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Reicht die Vorlage einer „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ als Entschuldigung?

Die Verwerfung der Berufung des unentschuldigt in der Berufungshauptverhandlung ausgebliebenen Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO macht in der Praxis häufig Schwierigkeiten, vor allem, wenn der Angeklagte zur Entschuldigung eine ärztliche Bescheinigung vorlegt. Dann geht es für den Tatrichter um die Frage: Darf ich bzw. kann ich ggf. trotzdem verwerfen? und, wenn verworfen worden ist, für den Verteidiger darum, ob sich nicht ggf. insoweit Angriffspunkte ergeben, die mit der Revision (Verfahrensrüge!!!) geltend gemacht werden können. Zu den damit zusammenhängenden Fragen gibt es immer wieder obergerichtliche Rechtsprechung, aus der ich aus neuerer Zeit exemplarisch den OLG Bamberg, Beschl. v. 06.03. 2013 – 3 Ss 20/13 – herausgegriffen habe, in dem es um die Frage der Zulässigkeit der Berufungsverwerfung bei attestierten „medizinischen Gründen“ ging.

Hier die Leitsätze des Beschlusses, leider ein wenig – wie die Entscheidung aus Bamberg selbst auch – mit Zitaten überfrachtet:

1. Der Begriff der ‚genügenden Entschuldigung‘ darf nicht eng ausgelegt werden. Denn § 329 I 1 StPO enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Angeklagten das ihm nach Art. 103 I GG verfassungsrechtlich verbürgte rechtliche Gehör entzogen wird (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29 und [für § 74 II OWiG] OLG Bamberg, Beschluss vom 28.11.2011 – 3 Ss OWi 1514/11 = OLGSt StPO § 329 Nr. 31).

 2. Die Entschuldigung ist ‚genügend‘, wenn die abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Erscheinenspflicht andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen. Entscheidend ist nicht, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Angeklagten trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis. Vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen. Bloße Zweifel an einer ‚genügenden Entschuldigung‘ dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen (Festhaltung u.a. an BGHSt 17, 391/396 f.; BGHR StPO § 329 Abs. 1 Satz 1 Ladung 1; BayObLGSt 2001, 14/16; 1998, 79/81; BayObLG, Beschluss vom 19.10.2004 – 1 Ob OWi 442/04; OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29 sowie [jeweils zu § 74 II OWiG] OLG Bamberg wistra 2007, 79 f. und NStZ-RR 2009, 150; OLG Braunschweig, Beschluss vom 25.03.2010 – 3 Ss (OWiZ) 37/10 [bei Juris]; KG DAR 2011, 146 f. und OLG Bamberg NZV 2011, 409 f.).

 3. Die Nachforschungsverpflichtung des Gerichts ist andererseits nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt nach dem Gesetzeszweck (wenigstens) voraus, dass der Angeklagte vor der Hauptverhandlung (schlüssig) einen Sachverhalt vorträgt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29 sowie [jeweils zu § 74 II OWiG] OLG Bamberg wistra 2007, 79 f. und NStZ-RR 2009, 150).

 4. Wird als Entschuldigungsgrund eine Erkrankung geltend gemacht, ist für seine Schlüssigkeit die Darlegung eines behandlungsbedürftigen und/oder Arbeitsunfähigkeit bewirkenden krankheitswertigen Zustandes erforderlich aber auch ausreichend. Geschieht dies durch die (gleichzeitige) Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, braucht aus dieser die Art der Erkrankung jedenfalls solange nicht zu entnehmen sein, als Gründe dafür, dass die Bescheinigung als erwiesen falsch oder sonst als offensichtlich unrichtig anzusehen sein könnte oder nicht von dem bezeichneten Aussteller herrührt, fehlen (Festhaltung u.a. an BayObLGSt 1998, 79 ff. und OLG Bamberg NStZ-RR 2009, 150).“

Zur Entscheidung zwei Anmerkungen:

  • Die Entscheidung gibt den aktuellen Stand der h.M. zur Auslegung des Begriffs der „genügenden Entschuldigung“ bei Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung wieder, wenn dieser vorbringt, erkrankt zu sein, und dies durch ein ärztliches Attest belegt (vgl. auch Kotz in: Burhoff/Kotz (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2013, Teil A: , Rn 174 ff.).
  • Neu ist – und darauf weist auch der Kollege Kotz in einer Anmerkung zu dieser Entscheidung im StRR hin – dass das OLG die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ärztlichen Attest ohne Einschränkung gleichsetzt. Zwar wurde der AU-Bescheinigung teilweise schon bisher ein hoher Beweiswert zuerkannt, die Arbeitsunfähigkeit wurde jedoch teilweise auch als Minus zur Verhandlungs- bzw. Reiseunfähigkeit angesehen mit der Folge, dass sich die Darlegungspflicht des Angeklagten konkret auf das Unvermögen, vor Gericht zu erscheinen, erstrecken musste.

Da sag noch mal einer, in der Rechtsprechung bewege sich nichts. 🙂

 

OLG München: Was schert mich der EGMR – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung

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Ich hatte im Dezember über das EGMR, Urt. v. 08.11.2012 in Sachen Neziraj gegen Deutschland (Nr. 30804/07 (vgl. hier und hier) betreffend die deutsche Rechtslage im Hinblick auf die Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO berichtet. M.E. der zumindest teilweise Abgesang der Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO, aber ich hatte schon damals so meine Zweifel, ob die deutschen Gerichte dem folgen würden (vgl. zur verneinten Konventionswidrigkeit auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27. 2. 2012 – III-2 RVs 11/12 und OLG Hamm, Beschl. v. 14. 6. 2012 – III 1 RVs 41/12).

Und siehe da: Ich habe mich nicht getäuscht. Da ist die erste OLG-Entscheidung, die dem EGMR nicht folgt (fast bin ich geneigt zu schreiben: natürlich aus Bayern). Das OLG München geht im OLG München, Beschl. v. 17.01.2013, 4 StRR (A) 18/12 – von folgenden Leitsätzen aus:

„1. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 8. November 2012, StraFo 2012, 490ff., wonach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 3 MRK vereinbar sei, verkennt das Regelungsgefüge dieser Vorschrift und die Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht.

2. Selbst bei einer unterstellten Konventionswidrigkeit ist die Vorschrift angesichts ihres eindeutigen Wortlautes von deutschen Gerichten aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze anzuwenden und eine auf die Konventionswidrigkeit der Vorschrift gestützte Revision offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).“

Begründet wird das vom OLG u.a. wie folgt:

„aa) Zwar hält der EGMR in seiner neuesten Rechtsprechung (vgl. die vom Angeklagten angeführte Entscheidung vom 08.11.2012, Application no. 30804/07, Neziraj v. Germany, dort insbesondere Rdn. 55ff. – auszugsweise veröffentlicht in StraFo 2012, 490ff.) tatsächlich die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Fall eines verteidigten Angeklagten für nicht mit Art. 6 Abs. 1, 3 MRK vereinbar. Begründet wird das mit dem Recht auf Verteidigung, welches zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehöre und welches der Angeklagte auch nicht allein dadurch verliere, dass er zur Verhandlung nicht erscheine.

 bb) Wie allerdings bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 27.12.2006, 2 BvR 535/04 (zitiert nach juris) ausgeführt hat, verkennt das alleinige Abstellen auf das Recht des Angeklagten zur effektiven Verteidigung das Regelungsgefüge des § 329 StPO. Auf die entsprechenden Ausführungen des BVerfG (aaO Rdn. 9ff.) wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Die durch § 329 Abs. 1 S. 1 StPO festgelegte Pflicht des Angeklagten zur persönlichen Anwesenheit (auf welche nebst den Folgen des Ausbleibens bereits in der Ladung hingewiesen wird) dient nämlich auch der Wahrheitsfindung und ist somit eine Ausprägung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, über die der Angeklagte nicht disponieren kann, wie bereits § 338 Nr. 5 StPO zeigt. Hiermit setzt sich die Entscheidung des EGMR nicht auseinander.

Darüber hinaus scheint der Entscheidung des EGMR ein unzutreffendes Verständnis der Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht zugrunde zu liegen. Anders als in vielen anderen europäischen Rechtsordnungen ist der Verteidiger gerade nicht ohne weiteres der Vertreter des Angeklagten, der dessen Anwesenheit in der Hauptverhandlung entbehrlich macht, wie bereits § 234 StPO zeigt; er bedarf etwa auch für die Rücknahme von Rechtsmitteln einer gesonderten Ermächtigung des Angeklagten (vgl. § 302 Abs. 2 StPO).“

Nun ja – „scheint der Entscheidung des EGMR ein unzutreffendes Verständnis der Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht zugrunde zu liegen“ – ganz schön mutig. Ich bin gespannt, wie es weiter geht und vor allem: was macht die Bundesregierung oder der Gesetzgeber?

Nachtrag: Die Überschrift lautete zunächst: „OLG München: Was schert mich der EuGH – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung“, was natürlich falsch war. Muss „EGMR“ heißen und ist so auch richtig gestellt.


Der EGMR und der Abgesang auf die Berufungsverwerfung – hier ist der Volltext

Ich hatte am 07.12.2012 unter der Überschrift „Überraschung/Sensation (?) – Der EGMR und der Abgesang auf die Berufungsverwerfung“ über das EGMR, Urt. v. 08.11.2012 in Sachen Neziraj gegen Deutschland (Nr. 30804/07) berichtet.

Zu dem Zeitpunkt kannte ich nur die Originalentscheidung. Inzwischen hat mir der Kollege Dr. Sommer eine Übersetzung der EGMR-Entscheidung zukommen, die ich jetzt hier online stelle. Damit hat jeder selbst die Möglichkeit zu entscheiden, ob es etwas Neues ist, oder wir die Argumentation des EGMR bereits aus anderen Verfahren kennen. Jedenfalls wird man sich als Gesetzgeber m.E. um den § 329 Abs. 1 StPO Gedanken machen müssen.

Und: Ich bin gespannt, ob die Bundesregierung das Urteil so hinnimmt oder das Verfahren bei der Großen Kammer weiterbetreibt.

Überraschung/Sensation (?) – Der EGMR und der Abgesang auf die Berufungsverwerfung

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Mehrere Kollegen haben mich schon auf die vom Kollegen Prof. Dr. Sommer aus Köln erstrittene Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 in Sachen  Neziraj gegen Deutschland (Nr. 30804/07) hingewiesen. Danach ist die Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO, die eine Verwerfung der Berufung des Angeklagten auch dann zulässt, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung vertreten ist, konventionswidrig.

Bisher habe ich das Urteil des EGMR noch nicht lesen können. Es gibt bislang noch keine Übersetzung, sondern nur die auf der Homepage des Kollegen Dr. Sommer eingestellte Originalentscheidung.

Die Entscheidung dürfte dann zum (zumindest teilweisen) Abgesang der Berufungsverwerfung führen. Anders gesehen – nämlich nicht konventionswidrig – haben vor kurzem erst nach das OLG Düsseldorf (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27. 2. 2012 – III-2 RVs 11/12) und das OLG Hamm (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 14. 6. 2012 – III 1 RVs 41/12) entschieden.

Schade, dass die EGMR-Entscheidung erst jetzt kommt. Jetzt steht es in der 7. Auflage des Handbuch für die Hauptverhandlung auch (noch) anders.

Wer allerdings noch Verfahren mit Berufungsverwerfungen anhängig hat, sollte – wenn es noch geht – Revision einlegen.

Der EGMR und die Berufungsverwerfung (§ 329 Abs. 1 StPO).

Der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.02.2012, III-2 RVs 11/12 – befasst sich mit den Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR auf die Fragen der Berufungsverwerfung im Strafverfahren bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten. Dazu ist schon verschiedentlich diskutiert worden, ob die deutsche Gesetzeslage mit der EGMR-Rechtsprechung vereinbar ist. Das BVerfG hat das in der Vergangenheit verneint. So jetzt auch das OLG Düsseldorf im Beschl. v. 27.02.2012, III-2 RVs 11/12, der folgende Leitsätze hat:

„1. Auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22. September 2009 (EGMR Nr. 13566/06, Pietiläinen gegen Finnland) steht allein die Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers der Anwendung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO, wonach die Berufung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen ist, nicht entgegen.

2. Ob die in § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO vorausgesetzte Vertretungsmöglichkeit, die sich auf Ausnahmefälle (§§ 234, 411 Abs. 2 StPO) beschränkt, in zulässiger Weise durch konventionsfreundliche Auslegung erweitert werden kann, bedarf mangels schriftlicher Vertretungsvollmacht des Verteidigers keiner Entscheidung.“