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Pflichti I: Dauerbrenner rückwirkende/nachträgliche Bestellung, oder: Siebenmal: „Yes we do.“

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Am Mittwoch heute mal wieder einiges zum Pflichtverteidiger. Hrezlichen Dank vorab allen Kollegen, die mir zu dem Bereich Entscheidungen geschickt haben.

Und ich beginne die Berichterstattung mit Entscheidungen zur rückwirkenden/nachträglichen Bestellung – meist in den Fällen, in denen das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt und man den Beiordnungantrag „übersehen“ hat. Da zeichnet sich – wie schon nach altem Recht – das Bild ab, dass die LG und AG wohl weitgehend der Auffassung sind, dass die Beiordnung noch möglich – ja geboten ist. Die OLG lehnen das ab.

Hier dann folgende neuere Entscheidungen

Für die nachträgliche Bestellung:

Ein besonderer Hinweis auf die Entscheidung des LG Hamburg, die von der Rechtsprechung des „übergeordneten“ OLG abweicht, und auf LG Leipzig, das sehr schön auch zu den Voraussetzungen der Bestellung Stellung nimmt.

Handy II: Begriff der Benutzung eines elektronischen Gerätes, oder: Videotelefonie

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Bei der zweiten Entscheidung zur Neuregelung des § 23 Abs. 1a StVO handelt es sich um das AG Magedeburg, Urt. v. 20.08.2018 – 50 OWi 775 Js 15999/18 (332/18). Das AG nimmt in seinem Urteil zum Begriff der Benutzung eines elektronischen Gerätes in § 23 Abs. 1a StVO Stellung. Grundlage waren in etwa folgende Feststellungen: Die Betroffene hatte in ihrem Pkw beim Fahren ihr Mobiltelefon im Armaturenbrett vor dem Tacho abgestellt, eine Videoverbindung zu ihrem Gesprächspartner aufgebaut und blickte während der Fahrt mehrfach auf das Telefon. Das AG hat den Benutzung i.S. des § 23 Abs. 1a StVO bejaht:

„III.

Die Betroffene hat mit diesem Verhalten gegen § 23 Abs. 1a Nr. 2b) StVO verstoßen. Danach darf der Fahrzeugführer ein elektronisches Gerät, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist, nur benutzen, wenn hierfür das Gerät weder aufgenommen noch gehalten wird und entweder nur eine Sprachsteuerung und Vorlesefunktion genutzt wird oder zur Bedienung und Nutzung des Geräts nur eine kurze, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasste Blickzuwendung zum Gerät bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen erfolgt oder erforderlich ist.

Die Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt, so dass die Betroffene das Gerät vorschriftswidrig benutzt hat und der Bußgeldtatbestand aus Nr. 246.1 BKat erfüllt wird.

Unzweifelhaft hat die Betroffene das im Armaturenbrett abgelegte bzw. aufgestellte Mobiltelefon weder aufgenommen noch gehalten (§ 23 Abs. 1a Nr. 1 StVO). Sie hat auch nicht ausschließlich die Sprachsteuerung und Vorlesefunktion genutzt (§ 23 Abs. 1a Nr. 2 Buchst. a) StVO). Die Betroffene hat eingeräumt, Videotelefonie betrieben zu haben. Zu dieser Feststellung gibt auch die Bekundung des Zeugen B. Anlass. Dafür hat die Betroffene das Mikrofon und den Lautsprecher des Geräts zur Übertragung von Ton sowie die Kamera des Geräts zur Übertragung von Bewegtbildern genutzt. Dabei handelt es sich um typische Funktionen moderner Mobiltelefone, die sich nicht in der bloßen Nutzung der Sprachsteuerung und der Vorlesefunktion erschöpfen.

Schließlich ist auch nicht nur eine kurze Blickabwendung erfolgt oder erforderlich gewesen, wie es § 23 Abs. 1a Nr. 2 Buchst. b) StVO für das zulässige Benutzen eines elektronischen Geräts definiert. Videotelefonie verlangt oder erfordert eine nicht nur kurze Blickabwendung, die nach der Reform des Bußgeldtatbestands mit Wirkung vom 19. Oktober 2017 zu einer nicht vorschriftsgemäßen – nicht zulässigen – Benutzung führt.

Aus den Verordnungsmaterialien geht hervor, dass sich der Gesetzgeber bewusst einer konkreten Zeitvorgabe enthalten hat (BR-Drs. 556/17 zur 53. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, S. 26 f.). Weil Verkehrs-, Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnisse im Alltag fließend und relativ seien und die mögliche Geschwindigkeit bei der Bedienung der Fahrzeug- und/oder Infotainment-Systeme nicht nur von den technischen Voraussetzungen des Fahrzeugs, sondern auch von den tatsächlichen Rahmenbedingungen des Einzelfalls (z.B. gefahrene Geschwindigkeit, Verkehrsdichte) abhänge, lasse sich ein die Verkehrssicherheit zuträglicher Verordnungstext nur durch die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen herstellen. Bei Abstellung auf die Erforderlichkeit der nur kurzen Blickabwendung bleibt – so der Verordnungsgeber weiter – das Lesen von Kurznachrichten oder die Nutzung anderer Multimediaangebote (z.B. Internet, Fernsehen) verboten, da diese Tätigkeiten grundsätzlich eine längere Blickabwendung erfordern.

Daran gemessen, erfordert Videotelefonie grundsätzlich nicht ausschließlich eine kurze, sondern eine längere Blickabwendung. Videotelefonie ist nicht anders als Fernsehen zu bewerten, bei welchem die Konzentration des Konsumenten auf das Erfassen von Bewegtbildern gerichtet ist. Dasselbe ist bei Videotelefonie möglich, zumal der Konsument nicht wissen kann, was der Gesprächspartner filmt und zum Gegenstand der Bildübertragung macht. Das Ablenkungspotential ist sehr groß. Nicht vorhersehbare Bewegtbilder auf dem Empfangsgerät des Fahrzeugführers verlangen diesem eine erhebliche Konzentration ab. Eine vollständige Wahrnehmung der übertragenen Bilder und Töne lässt sich zu keiner Zeit mit einer „kurzen Blickabwendung“ herbeiführen, so dass darin keine vorschriftsgemäße Nutzung liegen kann.

Aber auch in dem konkreten Fall war eine nur kurze Blickabwendung weder erfolgt noch erforderlich. Der Zeuge B. hat den wechselnden Blick der Betroffenen beschrieben und auch im Sitzungssaal vorgeführt. Offensichtlich ging deren Blick von der Fahrbahn zum Gerät hin und her, was in der Gesamtschau nicht mehr für eine nur kurze Blickabwendung spricht. Mit Blick auf die Tageszeit (23.00 Uhr) und einer herrschenden Dunkelheit auf der Straße ließ sich die Blickabwendung nicht mit den konkreten Sichtverhältnissen vereinbaren. Denn das Auge der Betroffenen hatte sich zum einen auf das helle Telefondisplay und zum anderen auf die dunkle Straße einzustellen, was der Anpassungskraft des Auges erhebliche Mühe abverlangt und die Videotelefonie in der konkreten Situation unzulässig macht. Daher war es der Betroffenen untersagt, durch ihre Blickabwendung Videotelefonie zu betreiben.

In dem zugrunde liegenden Verständnis von der Vorschrift liegt kein Verstoß des Gerichts gegen das Analogieverbot zulasten eines Betroffenen. Das Gericht bewegt sich innerhalb des ihm durch den Verordnungsgeber ausdrücklich eröffneten Spielraums, einen unbestimmten Rechtsbegriff – „nur eine kurze […] Blickzuwendung“ – mit Leben zu füllen.“

M.E. nicht zutreffend. Das bloße Benutzen einer Funktion des Geräts oder allein eine (längere) Blickzuwendung reichen allein zur Erfüllung des § 23 Abs. 1a StVO nicht, da in § 23 Abs. 1a StVO ausdrücklich mit „und“ formuliert ist (vgl. auch Burhoff in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl., 2018, Rn. 2846; so wohl auch – inzidenter – im vorhin vorgestellten OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.10. 2018 – 2 Rb 9 Ss 627/18). Zudem würde auf der Grundlage der Argumentation des AG im Grunde auch das Betreiben einer Freisprechanlage ggf. unter § 23 Abs. 1a StVO fallen.

Keine Akteneinsicht – kein Haftbefehl, oder: Nehmen wir die Rechtsprechung des BVerfG ernst.

© cunaplus - Fotolia.com

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Da habe ich mal wieder von einem Kollegen einen amtsgerichtlichen Beschluss zur Aufhebung des Haftbefehls, wenn dem Verteidiger keine Akteneinsicht gewährt worden ist, übersandt bekommen. Es war das AG Magdeburg, das im AG Magdeburg, Beschl. v. 02.02.2016 – 5 Gs 254 Js 39963/15 (3398/15) – ernst mit der Rechtsprechung des BVerfG gemacht hat. Und das, obwohl offenbar der Staatsanwaltschaft noch nicht mal ein (großer) Vorwurf gemacht werden konnte, dass dem Verteidiger Akteneinsicht nicht gewährt war, jedenfalls geht davon das AG Magdeburg aus:

„Akteneinsicht ist bis heute nicht gewährt worden. Der Haftbefehl war daher aufzuheben.

Der Grundsatz eines fairen rechtstaatlichen Verfahrens und der Anspruch. des Beschuldigten auf rechtliches Gehörs gebietet es, dem Verteidiger eines inhaftierten Beschuldigten Einsicht zumindest in die Aktenbestandteile zu geben, auf welche der Haftbefehl gestützt ist. Zur Gewährung von Akteneinsicht ist im vorbereitenden Verfahren gemäß § 147 Abs. 5 StPO die Staatsanwaltschaft befugt.

Aufgrund des oben genannten Grundsatzes kann der Haftbefehl gegen einen Beschuldigten und die einen Haftbefehl aufrechterhaltenden Entscheidungen des Gerichts im Haftprüfungsverfahren nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten bzw. dessen Verteidiger vorher bekannt waren, so dass der Beschuldigte in die Lage versetzt wird, auf eine gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.07.1994, NStZ 1994 S. 551 ff.; OLG Köln, NStZ 2002, S. 659).

Allein deshalb weil nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft die Akten erst am pppp. von dem ppp. zur Staatsanwaltschaft zurückgelangt sind, kann dem Verteidiger die Akteneinsicht nicht versagt werden. Es wäre vielmehr erforderlich gewesen, auf eine frühere Aktenrücksendung. hinzuwirken bzw. Doppelakten zu führen, welche dem Verteidiger zur Verfügung gestellt werden können. Dies ist nicht erfolgt.“

Zur Nachahmung empfohlen.