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Die Begegnung der besonderen Art – Zusammenstoß Pkw/Pferd, oder Halbe/halbe

PferdeköpfeIn meinem samstäglichen „Kessel Buntes“ weise ich heute zunächst hin auf das OLG Celle, Urt. v. 20.01.2016 – 14 U 128/13. Das verhält sich zur Abwägung von Betriebsgefahr eines PKW gegenüber der von einem geführten Pferd ausgehenden Tiergefahr, wenn keinem der beiden Beteiligten zusätzlich ein Verschulden nachgewiesen werden kann. Gestritten worden ist in dem Verfahren um die Einstandspflicht der Beklagten für die der Klägerin bei einem Unfallereignis durch ihr Pferd zugefügten Verletzungen. Die Klägerin war durch ihr scheuendes Pferd zu Boden gerissen und mittels Huftritten ins Gesicht schwer verletzt worden.

Das OLG nimmt umfangreich zur den Haftungsgrundlage der Beteiligten Stellung. Darauf will ich hier nicht näher eingehen, insoweit ist Selbststudium angesagt. Ergebnis insoweit:

  • Haftung der Beklagten aus Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs gemäß § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 VVG. Keine Unabwendbarkeit für den Beklagten; keine Haftung der Beklagten aus Verschulden.
  • Haftung der Klägerin ebenfalls nur aus Gesichtspunkten der Gefährdungshaftung (§ 833 BGB). Ein Mitverschulden haben die Beklagten nicht bewiesen.

Und auf der Grundlage zur Haftungsquote:

Unter Maßgabe der vorstehenden Ausführungen ist eine Haftungsabwägung gemäß §§ 9, 17 Abs. 4 StVG, § 254 BGB vorzunehmen. Dabei sind die den Parteien jeweils anzulastenden Verursachungsbeiträge dahingehend zu gewichten, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 Abs. 1 und Abs. 4 StVG, § 254 Abs. 1 BGB). Auf Seiten der Beklagten ist eine Haftung aus Betriebsgefahr gemäß § 7 Abs. 1 StVG zu berücksichtigen und auf Seiten der Klägerin eine Haftung aus Tiergefahr gemäß § 833 BGB. In beiden Fällen handelt es sich um verschuldensunabhängige reine Gefährdungshaftungstatbestände. Es erscheint dem Senat angebracht, eine Haftungsquote von 50 % zu 50 % anzunehmen.

Dabei war zu berücksichtigen, dass sich vorliegend das einem Pferd wesensimmanent anhaftende Gefahrenpotential und die damit verbundenen weitaus geringeren Möglichkeiten, auf es steuernd einzuwirken, ausgewirkt hat. Demgegenüber steht die besondere Gefährlichkeit eines Kraftfahrzeugs, die sich aus seiner Masse, seiner technischen Einrichtungen und seiner Geschwindigkeit zusammensetzt und im zugrundeliegenden Fall das Scheuen des Pferdes verursacht hat. Beide Verursachungsbeiträge wiegen nach Auffassung des Senats in etwa gleich schwer. Motorbetriebene Kraftfahrzeuge sind typischerweise geeignet, geräuschempfindliche Tiere, wie Pferde, die zudem besonders auf Bewegungen in ihrem Umfeld zu reagieren, zu erschrecken, vor allem, wenn diese Gefährte auf sie zukommen. Umgekehrt sind auch Pferde, die an Straßenverkehr gewöhnt sind, nicht davor gefeit, ausnahmsweise schreckhaft auf Motoren- und Fahrgeräusche zu reagieren, insbesondere dann, wenn etwas geschieht, was sie nicht erwarten, wie hier der – als solcher nicht vorwerfbare – Abbiegevorgang des Beklagten zu 2) auf ein Feld, der überdies zu einer Veränderung der Geräuschkulisse geführt hat. Aus Sicht des Senats haben weder die Betriebsgefahr für das Fahrzeug noch die Tiergefahr für das klägerische Pferd in größerem Umfange zur Schadensverursachung beigetragen als der jeweils andere Teil. Vielmehr stehen sich die Gefährdungstatbestände in etwa gleichgewichtig gegenüber, sodass eine Haftungsquote von 50 % zu 50 % für materielle Schäden bzw. die Berücksichtigung eines 50 %-igen Mithaftungsanteils der Klägerin für deren immateriellen Schaden geboten ist. Insoweit unterscheidet sich der Sachverhalt im vorliegenden Fall erheblich von dem von der Klägerin als Vergleich herangezogenen, der Entscheidung des OLG Köln (NZV 1992, 487 ff.) zugrundeliegenden Geschehen. Dort war der Autofahrer innerhalb einer geschlossenen Ortschaft mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren und hat eine Quietschgeräusche auslösende Notbremsung vorgenommen (juris Rdnr. 6). Damit traf den dortigen Beklagten zum einen ein unfallursächliches Mitverschulden, zum anderen wurde durch die Fahrweise und die dabei entstandene Geräuschkulisse unmittelbar auf das Verhalten des Pferdes eingewirkt. Selbst unter diesen Umständen hat das OLG Köln die Tiergefahr nicht vollständig zurücktreten lassen (jeweils Rdnr. 9).“

Strafzumessung: „die Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände“

In tatrichterlichen Strafzumessungserwägungen findet man häufig die Wendung, dass die Strafzumessung unter „Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände“ erfolgt ist. Wird so argumentiert/begründet, dann muss aber auch eine Abwägung erkennbar sein bzw. es müssen für und gegen den Angeklagten sprechende Umstände angeführt werden, soll nicht diese Wendung eine bloße Floskel darstellen. Wo Abwägung drauf steht, muss also auch Abwägung drin bzw. erkennbar sein. Das gilt vor allem auch für belastende/strafschärfende Umstände, und zwar vor allem dann, wenn die Strafe am oberen Rand des Strafrahmens festgesetzt wird. So der BGH, Beschl. v. 13.08.2013 – 2 StR 180/13.

Im zugrundeliegenden Verfahren hatte das LG den Angeklagten u.a. wegen Totschlags verurteilt und eine Einzelfreiheitsstrafe von neun Jahren festgesetzt. Dazu der BGH, Beschluss:

a) Das Landgericht hat die gegen den Angeklagten verhängte Einzelfreiheitsstrafe von neun Jahren dem nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB entnommen; einen minder schweren Fall des Totschlags hat es unter Berücksichtigung von Tatbild und Täterpersönlichkeit verneint. Bei der Strafzumessung im engeren Sinn hat es zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass es sich um ein situatives Tatgeschehen und keine von langer Hand geplante Tat gehandelt hat, der Angeklagte bei der Tat stark erregt war und er alters- und krankheitsbedingt besonders haftempfindlich und nicht vorbestraft ist. Strafschärfungsgründe führt die Strafkammer nicht auf.

b) Diese Ausführungen sind – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 3. August 2011 – 2 StR 207/11, Rn. 5 juris; BGH, Beschluss vom 17. Juli 2009 – 5 StR 241/09, NStZ-RR 2009, 336, jeweils mwN) – lückenhaft und damit rechtsfehlerhaft. Die Strafkammer stützt sich zur Begründung der im anwendbaren Strafrahmen gefundenen Strafe ausschließlich auf Strafmilderungsgründe. Eine Abwägung „aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände“ (UA S. 52) findet gerade nicht statt. Damit ist aber nicht erkennbar begründet, warum sich die Strafe am oberen Rand des zur Verfügung stehenden Strafrahmens von elf Jahren drei Monaten bewegt.

Elternrecht/Erziehungsrecht meets Jugend(straf)recht

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Gegen eine Jugendliche wird  Ungehorsamsarrest wegen der Nichtbefolgung gerichtlicher Auflagen verhängt. Dagegen wendet sich der Vater an den VerfGH Rheinland-Pfalz und rügt u.a. eine Verletzung seines elterlichen Erziehungsrechts (Artikel 25 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV). Der VerfGH weist die Verfassungsbeschwerde zurück (vgl. VerfGH Rheinland-Pfalz, 13.07.2012, VGH B 10/12).

Der VerfGH sieht den Vater nicht in seinem Elternrechten verletzt, wenn die beteiligten Gerichte die Existenz oder den Gehalt des in der Landesverfassung verbürgten vorrangigen elterlichen Erziehungsrechts nicht grundsätzlich verkannt oder in einer nicht mehr vertretbaren und damit willkürlichen Auslegung ihren Entscheidungen zugrunde gelegt haben. Die staatlichen Strafrechtspflege seigrundsätzlich nicht gehindert, auch in das elterliche Erziehungsrecht einzugreifen. Das bedeute zwar nicht zugleich, dass das Elternrecht im Rahmen des (Jugend-) Strafverfahrens unter allen Umständen zurückzutreten habe. Konflikte zwischen dem (prinzipiell vorrangigen) Elternrecht einerseits und dem Verfassungsgebot des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes sowie seiner Durchsetzung im Verfahren andererseits seien durch Abwägung aufzulösen, im Rahmen derer das betroffene Elternrecht und der strafrechtliche Rechtsgüterschutz zum Ausgleich gebracht werden.

Und dazu heißt es u.a.

„Zwar gebietet die Subsidiarität staatlicher Erziehung auch in diesem Fall aus Gründen des Übermaßverbots eine Abwägung, ob die durch das Gericht erkannten Erziehungsdefizite nicht auch durch die zuvörderst hierzu berufenen Eltern beseitigt werden können. Jedoch sind im vorliegenden Fall die Gerichte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die elterliche Erziehung aufgrund des während des gesamten Verfahrens zutage getretenen Prozessverhaltens des Beschwerdeführers ungeeignet sein musste, die Tochter zu einem zukünftig rechtstreuen Verhalten zu erziehen. In diesem Sinne stellen die durch die Gerichte hierzu angestellten Erwägungen – entgegen der Annahme des Beschwerdeführers – gerade keine Zurechnung seines Verschuldens gegenüber seiner Tochter dar, sondern die im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderliche Prognose, ob das erkannte Erziehungsdefizit von der vorrangig hierzu berufenen elterlichen Seite effektiv beseitigt werden kann oder nicht.

Im Rahmen dieser Abwägungsentscheidung dürfte zwar das Verhalten des Beschwerdeführers im Erkenntnisverfahren, das mit seinem Ausschluss aus der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht Trier am 27. Januar 2011 endete, und die spätere Einlegung mehrerer Rechtsbehelfe gegen das Urteil für sich genommen unzureichend sein, eine fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern im Hinblick auf die Erziehung der Tochter zur Rechtstreue anzunehmen. Vielmehr entspricht es gerade der Grundentscheidung des Jugendstrafrechts, den Erziehungsberechtigten am Verfahren gegen sein Kind zu beteiligen und ihm durch die Verleihung eigener prozessualer Rechtspositionen die Möglichkeit zu geben, auf den Ausgang des Verfahrens einzuwirken (BVerfGE 107, 104 [121], vgl. auch § 67 Abs. 1 JGG). Jedoch konnten die Gerichte aus der Gesamtschau des Verhaltens des Beschwerdeführers im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens zulässigerweise den Rückschluss ziehen, dass dieser die Verwirklichung der im Rahmen eines rechtskräftigen Urteils festgesetzten Erziehungsmaßnahme gegen seine Tochter unter allen Umständen vermeiden wollte. Hierbei waren die Gerichte nicht daran gehindert, in ihre Entscheidung einstellen, dass das vermeintliche Verbot zur Ableistung der verhängten Arbeitsleistungen erstmals deutlich nach Ablauf der hierfür angesetzten Fristen vorgetragen wurde und sich die Tochter des Beschwerdeführers weder gegenüber der Jugendgerichtshilfe noch dem Vollstreckungsgericht gegenüber jemals hierauf berufen hatte, sondern sämtliche Anschreiben seitens der staatlichen Stellen schlicht ignorierte. Ebenfalls nicht zu beanstanden war der aus ihrem Verhalten (keine Kontaktaufnahme mit Gericht oder Jugendgerichtshilfe, Nichterscheinen beim Erörterungstermin am 20. Januar 2012) gezogene Rückschluss der erkennenden Gerichte, sie habe sich die Ansichten ihres Vaters zu Eigen gemacht und sei in ihrem Hang zur Rechtsuntreue bestärkt worden, weshalb eine erhöhte Gefahr weiterer Straffälligkeiten bestehe. Dieser, den ausdrücklichen Zielsetzungen des Jugendstrafrechts zuwiderlaufenden (vgl. § 2 Abs. 1 JGG), Entwicklung durften die Gerichte in Ausübung des staatlichen Wächteramtes und ihres Verfassungsauftrags aus Artikel 25 Abs. 1 Satz 2 LV konsequent durch die geeignete und erforderliche Maßnahme der Festsetzung eines Jugendarrests begegnen.“

Sozialgeheimnis oder Strafverfolgungsinteresse – was hat Vorrang?

Eine nicht alltägliche Konstellation behandelt LG Aurich, Beschl. v. 15.04.2011 – 12 Qs 43/11. Es geht um ein Verfahren wegen falscher Verdächtigung, zu dem es wie folgt gekommen ist. Eine (bislang) unbekannte Person hatte gegenüber dem beschwerdeführenden Jugendamt einer Stadt E. telefonisch Mutmaßungen bezüglich einer Kindeswohlgefährdung angestellt. Aufgrund dessen ist das Jugendamt tätig geworden und hat die Lebensgefährtin des Anzeigeerstatters und zugleich Kindesmutter diesbezüglich zu einem Gespräch geladen. Im Zusammenhang mit diesem Gespräch soll – so die Bekundung des Anzeigeerstatters gegenüber der Polizei – ihm von Seiten eines Mitarbeiters des Jugendamtes mitgeteilt worden sein, dass er die Tochter seiner Lebensgefährtin sexuell missbraucht habe. Es wurde ferner eine ärztliche Untersuchung durchgeführt, in der allerdings keine Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch festgestellt wurden.

Angesichts dessen hat die StA ein Verfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts der falschen Verdächtigung und der Verleumdung eingeleitet und beim Amtsgericht – Ermittlungsrichter – einen Antrag gestellt, das Jugendamt dazu zu verpflichten, die Personalien des unbekannten Informanten mitzuteilen. Gegen eine entsprechende, auf § 73 Abs. 2, 3 SGB X i.V.m. § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB X gestützte Anordnung hat sich dann das Jugendamt gewendet. Das LG Aurich hat die Beschwerde als unbegründet verworfen.

Die Gründe sind m.E. Recht interessant zu lesen:Das LG verweist darauf, dass bei solchen Sachverhalten ein Auskunftsverlangen nicht lediglich auf § 73 SGB X gestützt werden darf, sondern dass dieses zugleich den Anforderungen des § 65 SGB VIII genügen muss. Denn die Mitteilung der unbekannten Person über den angeblichen Kindesmissbrauch unterliegen dem besonderen Vertrauensschutz und stellen im Sinne des § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Sozialdaten dar, die dem Mitarbeiter eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zum Zweck persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sind. Diese dürfen u.a von diesem nur unter den Voraussetzungen, unter denen eine der in § 203 Abs. 1 oder  3 StGB genannten Personen dazu befugt wäre, weitergegeben werden (§ 65 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII). Nach Auffassung des LG soll sich diese Befugnis wiederum aus den dem rechtfertigenden Notstand angelehnten Grundsätzen über die Güterabwägung widerstreitender Interessen und Pflichten ergeben. Ob ein solcher Rechtfertigungsgrund bzw. eine derartige Abwägung neben § 34 StGB greift, ist zwar umstritten (vgl. nur Fischer, StGB, 58. Aufl., 2011, § 203 Rn. 45 m.w.N.). Auch lässt sich über das Abwägungsergebnis trefflich streiten. Doch im Ergebnis stellt diese Entscheidung die beiden folgenden, für die Praxis bedeutsamen Grundsätze auf. Sie verdeutlicht nämlich, dass

  1. ein Auskunftsverlangen u.U. nicht nur auf § 73 SGB X zu stützen ist, sondern zugleich auch den Anforderungen des § 65 SGB VIII genügen muss und
  2. die Entscheidung über ein solches Auskunftsverlangen nicht pauschal, sondern erst nach eingehender Güterabwägung (oder Berücksichtigung sonstiger Rechtfertigungsgründe) im Einzelfall zu ergehen hat.

Entscheidung demnächst im StRR.

Abhörergebnisse trotz Eingriff in den sog. Kernbereich verwertbar.

Der BGH hat in einem weiteren Anti-Terror-Prozess zur Verwertung von Beweisen aus einenm „großen Lauschangriff“ Stellung genommen. Er hat die Verwertung als zulässig angesehen, obwohl die der Erhebung zugrunde liegenden Vorschriften des rheinland-pfälzischen Polizeigesetzes teilweise verfassungswidrig waren.  Dieses enthielt insbesondere keine Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Die gewonnenen Erkenntnisse konnten aber nach Auffassung des BGH aufgrund einer im Einzelfall erfolgten „Gesamtabwägung“ gleichwohl für das Verfahren verwendet werden (Beschl. v. 13.08.2009, 3 StR 552/08). Also mal wieder „Abwägung“.