicht ersichtlich. Der Beschluss des Senats geht auf das noch offene Gesuch nicht ein, weshalb auch nicht erkennbar ist, ob der Senat ggf. einen Grund für die Verweigerung der Akteneinsicht angenommen hat. Allein der Umstand, dass ein Beteiligter bereits einmal Akteneinsicht erhalten hat, schließt eine weitere Akteneinsicht jedenfalls dann nicht aus, wenn der Akten- inhalt – wie hier – umfangreicher geworden ist (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 147 Rn. 12). Zudem hatte sich der Rechtsanwalt eine abschließende Begründung seines Antrages nach Akteneinsicht vorbehalten.

Die Besorgnis der Befangenheit besteht bei allen Mitgliedern des Senats, die am Beschluss vom 30. Juli 2020 mitgewirkt haben, da es sich um einen einstimmigen Beschluss gehandelt hat und daher prozessual ausgeschlossen werden kann, dass einzelne Mitglieder des Senats sich der Entscheidung unter Hinweis auf das offene Akteneinsichtsgesuch widersetzt hätten.

Einer dienstlichen Äußerung nach § 26 Abs. 3 StPO bedurfte es nicht, da der zur Besorgnis der Befangenheit führende Sachverhalt eindeutig feststeht (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2007 – 4 StR 236/07, NStZ 2008, 117).“

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