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Anscheinsbeweis beim berührungslosen Unfall, oder: Haftungsverteilung beim berührungslosen Unfall

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Und dann die zweite Entscheidung, die mit dem OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023 – 14 U 32/23 – auch vom OLG Celle kommt. Es geht u.a. um die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei einem berührungslosen Unfall/Auffahrunfall und um die Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Folgender Sachverhalt:

„Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zur Zahlung von materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind, bei dem er mit seinem Motorrad stürzte und verletzt wurde.

Der Kläger befuhr am 31. März 2021 mit seinem Motorrad in Begleitung seines Sohnes, dem Zeugen A., auf dessen Motorrad die B. Straße (L ) in Richtung H. Vor dem Kläger und seinem Sohn befuhr der Zeuge A1 mit seinem PKW die B. Straße in gleicher Richtung. Die aus Fahrtrichtung des Klägers gesehene Gegenfahrbahn, die die Beklagte zu 1. mit dem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Fahrzeug der Marke Mercedes befuhr, war im Kurvenverlauf durch einen Müllwagen blockiert, der zu diesem Zeitpunkt von Mitarbeitern des Abfallservice O. GmbH mit gelben Säcken beladen wurde. Die Beklagte zu 1. versuchte, an dem Müllwagen vorbei zu fahren, und wechselte hierzu auf die Fahrbahn des Klägers und des vor ihm fahrenden Zeugen A1. Der Zeuge A1 bremste sein Fahrzeug stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1., die sich noch auf der Fahrbahn des Zeugen befand, zu vermeiden. Auch der Kläger, dessen Motorrad über kein ABS verfügte, machte eine Vollbremsung, geriet dabei ins Rutschen und stürzte. Die Fahrzeuge des Klägers und des Zeugen A1 kollidierten nicht. Der hinter dem Kläger fahrende Zeuge A. konnte sein Motorrad abbremsen, ohne selbst zu stürzen. Die Beklagte zu 1. wendete ihr Fahrzeug bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zur Unfallstelle zurück. Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit beträgt am Unfallort 70 km/h. Der Kläger, der vom Unfallort mit dem Rettungshubschrauber ins Krankhaus transportiert wurde, erlitt durch den Sturz eine Schulterblattfraktur links, eine Lungenkontusion sowie eine Schürfwunde am linken Knie. Er war infolgedessen bis zum 25. Mai 2021 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08. Juni 2021 forderte der Kläger die Beklagte zu 2. auf, ihre Haftung aus dem Unfallgeschehen vollständig dem Grunde nach anzuerkennen. Die Beklagte zu 2. lehnte jegliche Haftung ab.

Der Kläger hat behauptet, er habe zum Fahrzeug des Zeugen A1 einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten. Er sei vor dem Sturz nicht schneller als 70 km/h gefahren. Er sei mit seinem Motorrad gestürzt, weil die Beklagte zu 1. Anlass für seine und die Vollbremsung des Zeugen A1 gegeben habe. Der Kläger war der Ansicht, dass der Unfall für ihn – auch aufgrund des fehlenden ABS – unvermeidbar gewesen sei. Ferner sei sein Motorrad durch den Sturz beschädigt worden und dieser Sachschaden betrage 2.750,00 €. Darüber hinaus seien weitere Kosten für das außergerichtliche Schadensgutachten in Höhe von 698,95 € sowie eine Kostenpauschale von 25 € angefallen. Die Heilbehandlungen des Klägers seien noch nicht abgeschlossen, wie sich aus dem ärztlichen Attest vom 19. Mai 2021 ergebe. Er könne daher seine – materiellen wie auch immateriellen – Schäden nicht abschließend beziffern, so dass ein Feststellungsinteresse bestehe.

Die Beklagten haben behauptet, der Kläger habe bereits zum Fahrzeug des Zeugen A1 keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten und darüber hinaus die zugelassene Höchstgeschwindigkeit überschritten. Die Beklagte zu 1. habe ohne Komplikationen an dem Müllwagen vorbeifahren können. Der Kläger habe daher seinen Sturz durch einen Bremsfehler und das Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit allein verursacht. Eine Haftung der Beklagten bestünde nicht. Zudem bestehe bereits kein Feststellunginteresse. Die Behandlungen des Klägers seien abgeschlossen, so dass ihm eine Bezifferung seiner Schäden möglich gewesen wäre.“

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Feststellungsklage sei zwar zulässig, aber in der Sache unbegründet. Der Kläger habe den Sturz seines Motorrades allein verschuldet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht erwiesen, dass die Beklagte zu 1. risikoreich „überholt“ habe. Eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer durch den Überholvorgang der Beklagten zu 1. sei nicht festzustellen. Nach Würdigung der Angaben der Parteien und der Zeugenaussagen ließe sich zwar weder ein risikoreiches Überholen der Beklagten zu 1. noch ein zu geringer Abstand des Klägers auf das Fahrzeug des Zeugen A1 sicher nachweisen. Es bestünden aber Indizien für ein zu dichtes Auffahren, die sich aus den Schilderungen der Zeugen A. und A1 ergeben würden. Nach Würdigung des Gutachtens lasse sich feststellen, dass durch das Tätigen des Handbremshebels das Vorderrad blockiert und dadurch das Motorrad Stabilität verloren habe. Infolgedessen sei das Motorrad weggerutscht und der Kläger gestürzt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. O. sei jedoch keine zeitliche Kopplung zwischen der Bewegung des Motorrades und dem Fahrzeug des Zeugen A. herstellbar. Der Kläger habe damit den Nachweis der Unvermeidbarkeit nicht geführt. Vielmehr sei aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen festzustellen, dass der Kläger den Unfall hätte vermeiden können, wenn er kontrolliert gebremst hätte. Der entstandene Schaden sei ihm daher selbst zuzurechnen.

Dagegen die Berufung, die teilweise Erfolg hatte. Auch hier verweise ich wegen des Umfangs der Gründe wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltext und stelle hier nur die Leitsätze ein. Die lauten:

    1. Auch bei einem berührungslosen Unfall können die Grundsätze zum Anscheinsbeweis Anwendung finden (ebenso OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Februar 2022 – 7 U 144/21, SVR 2022, 302; entgegen OLG München, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 10 U 767/16, Rn. 9; OLG Hamm, Urteil vom 9. Mai 2023 – 7 U 17/23, Rn. 51)
    2. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig auf eine wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren, und verhindert er lediglich durch einen vorherigen Sturz (hier: als Motorradfahrer) eine Kollision mit dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug, spricht wie im Fall einer „Auffahrkollision“ der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hinterherfahrenden.
    3. Wer an einer unübersichtlichen Engstelle vor einer Kurve ein Hindernis (hier: ein haltendes Müllfahrzeug) links umfährt, muss gemäß § 6 Satz 1 StVO den Gegenverkehr sichern und besonders vorsichtig prüfen, ob ein Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde.

Haftung nach Verkehrsunfall mit Kind/Radfahrer, oder: Abwägung Betriebsgefahr/Verschulden

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Und dann heute der erste „Kessel Buntes“ im neuen Jahr 2024. Und in dem liegen zwei verkehrzivilrechtliche Entscheidungen. Beide kommen vom OLG Celle.

Ich beginne mit dem OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023, Az.: 14 U 157/22 – zur Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Das Urteil geht von folgendem Sachverhalt aus: Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldner unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens in Höhe von 40 % die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall am 07.03.2017.

Der zum Unfallzeitpunkt 12 Jahre alte Kläger fuhr am 07.03.2017 gegen 13.50 Uhr parallel zu der S.straße kurz vor der Einmündung M.straße – wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob er den Radweg oder den Gehweg befuhr. Er war mit seinem Mountainbike (ohne Helm) unterwegs. Die Beklagte zu 3) fuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Pkw Smart fortwo Coupé ebenfalls auf der S.straße Richtung M.straße. Als der Kläger auf seinem Fahrrad fahrend die Fahrbahn der S.straße in Höhe der M.straße überquerte – wobei zwischen den Parteien insoweit streitig ist, ob auf oder hinter dem dortigen Zebrastreifen – kam es zur Kollision, durch die der Kläger 18,5 Meter weit geworfen und im rechten Seitenbereich einer Parkbucht zu Fall kam. Der Kläger erlitt lebensgefährliche Verletzungen (u. a. ein schweres offenes Schädel-Hirn-Trauma mit Einblutungen, eine Felsenbeinfraktur rechts, eine Schlüsselbeinfraktur rechts und multiple Prellungen sowie Schürfungen an beiden Kniegelenken). Im Krankenhaus erhielt er eine Hirndrucksonde und wurde bis zum 12.03.2017 künstlich beatmet. Zehn Tage nach dem Unfall wurde er von der Intensiv- auf die Normalstation verlegt. Am 20.03.2017 kam er in die H.-Klinik G. zur Anschlussheilbehandlung, die ursprünglich drei bis sechs Monate dauern sollte. Da der Kläger starkes Heimweh hatte, blieb er nur bis zum 12. April 2017 und absolvierte in der Folgezeit von zuhause aus eine Vielzahl von Behandlungen und Therapien.

Mit außergerichtlichem Schreiben vom 15. März 2017 forderte der Kläger die Beklagte zu 1) – die Versicherung – auf, ihre Regulierungsbereitschaft anzuzeigen. Die hat abgelehnt.

Gestritten worden ist dann im Klageverfahren um den genauen Hergang des Unfallgeschehens sowie die Bildung der Haftungsquote.

Das LG hat dann  der Klage zu einem überwiegenden Teil stattgegeben und die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 40.000 EUR und Erstattung materieller Schadensersatzansprüche in Höhe von 1.790,93 EUR verurteilt. Zudem hat es dem auf Feststellung der Haftung gerichteten Antrag beschränkt auf eine Ersatzpflicht in Höhe von 60 % sowie dem auf Freistellung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichteten Antrag stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung führte das LG insbesondere Folgendes aus:

„Die Beklagte zu 3) habe den Unfall überwiegend verschuldet. Der Unfall sei bei dem Betrieb des Fahrzeuges entstanden. Die Beklagten hätten aus dem Verkehrsunfallgeschehen mit einer Quote von 60 % für die Schäden des Klägers einzustehen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei erwiesen, dass die Beklagte zu 3) den Unfall durch einen Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO verschuldet habe. Die Beklagte zu 3) habe von dem Zeitpunkt an, in dem sie den Kläger an der S.straße hätte sehen können, besondere Vorkehrungen im Sinne einer Verringerung der Fahrgeschwindigkeit und Einnehmen der Bremsbereitschaft zu treffen gehabt. Die konkrete Gefahrenlage habe sich daraus ergeben, dass ein Kind auf einem Fahrrad in Richtung Zebrastreifen gefahren sei. Dass die Beklagten behauptet hätten, der Kläger habe nicht wie ein Kind ausgesehen, vermöge sie bereits deshalb nicht zu entlasten, weil die Beklagte zu 3) den Kläger überhaupt nicht wahrgenommen habe, als er auf den Zebrastreifen zufuhr, was sie jedoch hätte tun können und müssen. Die Beklagte zu 3) sei jedoch – wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen ergäbe – mit einer Geschwindigkeit im Bereich von 50 km/h auf den Zebrastreifen zugefahren. Nach Ansicht des Landgerichts hätte die Beklagte zu 3) richtigerweise zumindest auf 30 km/h abbremsen müssen, um eine Gefährdung des Klägers auszuschließen. Im Ergebnis läge daher ein Verstoß der Beklagten zu 3) gegen § 3 Abs. 2a StVO vor. Ob der Kläger vor dem Auffahren auf den Zebrastreifen angehalten habe, könne dahinstehen, da der Sachverständige ausgeführt habe, dass die Beklagte zu 3) bei einem Abbremsen auf 30 km/h in jedem Fall die Kollision vermieden hätte. Schließlich sei der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Landgerichts in einer Bogenfahrt nach links in die Fahrbahn eingefahren. Anhand der Unfallspuren habe sich feststellen lassen, dass der Kollisionsort auf dem Zebrastreifen gewesen sei. Der Vernehmung der Zeugin H., die zum Termin vor dem Landgericht nicht erschienen war, habe es demnach nicht bedurft. Erstattungsfähig seien materielle Schäden des Klägers unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens von 40 % in Höhe von 1.790,93 €. Darüber hinaus sei die Klage diesbezüglich nicht begründet. Zudem sei ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € angemessen. Aufgrund der vom Kläger vorgelegten Arztberichte und Gutachten sowie der Angaben des Klägers und seiner Eltern im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung im Verhandlungstermin am 31. August 2022 könne ohne weitere – gerichtliche – Gutachten das Schmerzensgeld bemessen werden. Der Kläger habe unstreitig erhebliche lebensbedrohliche Verletzungen erlitten und sei durch diesen aus seinem Leben komplett herausgerissen worden. Die Tage des zum Unfallzeitpunkt erst 12-jährigen Klägers seien anschließend durch Schmerzen, körperliche Einschränkungen und Therapien geprägt gewesen und nur mit Kraft und Energie und dank der Unterstützung durch seine Familie habe er es trotz der schwersten Verletzungen geschafft, ins Leben zurückzufinden. Es würden gleichwohl physische und psychische Einschränkungen verbleiben und im Bereich der knöchernen Verletzungen könnten zukünftig Verschleißschäden auftreten, wie etwa Arthrose. Dieser Mechanismus sei der Einzelrichterin, die jahrelang Mitglied in einer Spezialkammer für Arzthaftungssachen gewesen sei, aus einer Vielzahl von Fällen bekannt. In Anbetracht der gravierenden Folgen des Unfalls für den Kläger sei unter Berücksichtigung des Mitverschuldensanteils von 40 % ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 € angemessen. Auf die von den Beklagten bestrittenen Folgen des Unfalls käme es insoweit nicht an. Schließlich bewege sich die geforderte Höhe im Rahmen der Vergleichsrechtsprechung.“

Dagegen die Berufung der Beklagten, die teilweise Erfolg hatte. Das OLG hat – anders als das LG –  eine Haftungsquote der Beklagten von 1/3 angenommen.  Wegen der Begründungen verweise ich auf die recht umfangreichen Gründe der OLG-Entscheidung im Volltext. Hier stelle ich nur die Leitsätze des OLG ein. Sie lauten: 

    1. Wer von einem Radweg auf die Fahrbahn einfahren will, hat sich dabei gemäß § 10 S. 1 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies gilt auch für denjenigen, der vom Radweg auf einem Fußgängerüberweg auf die Fahrbahn einfährt.
    2. Auch gegenüber Kindern gilt der Vertrauensgrundsatz. Der Fahrer eines PKW muss besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise gemäß § 3 Abs. 2a StVO nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer konkreten Gefährdung führen können, und das Kind nach dem äußeren Erscheinungsbild als solches erkennbar war.
    3. Ein Fahrzeugführer muss auch bei Annäherung an einen Fußgängerüberweg ohne erkennbare Umstände nicht damit rechnen, dass ein 12-jähriges Kind, ohne seine Absicht merklich anzuzeigen, auf dem Fahrrad fahrend den Fußgängerüberweg überquert.
    4. Bei der Abwägung der Betriebsgefahr eines Fahrzeuges gegenüber dem schuldhaften Verstoß eines 12-jährigen Kindes gegen § 10 S. 1 StVO tritt die Betriebsgefahr des Kfz unter Berücksichtigung des Alters des geschädigten Kindes einerseits sowie der deutlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeugs im Unfallgeschehen andererseits, auch angesichts der weiteren Gesamtumstände des Unfallgeschehens, nicht zurück (hier: Betriebsgefahr mit 1/3 berücksichtigt).

Berührungsloser Unfall bei einem Abbiegevorgang, oder: Haftungsverteilung

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Und dann als zweite Entscheidung noch eine mit einer „Vorfahrtsproblematik“, nämlich das OLG Celle, Urt. v. 24.102.107 – 14 U 78/16 -, über das ja auch schon der Kollege Gratz vor einiger Zeit berichtet hat.

Folgendes Verkehrsgeschehen stand zur Entscheidung an:

Die Klägerin „befuhr am 15. April 2014 die L 111 aus Richtung Balje in Richtung Freiburg (Elbe). Aus der Fahrtrichtung der Klägerin wird von links die K8 herangeführt. Von dort bogen zwei Sattelzüge nach rechts auf die L 111 in Richtung Balje ab – also der Klägerin entgegen. Zunächst bog der vom Zeugen M. geführte Sattelzug in die L 111 ein, ohne deren Mittellinie zu überschreiten. Die Klägerin bremste daraufhin ihr Fahrzeug ab. Anschließend fuhr der vom Beklagten zu 1 geführte Sattelzug, haftpflichtversichert bei der Beklagten zu 2, in die L 111 ein. Zwischen den Parteien ist streitig, ob er dabei sehr schnell an die Einmündung heranfuhr und ob er die Mittellinie 20 cm – 30 cm überquerte. Die Klägerin wich nach rechts aus, geriet mit den rechten Reifen auf den rechten unbefestigten Seitenstreifen und verlor – ohne dass es zu einer Berührung zwischen dem von ihr geführten Fahrzeug sowie dem vom Beklagten zu 1 geführten Sattelzug kam – die Kontrolle über ihr Kfz, welches ins Schleudern geriet, gegen einen Baum prallte und sich überschlug.“

Die Klägerin hatte 70% ihrer Schäden geltend gemacht. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägering hatte dann beim OLG keinen Erfolg.

Das OLG lässt offen, ob sich der Verkehrsunfall überhaupt beim Betrieb des Sattelzuges ereignet hat, denn:

„(2) Denn der Verursachungsbeitrag der Klägerin, der zu ihrem Unfall führte, überwiegt eine lediglich vom Lkw ausgehende Betriebsgefahr so stark, dass diese vollständig hinter dem Verursachungsbeitrag der Klägerin zurücktritt, §§ 18 Abs. 3 i. V. m. 17 Abs. 2 StVG. Diese Vorschriften sind anwendbar, weil der Unfall nicht auf einem unabwendbaren Ereignis beruht. Unabwendbar ist ein Ereignis, das durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Dazu gehört sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinaus (König in Henschel/König/Dauer, StVR, 43. Aufl., § 17 StVG, Rn. 22). Die Klägerin hätte den Unfall vermeiden können, indem sie ihren Wagen stark abgebremst oder gar zum Stehen gebracht hätte. Der Beklagte zu 1 wiederum hätte auf den Abbiegevorgang verzichten können.

Die nach §§ 18 Abs. 3 i. V. m. 17 Abs. 2 StVG erforderliche Abwägung führt hingegen zu einer Alleinhaftung der Klägerin.

Zu Lasten des Beklagten zu 1 ist lediglich die vom Lkw ausgehende Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Ein Verstoß des Beklagten zu 1 gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO oder aber § 1 Abs. 2 StVO liegt nicht nachweislich vor. Ein solcher wäre gegeben, wenn der Abbiegevorgang zu einer Gefährdung der Klägerin geführt hätte. Ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO liegt nicht vor. Die Norm fordert eine konkrete Gefährdung, so dass stets ein „Beinahe-Unfall“, also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, dass „das noch einmal gut gegangen sei“, erforderlich ist (König in Hentschel/König/Dauer, StVR, 43. Aufl., § 1 StVO, Rn. 35). Nach den Ausführungen des Sachverständigen auf Seiten 8 -10 des Gutachtens kann der Sattelzug den Abbiegevorgang so durchführen, dass er nicht in die von der Klägerin befahrene Fahrspur gerät. Schon die grafische Darstellung lässt erkennen, dass der Beklagte zu 1 den Abbiegevorgang auch noch etwas weiter rechts hätte durchführen können. Auch der Zeuge G. konnte nicht bestätigen, dass der Lkw auf die Fahrspur der Klägerin geraten war. Seine Aussage war für die Klägerin unergiebig. Überdies gelang es auch dem zuerst abbiegenden Lkw ohne Beanspruchung der Gegenfahrbahn nach rechts abzubiegen. Wie sich der Abbiegevorgang konkret abgespielt hat, ist also nicht feststellbar. Damit kann von einem Beinahe-Unfall nicht sicher ausgegangen werden, sodass auch kein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO feststeht. Diese Erwägung trifft auch auf § 9 Abs. 1 S. 2 StVO zu. Unabhängig davon stellte bereits der zuerst abbiegende Sattelzug eine hinreichende Warnung für die Klägerin dar, ihre Geschwindigkeit zu reduzieren.

Weitere mögliche Verkehrsverstöße des Beklagten zu 1 sind nicht ersichtlich.

Der Klägerin hingegen sind deutliche Fahrfehler unterlaufen. Denn vor dem Sattelzug des Klägers war bereits der Zeuge M. mit einem ähnlich großen Sattelzug in die L 111 eingebogen und dabei nach dem Vortrag der Klägerin sehr nah an die Mittellinie herangekommen. Dieser erste Sattelzug stellte ein Warnsignal für die Klägerin dar. Er gab ihr auch vor dem Hintergrund des § 1 Abs. 2 StVO Anlass, ihre Geschwindigkeit so stark zu reduzieren, dass sie jederzeit angemessen auf den Einbiegevorgang des Beklagten zu 1 hätte reagieren und notfalls vollständig abbremsen können. Eine solche adäquate Reaktion unterblieb aber bereits nach ihrem eigenen Vorbringen. Vielmehr erwartete sie, dass der Beklagte zu 1 den Sattelzug anhalten würde. Nachdem sie aber gesehen hatte, dass der erste Sattelzug die Mittellinie nicht überschritten hatte, war diese Erwartungshaltung nicht gerechtfertigt. Die Klägerin hat zudem nicht vorgetragen, ihr Fahrzeug weiter abgebremst zu haben, nachdem der Beklagte zu 1 entgegen ihrer Erwartung den Abbiegevorgang nicht abgebrochen hatte. Die Weiterfahrt in unvermindertem Tempo stellt sich dann als die bloße Hoffnung dar, es komme nicht zur Kollision, obwohl eine solche ob der Ausmaße des Lkws nicht unwahrscheinlich war. Hätte aber die Klägerin schon auf den ersten Lkw angemessen reagiert und ihr Tempo so stark reduziert, dass sie jederzeit vollständig hätte bremsen können, hätte sie den Unfall leicht vermeiden können. Eine deutliche Temporeduzierung musste sich ihr aufdrängen.

Erschwerend kommen die Witterungsverhältnisse hinzu. Die Klägerin räumte vor dem Senat ein, dass am Unfallort windiges Wetter vorherrschte. Fährt sie indes an dem ersten Lkw vorbei musste sie als nach eigenen Angaben äußerst erfahrene Autofahrerin zwingend mit einem Windstoß zwischen den beiden Lkw rechnen und auch aus diesem Grund ihr Tempo stark reduzieren. Keinesfalls hätte sie ihre Fahrt dergestalt bei windigem Wetter fortsetzen dürfen, dass sie im Falle einer Ausweichbewegung auf den unbefestigten Straßenrand geraten und die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlieren konnte.

Die nach §§ 18 Abs. 3 i. V. m. 17 Abs. 2 StVG erforderliche Abwägung der Verursachungsbeiträge führt zu einer Alleinhaftung der Klägerin. Zulasten der Beklagten ist lediglich die Betriebsgefahr anzuführen. Obwohl diese bei einem Lkw grundsätzlich größer ist als bei einem Pkw, wiegen die der Klägerin unterlaufenen Fahrfehler so schwer, dass dahinter die einfache Betriebsgefahr des Lkw vollständig zurücktritt. Dieses Abwägungsergebnis ist geboten, weil die Klägerin durch ein schlichtes Abbremsen den Unfall hätte vermeiden können.“