Handy II: Längerer Sicherstellung eines Mobiltelefons, oder: StrEG – Nutzungsausfall/Rechtsanwaltskosten?

Als zweite Entscheidung stelle ich dann die GStA Dresden, Entscheidung v. 31.7.2024 – 12 StEs 84/23 – vor. Die GStA äußert sich darin zur Entschädigung nach längerer Sicherstellung eines Mobiltelefons.

In dem gegen den Antragsteller wegen des Verdachts des Missbrauchs von Ausweispapieren geführten Ermittlungsverfahren war durch Beschluss des AG die Durchsuchung der Wohnung mit Nebenräumen des Antragstellers angeordnet worden. Bei der daraufhin am 10.11.2021 erfolgten Durchsuchung wurde u.a. ein IPhone inklusive Ladekabel sichergestellt. Die Rückgabe an den Antragsteller erfolgte am 24.01.2023.

Der Antragsteller macht dann Ansprüche nach dem StrEG geltend. Das Ermittlungsverfahren ist mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.12.2022 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Durch Beschluss des AG vom 22.02.2023 wurde festgestellt, dass der Antragsteller für den durch die Strafverfolgungsmaßnahme der am 10.11.2021 erfolgten Durchsuchung seiner Wohnung und die am 10.11.2021 erfolgte und bis zum 20.12.2022 andauernde Beschlagnahme, erlittenen Schaden dem Grunde nach aus der Staatskasse zu entschädigen ist. Die StrEG-Grundentscheidung ist seit 14.3.2023 rechtskräftig. Die Belehrung gemäß § 10 Abs. 1 StrEG vom 12.5.2023 wurde dem Antragsteller am 22.5.2023 zugestellt.

Der Antragsteller hat die Erstattung der Kosten für den Nutzungsausfall aufgrund des beschlagnahmten Mobiltelefons in Höhe von 3.797,31 EUR sowie Rechtsanwaltskosten im Ermittlungsverfahren in Höhe von 453,87 EUR beantragt. Diese Kosten sind (nur) teilweise festgesetzt worden:

„Zu den geltend gemachten Positionen im Einzelnen:

1. Materielle Entschädigung für die erlittene Durchsuchung/Sicherstellung

Nach der den Umfang des Entschädigungsanspruchs regelnden Vorschrift des § 7 StrEG ist jeder durch die Strafverfolgungsmaßnahme in zurechenbarer Weise verursachte Vermögensschaden zu ersetzen. Der Begriff und Umfang des Vermögensschadens ist nach den §§ 249 ff. BGB zu bestimmen, soweit sich aus dem Sinn des StrEG nicht ausdrücklich Abweichungen ergeben (Dieter Meyer, StrEG-Kommentar, 10. Aufl., § 7 Rz. 5, 11). Demnach ist ein Vermögensschaden jede in Geld bewertbare Einbuße, die der Berechtigte an seinem Vermögen oder an seinen sonstigen rechtlich geschützten Gütern erleidet und ihm hierdurch tatsächliche wirtschaftliche Nachteile entstanden sind (BGH, BGHZ 65, 170, 172).

Den Eintritt des Schadens sowie sämtliche Tatsachen, die die haftungsausfüllende Kausalität begründen, hat der Berechtigte darzulegen und nachzuweisen. Insoweit gelten die Darlegungs- und Beweispflichten des Zivil- und Zivilverfahrensrechts (Dieter Meyer, a. a. 0., § 7 Rz. 55, 57; BGH, BGHZ 103, 113).

Nutzungsausfall für beschlagnahmte Mobiltelefone

Der Antragsteller macht eine Entschädigung für die Beschlagnahme des Mobiltelefons IPhone 7 im Umfang von 407 Tagen x 9,33 EUR, mithin in Höhe von 3.797,31 EUR geltend. Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung sei eine Orientierung am marktüblichen Mietpreis vergleichbarer Geräte geboten.

Entgangene Nutzungsmöglichkeiten sind nach dem StrEG grundsätzlich erstattungsfähig, wenn der Betroffene auf die Nutzung des Gegenstandes für die eigene Lebensführung in dem Sinne angewiesen ist, dass die ständige Verfügbarkeit des Gegenstandes erforderlich ist. Nach den heutigen Lebensumständen zählen insbesondere Tablets/Computer bzw. internetfähige Mobiltelefone zu den Gegenständen, auf die der Betroffene für die eigenwirtschaftliche Nutzung typischerweise angewiesen ist (Meyer, Strafrechtsentschädigung, 11. Auflage, § 7 Rz. 30).

Das ist demnach bei dem im Ermittlungsverfahren beschlagnahmten Mobiltelefon IPhone 7 der Fall. Nach den heutigen Lebensumständen ist die Nutzung eines internet-fähigen Smartphones wesentlicher Bestandteil der eigenwirtschaftlichen Lebenshaltung. Zudem ist der Ermittlungsakte nicht zu entnehmen, dass dem Antragsteller im entschädigungspflichtigen Zeitraum ein internetfähiges Zweitgerät zur Verfügung stand. Der Entschädigungsanspruch ist daher grundsätzlich gegeben.

Der vom Antragsteller zugrunde gelegte Sicherstellungszeitraum kann jedoch nicht vollumfänglich anerkannt werden. Ausweislich der vorliegenden Akten ist die Beschlagnahme des Mobiltelefons am 10. November 2021 und die Rückgabe am 20. Dezember 2022 erfolgt. Der laut der StrEG-Grundentscheidung des Amtsgerichts Leipzig vom 22. Februar 2022 festgelegte Beschlagnahmezeitraum umfasst den Zeitraum vom 10. November 2021 bis 20. Dezember 2022, mithin 406 Tage.

Hinsichtlich der Höhe der vom Antragsteller angenommenen Entschädigungspauschale von 9,33 EUR/Tag ist nach einem Urteil des Landgerichts Stuttgarts vom 26.05.2009 (Landgericht Stuttgart, 26.05.2009, Az. 0 306/08, BeckRS 2010, 1167, beck-online) ein Abschlag, für den im Mietpreis enthaltenen -nicht erstattungsfähigen- Gewinn der Vermieter in Ansatz zu bringen.

Mangels vorliegender Zahlen zu den konkreten Gewinnspannen der Vermieter, erscheint ein Abschlag von fast 20 % auf 7,00 EUR/Tag als angemessen.

Der Antragsteller ist demnach wie folgt zu entschädigen:

406 Tage x 7,00 EUR/Tag = 2.842,00 EUR.

Darüber hinaus ist der Anspruch zurückzuweisen.

2. Rechtsanwaltskosten im Entschädigungsverfahren

Weiterhin macht der Antragsteller die Erstattung der Kosten für die anwaltliche Inanspruchnahme im Entschädigungsverfahren in Höhe von 453,87 EUR im Entschädigungsverfahren geltend.

Soweit sich der Antragsteller im Entschädigungsverfahren der Hilfe eines Rechtsanwaltes bedient, sind die Kosten hierfür Teil des angemeldeten Schadens, sofern die anwaltliche Inanspruchnahme notwendig ist (Meyer, Strafrechtsentschädigung, 11. Auflage, § 7 Rz. 17). Die Ersatzfähigkeit ist vorliegend nicht gegeben, da es dem Antragsteller objektiv ohne weiteres zumutbar war, die beantragte Entschädigung ohne anwaltliche Hilfe selbst einzufordern.

Der Antrag betrifft lediglich eine Schadensposition, nämlich den zu 1. behandelten Nutzungsausfall zu einem elektronischen Gerät, hier Mobiltelefon. Der zugrunde zu legende Zeitraum hinsichtlich der Dauer des Nutzungsausfalls kann der StrEG-Grundentscheidung des Amtsgericht Leipzig vom 22. Februar 2023 entnommen werden. Eine Recherche zu den aktuellen Mietpreisen eines IPhone 7 ist ebenfalls zumutbar, bedarf jedenfalls nicht der Hilfe eines Rechtsanwalts.

Zwar wurde dem Berechtigten im Zusammenhang mit der Wohnungsdurchsuchung ein Dolmetscher für die arabische Sprache zur Seite gestellt, sodass anzunehmen ist, dass der Antragsteller der deutschen Sprache in Wort und Schrift nicht ausreichend mächtig ist. Indes bestand unter Hinweis auf die nachfolgenden Ausführungen gleichwohl keine Notwendigkeit einen Rechtsanwalt mit der Durchsetzung der Ansprüche zu beauftragen, wenngleich seinerzeit die StrEG-Grundentscheidung nicht übersetzt worden ist.

Eine Notwendigkeit zur Beauftragung von Rechtsanwalt pp. ergibt sich auch nicht, wenn der Antragsteller der deutschen Sprache in Wort und Schrift nicht ausreichend mächtig ist. Den Anforderungen des § 187 Abs. 2 GVG und dem Gebot des fairen Ver-fahrens wird bei einem verteidigten Angeklagten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, regelmäßig dadurch genügt, dass ihm die mündliche Urteilsbegründung durch einen Dolmetscher übersetzt wird und er die Möglichkeit hat, das abgesetzte schriftliche Urteil zusammen mit seinem Verteidiger unter Hinzuziehung eines Dolmetschers zu besprechen und sich in diesem Zusammenhang auch das Urteil zumindest auszugsweise übersetzen zu lassen. Einer schriftlichen Übersetzung des vollständigen Urteils bedarf es dann nicht (Leitsatz OLG Hamm vom 11.03.2014 -Az.: 2 Ws 40/14).

Nichts Anderes kann dann gelten, wenn – wie vorliegend – das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Denn mit Bekanntgabe des Beschlusses des Amtsgerichts Leipzig vom 22. Februar 2023 an den Verteidiger, wäre es dem Antragsteller objektiv möglich gewesen, die StrEG-Grundentscheidung zusammen mit einem Verteidiger unter Hinzuziehung eines Dolmetschers zu besprechen und sich in diesem Zusammenhang auch zumindest auszugsweise übersetzen zu lassen.

Weiterhin hätte der Antragsteller den einfach gelagerten Entschädigungsantrag auch in seiner Muttersprache stellen können. Die Übersetzung des Antrages wäre sodann von der Staatsanwaltschaft Leipzig oder der entscheidenden Justizverwaltungsbehörde veranlasst worden.

Die Hinzuziehung von Rechtsanwalt pp. durch den Antragsteller war daher nicht notwendig. Mit der anwaltlichen Beauftragung hat der Antragsteller somit gegen seine auch im StrEG ausnahmslos geltende Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB; Meyer, Strafrechtsentschädigung, 11. Auflage, § 7 Rz. 51; BGH VersR 1975, 257, 258) verstoßen, indem er sich für einen einfach gelagerten Antrag der Hilfe eines Rechtsanwalts bedient hat.

Der Anspruch ist zurückzuweisen.“

Ich habe hinsichtlich der Entscheidung Bedenken.

Hinsichtlich des Nutzungsausfalls für die Beschlagnahme/Sicherstellung des Mobiltelefons erschließt sich mir nicht, woher die GStA den Abschlag von 20 % „zaubert“. Die GStA bezieht sich auf eine LG-Entscheidung aus dem Jahr 2009, die also 15 Jahre alt ist, bezieht und den im Hinblick auf die „Vermieterspanne“ erforderlichen Abschlag mal eben auf 20 % schätzt. Ich habe erhebliche Zweifel, ob die Spanne tatsächlich so hoch ist. M.E. hätte die GStA hier bei „Vermietern“ nachfragen müssen, wenn es denn überhaupt „Vermieter“ von Mobiltelefonen gibt.

Ganz erhebliche Bedenken habe ich gegen die Ablehnung der Erstattung der Rechtsanwaltskosten. Dazu muss man festhalten: Bei dem Antragsteller handelt es sich um einen der deutschen Sprache nicht mächtigen – arabisch sprechenden – Ausländer. Von dem verlangt die GStA, dass er seine Entschädigungsansprüche ggf. selbst oder (nur) unter Zuhilfenahme eines Dolmetsches geltend macht. Der nicht der deutschen Sprache mächtigen Ausländer soll sich also allein auf dem Gebiet der strafverfahrensrechtlichen Entschädigung bewegen, einem Gebiet, mit dem sich ggf. selbst Rechtsanwälte schwer tun. Zudem ist die GStA an der Stelle auch widersprüchlich, wenn sie davon ausgeht, dass „es dem Antragsteller objektiv möglich gewesen [wäre], die StrEG-Grundentscheidung zusammen mit einem Verteidiger unter Hinzuziehung eines Dolmetschers zu besprechen“. Wieso „zusammen mit einem Verteidiger“, wenn dessen Hinzuziehung doch nicht erforderlich gewesen sein soll? Meint die GStA ggf., dass der Verteidiger ohne Vergütung tätig werden soll/muss? Wohl kaum. Auch greift der Hinweis auf die Entscheidung des OLG Hamm, Beschl. v. 11.3.2014 (2 Ws 40/14( zu kurz. Denn die Frage, ob und welche Aktenbestandteile dem Beschuldigten übersetzt werden müssen, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Die GStA hätte sich mit den abweichenden Auffassungen auseinandersetzen müssen. Sie macht es sich zu einfach, wenn sie sie noch nicht einmal erwähnt. Schließlich verfängt der Einwand der GStA, der Antragsteller hätte den Antrag auch in seiner Muttersprache stellen können, m.E. nicht. Gerichtssprache ist nun mal nach § 184 GVG deutsch.

Handy I: Voraussetzungen für eine Funkzellenabfrage, oder: „Enkel-Trick-Betrug“ oder Ähnliches reicht

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In der Berichterstattung finden sich heuet drei Entscheidungen, die mit Mobiltelefonen zu tun haben.

Ich beginne mit dem LG Hamburg, Beschl. v. 06.06.2024 – 621 Qs 32/24 -, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

Die Staatsanwaltschaft hatte eine sog. Funkzellenabfrage (§ 100g StPO) beantragt. Vorgetragen war, dass mindestens drei unbekannte Täter in H. am 01.06.2024 gemeinschaftlich und gewerbsmäßig als Mitglieder einer „Betrugs-Bande, Betrugstaten begangen hatte. Die unbekannten Täter hatten sich zusammen geschlossen mit dem Ziel , sich durch die professionelle und arbeitsteilige Begehung von Betrugstaten nach dem Vorbild des sog. „Enkeltricks“ zum Nachteil vorwiegend älterer Tatopfer eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von erheblichem Umfang zu verschaffen. Eine Einzeltat konnte näher konkretisiert werden: und zwar hatte am 01.06.2024 zur Mittagszeit ein unbekannter Täter telefonisch Kontakt mit dem zu diesem Zeitpunkt 86-jährigen, im H. Weg… wohnhaften Geschädigten W. H. B. über dessen Telefonanschluss aufgenommen. Er hatte sich als Polizeibeamter ausgegeben und behauptete – wider besseres Wissen – wahrheitswidrig, dass im Bereich der Wohnanschrift des Geschädigten eine Frau überfallen worden sei und in diesem Zusammenhang Unterlagen aufgefunden worden seien, die eine Auflistung der Vermögenswerte des Geschädigten enthielten. Kurze Zeit später erschien ein weiterer unbekannter Täter am Haus des Geschädigten und forderte ihn zur Herausgabe seiner Bankkarten und der dazugehörigen PIN-Codes heraus, vermeintlich um diese am Polizeikommissariat zu überprüfen, tatsächlich aber um unter Einsatz der Karte und PIN (abrede- und zweckwidrige) Abhebungen an Geldautomaten vorzunehmen; der Geschädigte folgte im Vertrauen auf die Angaben der Täter den Anweisungen.

Das AG hatte die beantragten Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 S. 1 StPO abgelehnt. Das LG kommt dem Antrag der StA nach und führt u.a. aus:

„….Es liegt der Verdacht einer Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung vor, § 100g Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StPO i.V.m. § 100g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO. Sie ist zum einen, unter Nr. 1 lit. n), im Katalog des § 100a Abs. 2 StPO enthalten und weist zum anderen auch unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände erhebliche Bedeutung auf. Es handelt sich vorliegend um eine Straftat von erhöhter Kriminalität. Nach kriminalistischer Erfahrung sind bei Taten nach dem vorliegenden Modus Operandi mindestens drei Personen involviert: Ein Anrufer, ein Logistiker und ein Abholer. Der Umstand, dass die Täter den Geschädigten geschickt manipulierten und steuerten, lässt auf einige Übung in dem Deliktsfeld und einen hohen Organisationsgrad schließen. An der Aufklärung dieser Tat besteht ein hohes öffentliches Interesse schon wegen des erheblichen Wertes der potentiellen Tatbeute – der Ersparnisse eines betagten Mitbürgers auf zwei Bankkonten – und des skrupellosen sowie gezielten Vorgehens der professionalisierten Täter, welche die altersbedingte Gutgläubigkeit und Gutmütigkeit des betagten Geschädigten mit erheblicher krimineller Energie arbeitsteilig und trickreich ausnutzten.

Vor diesem Hintergrund stehen die Erhebung der Daten und der hier beantragte Anordnungszeitraum von nur zwei Stunden in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache, § 100g Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO. ….. „

Aber: Es gibt ja den BGH, Beschl. v. 10.01.2024 – 2 StR 171/23 -, der ja für die Anordnung einer Funkzellenabfrage den Verdacht einer besonders schweren Straftat aus dem Katalog des § 100g Abs. 2 StPO fordert. Das sieht das LG jedoch anders:

„Der Anordnung steht auch nicht entgegen, dass kein Verdacht einer besonders schweren Straftat aus dem Katalog des § 100g Abs. 2 StPO vorliegt. Der Katalog des § 100g Abs. 2 StPO ist für Funkzellenabfragen nach § 100g Abs. 3 S. 1 StPO nicht einschlägig.

Die Kammer schließt sich damit der jüngsten Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zu den Voraussetzungen einer Funkzellenabfrage nicht weiter an (vgl. BGH, Beschluss vom 10.01.2024 – 2 StR 171/23 = BeckRS 2024, 10088) und hält an ihrer in den Beschlüssen vom 23.05.2024 (Az.: 621 Qs 28/24) und vom 24.05.2024 (Az.: 621 Qs 29/24) noch vertretenen Rechtsansicht nicht weiter fest.

Der Beschluss des 2. Strafsenats lässt bereits im Ausgangspunkt unerwähnt (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 14), dass die darin postulierte Auffassung, eine Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 S. 1 StPO setze den Verdacht einer besonders schweren Straftat aus dem Katalog des § 100g Abs. 2 StPO voraus, der – soweit ersichtlich – bislang herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur widerspricht (vgl. etwa LG Stade, Beschluss vom 26.10.2018 – 70 Qs 133/18 = BeckRS 2018, 27043; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 66. Auflage 2023, § 100g, Rn. 36-38; Bär, in: BeckOK-StPO, 51. Edition, Stand: 01.04.2024, § 100g, Rn. 50; Henrichs/Weingast, in: KK-StPO, 9. Auflage 2023, § 100g Rn. 12, jeweils m.w.N.).

Die Auffassung des 2. Strafsenats, wonach es für die Anordnung einer Funkzellenabfrage gemäß § 100g Abs. 3 S. 1 StPO des Verdachts einer Katalogstraftat nach § 100g Abs. 2 StPO bedarf, findet im Wortlaut (1.) und der Systematik (2.) des Gesetzes sowie nach historischer (3.) und teleologischer (4.) Auslegung keine Stütze. Auch eine analoge Anwendung des § 100g Abs. 2 StPO scheidet aus (5.)…..“

Der Rest dann bitte ggf. selbst lesen.

Vorab: Grenzwert von 3,5 ng/ml für Drogenfahrt, oder: Neuer THC-Grenzwert gilt ab heute, 22.08.2024

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Heute vor dem „normalen“ Programm ein Hinweis auf eine gesetzliche Neuregelung, die heute in Kraft tritt.

Es geht um die (Neu)Regelungen zum Straßenverkehr, und zwar den neuen THC-Grenzwert (dazu News: Neuer THC-Grenzwert im Straßenverkehr, oder: Wirkungsgrenzwert von 3,5 ng/ml THC Blutserum? und  Grenzwert von 3,5 ng/ml für Drogenfahrt beschlossen, oder: Änderungen im StVG kommen.

Nachdem der Bundestag das „Sechste Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“, das die Änderungen enthält bereits im Juli beschlossen und das Vorhaben dann auch den Bundestag passiert hat, ist gestern dann  das endlich am 21.08.2024 – warum eigentlich so spät – ausgefertigte Gesetz im BGBl veröffentlicht worden (siehe hier das BGBl.-Nr. 266).

Damit gelten die neuen Bestimmungen und Bußgelder ab heute, 22.08.2024. Wesentlich ist.

  • Für den THC ist damit in § 24a StVG ein Grenzwert von 3,5 Nanogramm je Milliliter Blut festgelegt ähnlich wie die 0,5-Promille-Grenze für Alkohol. Wer vorsätzlich oder fahrlässig mit mehr als 3,5 ng/ml THC im Blutserum fährt, muss mit einem Bußgeld in Höhe von 500 EUR und ein Fahrverbot von einem Monat rechnen.
  • Vollstädnig untersagt ist der Mischkonsum von Cannabis und Alkohol. In diesem Fall droht ein Bußgeld in Höhe von 1.000 EUR.
  • In der zweijährigen Führerschein-Probezeit und für Fahrer und Fahrerinnen unter 21 Jahren gilt die Grenze von 3,5 ng nicht. Vielmehr gilt der bisher von der Rechtsprechung festgelegte Grenzwert von 1,0 ng/ml THC im Blutserum weiter.

Das muss hier reichen. Mehr zu den Neuregelungen hat es schon vom Kollegen Deutscher in VRR 8/2024, 6 gegeben.

OWi III: Ermessen bei der Einstellung des Verfahrens, oder: Weitere Ermittlungen unverhältnismäßig

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Und dann noch etwas zur Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG. Das AG Bad Saulgau hat im AG Bad Saulgau, Beschl. v. 17.07.2024 – 1 OWi 12 Js 12046/24 – zum pflichtgemäßen Ermessen bei der Einstellung des Verfahrens Stellung genommen. Verfahrensgegenstand war ein Verstoß gegen die Anschnallpflicht – Stichwort: Sicherheitsgurt:

„2. Die Ahndung des Verstoßes war nicht geboten gern. § 47 Abs. 2 OWiG. Das Gericht entscheidet dies nach pflichtgemäßem Ermessen. Die eigentliche Ermessensausübung besteht in der Ermittlung, Gewichtung und Abwägung der nach dem Zweck der Ermächtigung maßgeblichen Gesichtspunkte für und gegen die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit. Welche Gesichtspunkte einzustellen und wie diese zu gewichten sind, hängt vom Einzelfall ab. Zulässige Überlegungen sind dabei etwa der erforderliche Aufwand zur Aufklärung der unklaren Sachlage und der damit verbundene unverhältnismäßige Ermittlungsaufwand (Gassner/Seith, OWiG, 2. Auflage 2020, § 47 Rn. 49; Krenberger/Krumm, OWiG, 6. Aufl. 2020, § 47 Rn. 5). Die Gewichtung und Abwägung der nach dem Zweck der Ermächtigung maßgeblichen Gesichtspunkte sprechen im vorliegenden Fall gegen die (weitere) Verfolgung der Ordnungswidrigkeit.

Seitens des Gerichts bestehen vorliegend Zweifel an der Verpflichtung des Betroffenen zum Tragen eines Sicherheitsgurtes. So ergibt sich bereits aus den §§ 35a Abs. 6 StVZO, 21a StVO, dass in den in § 35a Abs. 6 StVZO aufgeführten Kraftomnibussen keine Gurtpflicht besteht. Ob der verfahrensgegenständliche Bus dieser Norm unterfällt, ist derzeit nicht ausreichend klar. Hierzu wären weitere Ermittlungen erforderlich, die angesichts des Vorwurfs unverhältnismäßig erscheinen. Zudem dürfte sich aus § 21a Abs. 1 Nr. 4 StVO eine weitere Ausnahme von der Gurt-pflicht auch für den Busfahrer und nicht nur für die Fahrgäste ergeben. Der Wortlaut der Norm, der keinerlei Unterscheidung zwischen Fahrgästen und Fahrer trifft, sondern nur allgemein auf „Fahrten in Kraftomnibussen“ abstellt, bildet insoweit die Grenze der Auslegung. Sämtliche Aus-nahmen des § 21a Abs. 1 Nr. 1 – 6 StVO verdeutlichen, dass – entgegen der Auffassung der Bußgeldbehörde – allein die Ausstattung eines Fahrzeuges mit Sicherheitsgurten nicht immer zu einer entsprechenden Gurtpflicht führen muss.“

OWi II: Verwerfungsurteil und Entbindungsantrag, oder: Entschuldigungsgründe alle gesehen und Ermessen?

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Was wäre ein OWi-Tag ohne zumindest eine Entscheidung zur Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen wegen unentschuldigten Ausbleibens im Hauptverhandlungstermin? Nun, hier gibt es heute dann sogar zwei.

Zunächts kommt der OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.06.2024 – 2 ORbs 91/24. Es geht mal wieder um die ausreichende Begründung des Urteils, mit dem der Einspruch des Betroffenen wegen unentschuldigten Ausbleibens im Hauptverhandlungstermin verworfen worden ist. Das OLG „rückt“ die GStA ein. Die hatte ausgeführt:

„Die Verfahrensrüge des Betroffenen, mit der er die Verletzung rechtlichen Gehörs rügt, genügt noch den Anforderungen der §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Danach muss in einer Verfahrensrüge der Tatsachenvortrag so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Rechtsbeschwerdebegründung prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das Vorbringen des Betroffenen zutrifft (Göhler/Bauer, OWiG, 19. Aufl., § 79 Rn. 27d). Wird die Versagung rechtlichen Gehörs gerügt, muss in der Begründungsschrift durch entsprechenden Tatsachenvortrag schlüssig dargelegt werden, dass ein Verstoß gegen Art 103 Abs. 1 des GG vorliegt. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gibt einen Anspruch darauf, sich zu allen entscheidungserheblichen und den Betroffenen benachteiligenden Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (OLG Köln NZV 1999, 264 m. w. N.).

Bleibt der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung der Hauptverhandlung fern und wird daraufhin der Einspruch des Betroffenen durch Urteil gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, so kann die Einspruchsverwerfung sein Recht auf rechtliches Gehör insbesondere dann verletzen, wenn rechtzeitig vorgebrachte und hinreichende Entschuldigungsgründe von dem erkennenden Gericht nicht berücksichtigt worden sind (Seitz/Bauer in Göhler a.a.O. § 80 Rdnr. 16b).

Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist mit dem Vortrag, das Verwerfungsurteil sei rechtsfehlerhaft ergangen, weil das Amtsgericht einen Terminverlegungsantrag zu Unrecht abgelehnt habe, zulässig ausgeführt. Einer Darlegung, was der Betroffene zur Sache vorgetragen hätte, bedarf es nicht, wenn – wie hier – gerügt wird, das Amtsgericht habe Entschuldigungsvorbringen nicht berücksichtigt (Göhler/Bauer, a.a.O. § 80 Rdnr. 16 c). Ebenso brauchen die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts nicht wiederholt zu werden (OLG Hamm, Beschluss vom 06.07.2004 – 3 Ss OWi 401/04, juris), weil die Verfahrensweise des Amtsgerichts den Anspruch auf rechtliches Gehör des Betroffenen verletzt.

Eine Entscheidung gem. § 74 Abs. 2 OWiG wird auf die Rechtsbeschwerde nur daraufhin überprüft, ob der rechtzeitig erhobene Einspruch zu Recht als unbegründet verworfen wurde, weil der Betroffene trotz nachgewiesener Ladung ohne genügende Entschuldigung und mangels Entbindung von der Verpflichtung zum Termin zu erscheinen, zum Hauptverhandlungstermin nicht erschienen ist.

Die Beurteilung, ob das Ausbleiben eines Betroffenen genügend entschuldigt ist, obliegt dem Tatrichter. Das Rechtsbeschwerdegericht kann lediglich überprüfen, ob der Tatrichter die Entschuldigungsgründe, die im Zeitpunkt des Urteilserlasses in Betracht kamen, überhaupt einer sachlichen Prüfung unterzogen und ob er dabei den Rechtsbegriff der nicht genügenden Entschuldigung richtig angewandt hat. Um diese Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht zu ermöglichen, ist eine Auseinandersetzung mit den in Betracht kommenden Entschuldigungsgründen in den Gründen des Verwerfungsurteils erforderlich (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2004- 1 Ss 65/04 -, juris). In welchem Umfang sie geboten sind, richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles, wobei die Anforderungen an die Gründe eines Urteils in Bußgeldsachen nicht überspannt werden dürfen. Es ist zu berücksichtigen, dass diese Verfahren nicht der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern der verwaltungsrechtlichen Pflichtenmahnung dienen. Im Hinblick auf seine vorrangige Bedeutung für die Massenverfahren des täglichen Lebens ist das nach§ 74 Abs. 2 OWiG ergehende Prozessurteil auf eine Vereinfachung des Verfahrens ausgerichtet. Soweit konkrete Entschuldigungsgründe nicht erkennbar sind, genügt deshalb die formularmäßige Wiedergabe des Wortlautes der Vorschrift unter Mitteilung der konkreten Zustelldaten.

Um einen solchen einfach gelagerten Fall handelt es sich hier indes nicht. Es erfolgte im Vorfeld der Hauptverhandlung ein Schriftwechsel zwischen Gericht und Verteidigung in Bezug auf den anberaumten Hauptverhandlungstermin. Die Verteidigung stellte einen Terminverlegungsantrag, den das Gericht auch beschied. Dies hätte dem Gericht Veranlassung sein müssen, sich in den Gründen des Verwerfungsurteils mit allen etwaigen Entschuldigungsgründen auseinander zu setzen. Tatsächlich befasst sich das Urteil jedoch mit den in Betracht kommenden Entschuldigungsgründen nur zum Teil. So kann den Urteilsgründen zwar noch eine Auseinandersetzung mit einer etwaigen Verhinderung des neuen Wahlverteidigers des Betroffenen entnommen werden. Zu dem weiteren Vortrag in dem Verlegungsantrag, den Hauptverhandlungstermin zu verlegen, weil der neue Verteidiger noch Akteneinsicht benötige, verhalten sich die Urteilsgründe aber nicht. Dies war indes geboten, weil die faktische Verweigerung der nachgesuchten Akteneinsicht durchaus als genügender Entschuldigungsgrund i. S. d. § 74 Abs. 2 OWiG in Betracht kommt (vgl. BayObLG NJW 1990, 3222; 1991, 1070 f).

Es liegen auch keine Umstände vor, die einen offensichtlichen zwingenden Versagungsgrund für die Akteneinsicht darstellen, sodass sich die Nichtgewährung von selbst verstünde und deshalb ausnahmsweise keiner Begründung im Urteil bedürfte. So stand der Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt der Anträge eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers noch nicht vorlag (vgl. KK-Willnow, StPO, 9. Auflage, § 147 Rdn. 3). Sollte das Amtsgericht Zweifel an der Bevollmächtigung des Verteidigers gehegt haben, so hätte es unverzüglich hierauf hinweisen müssen (vgl. Thüringer Oberlandesgericht a. a. O.).“

Und dann hier noch der OLG Hamm, Beschl. v. 30.04.2024 – III – 5 ORbs 80/24 – zur Behandlung des Entbindungsantrags des Betroffenen. Dazu hatte ich aber nun schon so viel Entscheidungen, dass der Leitsatz reicht:

Das AG muss einem Entbindungsantrag des Betroffenen nach § 73 Abs. 2 OWiG stattgeben, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag ist dabei nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt.

Die OLG beten den AG die behandelten Fragen immer wieder vor. Sollte man als AG kennen/beachten. Kann doch nicht so schwer sein, oder?