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BVerfG I: Versäumung der Verfassungsbeschwerdefrist, oder: Wiedereinsetzung durch Auslegung?

Und zum Auftakt der neuen Woche dann zwei Entscheidungen vom BVerfG. Zunächst hier der BVerfG, Beschl. v. 15.02.2023 – 1 BvR 2349/22, der noch einmal zur Frist bei der Verfassungsbeschwerde und zur Wiedereinsetzung Stellung nimmt.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine familiengerichtliche OLG-Entscheidung betreffend einen Versorgungsausgleich.  Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist/war:

„Die Verfassungsbeschwerde wahrt nicht die Frist zur Einlegung und Begründung aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG (1). Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) ist weder ausdrücklich noch konkludent gestellt. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen (§ 93 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG) liegen nicht vor (2).

1. Die Beschwerdeführerin hat es versäumt, die Verfassungsbeschwerde innerhalb der Frist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG einzulegen und sie in der durch § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG geforderten Weise zu begründen.

a) Für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 1 Satz 1 BVerfGG erforderlich, dass diese innerhalb eines Monats ab Zustellung der angegriffenen Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht eingelegt wird. Hierzu gehört auch die Vorlage aller für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde notwendigen Anlagen, insbesondere der angegriffenen Entscheidungen und aller sonstigen wichtigen Dokumente (vgl. BVerfGE 93, 266 <288>; 129, 269 <278> m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2019 – 1 BvR 1789/19 -, Rn. 3). Ein Nachreichen von Unterlagen nach Ablauf der Monatsfrist ist, vorbehaltlich einer Wiedereinsetzung, grundsätzlich nicht möglich (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juni 2017 – 1 BvR 1877/15 -, Rn. 9 und vom 18. Januar 2022 – 1 BvR 2318/21 -, Rn. 6).

b) Dem genügt die Verfassungsbeschwerde nicht. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts wurde der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin eigenen Angaben zufolge am 28. Oktober 2022 zugestellt. Am Tag des Fristablaufs, dem 28. November 2022, ging die per Fax übermittelte Verfassungsbeschwerde jedoch nur in Teilen und ohne darin in Bezug genommene Anlagen ein. So wurden lediglich fünf der elf Seiten umfassenden Verfassungsbeschwerde übersandt sowie die drei zwischen den Eheleuten geschlossenen Eheverträge. Die übrigen sechs Seiten der Verfassungsbeschwerdeschrift und insbesondere der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts wurden an diesem Tag jedoch nicht mit übersandt. Die Verfassungsbeschwerde gibt dessen wesentlichen Inhalt auch nicht wieder. Erst auf Hinweis des Allgemeinen Registers vom 6. Dezember 2022 folgten am 21. Dezember 2022 die gesamte Begründungsschrift vom 20. Dezember 2022 sowie die der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden fachgerichtlichen Entscheidungen.

c) Es lässt sich auch nicht zugunsten der Beschwerdeführerin annehmen, dass der vollständige Beschwerdeschriftsatz bis zum Ablauf der Begründungsfrist zusammen mit allen für eine verfassungsrechtliche Prüfung des Beschwerdevorbringens unverzichtbaren Unterlagen tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts gelangt ist. Dafür würde zwar ausreichen, dass ein Zugang auf dem Telefaxempfangsgerät des Bundesverfassungsgerichts erfolgt ist (vgl. Hömig, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93 Rn. 44 m.w.N. <Jan. 2022>).

Von einem vollständigen Zugang der Verfassungsbeschwerde einschließlich der für die Entscheidung darüber erforderlichen Unterlagen kann aber nicht ausgegangen werden. Soweit die Verfahrensbevollmächtigte mit ihrem Schreiben vom 20. Dezember 2022 mit dem Hinweis, Faxübersendungen ihrerseits würden als sogenannte Digi-Faxe erfolgen, bei denen es nicht möglich sei, lediglich Teile zu übersenden, sondern stets der insgesamt eingescannte Schriftsatz als PDF übermittelt werde, einen solchen Zugang behaupten wollte, deckt sich dies nicht mit den feststellbaren tatsächlichen Umständen. So weisen bereits die Begleitschreiben der Faxübermittlungen vom 28. November 2022 ausdrücklich aus, dass die Verfassungsbeschwerde in zwei Teilen sowie die Anlagen gesondert (nämlich einmal Anlagen 1 bis 3 sowie einmal Anlage 7) übersandt werden sollten. Bereits das spricht gegen eine einheitliche und vollständige Übersendung der gesamten Verfassungsbeschwerdeschrift einschließlich sämtlicher dort bezeichneter Anlagen. Zudem weisen drei der per Fax übersandten Begleitschreiben (diejenigen, mit denen die Anlagen 1 bis 3, Anlage 7 sowie der Teil 2 der Verfassungsbeschwerde gesendet wurden) jeweils die Meldung „DISCARDED application/pdf goes here (Attachement too big)“ auf. Das spricht gegen eine vollständige Übersendung und damit gegen einen entsprechenden Zugang bei dem Bundesverfassungsgericht.

2. Eine Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 2 BVerfGG) kommt nicht in Betracht.

a) aa) Für eine Wiedereinsetzung nach § 93 2 Satz 2 BVerfGG bedarf es eines begründeten Wiedereinsetzungsantrags, in dem das Vorliegen des Wiedereinsetzungsgrundes und die Rechtzeitigkeit des Wiedereinsetzungsantrags substantiiert dargelegt werden. Darüber hinaus muss der Beschwerdeführer die versäumte Rechtshandlung nachholen. Ein ausdrücklicher Wiedereinsetzungsantrag ist nicht erforderlich; es genügt, wenn sich das Wiedereinsetzungsbegehren konkludent aus dem Vortrag des Beschwerdeführers durch Auslegung entnehmen lässt. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Beschwerdeführer in Kenntnis der Fristversäumung bei der Nachholung der Erhebung und/oder Begründung der Verfassungsbeschwerde umfassend auf die Fristversäumung und die eine Wiedereinsetzung rechtfertigenden Umstände eingeht (vgl. Hömig, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93 Rn. 62 m.w.N. <Jan. 2022>; Peters, in: Barzcak, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, § 93 Rn. 104 <2018>).bb) Das Schreiben der Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin vom 20. Dezember 2022 enthält weder einen ausdrücklichen Wiedereinsetzungsantrag noch kann es als solcher ausgelegt werden. Es heißt dort:

„Wir bedauern, dass eine vollständige Übermittlung zum Zeitpunkt des Einreichens nicht zustande kam. Diesseits werden Faxe als sogenanntes Digi-Fax übermittelt, d.h. es ist uns nicht möglich, nur Teile zu übersenden, sondern es wird der insgesamt eingescannte Schriftsatz als PDF übermittelt.“

Abgesehen davon, dass diese Erklärung so nicht zutreffen dürfte (dazu Rn. 12), fehlt es an jeglicher Glaubhaftmachung des Wiedereinsetzungsgrundes, nämlich der schuldlosen Fristversäumnis. Dem Schreiben lässt sich nicht einmal entnehmen, dass die Verfahrensbevollmächtigte trotz des zutreffenden Hinweises des Allgemeinen Registers vom 6. Dezembers 2022 auf die Säumnis von einer solchen ausgegangen ist.

b) Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nach § 93 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG liegen nicht vor.

aa) Diese ist zu gewähren, wenn außer dem Antrag alle übrigen Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen. Von der Obliegenheit, innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist die für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand relevanten Tatsachen vorzutragen und sie – dies gegebenenfalls auch noch nachträglich nach Ablauf der Frist – glaubhaft zu machen, entbindet § 93 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG nicht. Darüber hinaus kommt eine Wiedereinsetzung von Amts wegen nur in Betracht, wenn die Schuldlosigkeit des Beschwerdeführers an der Nichtwahrung der Monatsfrist jedenfalls überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 1999 – 2 BvR 299/94 -, Rn. 6).

bb) Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

(1) Hier fehlt es bereits an einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Nachholung der versäumten Prozesshandlung nach § 93 Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 1 BVerfGG binnen der Zwei-Wochen-Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG. Die am 21. Dezember 2022 auf dem Postweg eingegangene Verfassungsbeschwerde genügt nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Anforderungen. Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde – wie hier – gegen gerichtliche Entscheidungen, so zählt zu den Anforderungen an die hinreichende Begründung auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis die Berechtigung der geltend gemachten Rügen sich nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach, da das Bundesverfassungsgericht nur so in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 112, 304 <314 f.>; 129, 269 <278>). Vorliegend hat es die Beschwerdeführerin versäumt, den Schriftverkehr mit den Fachgerichten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht vorzulegen. Die Kenntnis dieser Unterlagen ist für die verfassungsrechtliche Überprüfung der angegriffenen Entscheidung unerlässlich, weil sich das Oberlandesgericht in seiner Begründung maßgeblich auf die Aussagen der Beschwerdeführerin und ihres früheren Ehemannes in ihren Schriftsätzen und in der Anhörung vom 4. Oktober 2022 stützt. Mangels Vorlage oder hinreichend präziser Wiedergabe der Dokumente lässt sich nicht nachvollziehen, ob die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 21. Oktober 2022 den aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG folgenden Anforderungen gerecht wird. Die Möglichkeit einer Verletzung der Beschwerdeführerin in Grundrechten liegt auf der Grundlage der übersandten Unterlagen auch nicht derart auf der Hand (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2019 – 1 BvR 2214/19 -, Rn. 13 m.w.N.), dass auf die weiteren Unterlagen verzichtet werden könnte.

(2) Vor allem aber ist es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin, die sich das Verhalten ihrer Verfahrensbevollmächtigten zurechnen lassen muss (§ 93 Abs. 2 Satz 6 BVerfGG), schuldlos die Einhaltung der Einlegungs- und Begründungsfrist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG versäumt hat.

(a) Die Verfahrensbevollmächtigte hat aufgrund des ihr erteilten Auftrags, eigenverantwortlich Verfassungsbeschwerde einzulegen, alles ihr Zumutbare zu tun und zu veranlassen, damit die Einlegungsfrist und die sonstigen Anforderungen an die Erhebung der Verfassungsbeschwerde gewahrt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 1999 – 2 BvR 299/94 -, Rn. 8). Die Bevollmächtigte hat eigenständig die Beschwerdefrist zu ermitteln und dafür zu sorgen, dass die Verfassungsbeschwerde rechtzeitig zur Wahrung der Beschwerdefrist an das Bundesverfassungsgericht übermittelt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2001 – 2 BvR 128/00 -, Rn. 5). Bei Übermittlung der Verfassungsbeschwerde per Telefax umfassen die Sorgfaltspflichten die Überprüfung der ordnungsgemäßen und vollständigen Versendung des Telefaxes anhand des ausgedruckten Sendeprotokolls des Faxgerätes (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2007 – 1 BvR 756/07 -, Rn. 3). Wird eine solche End- und Ausgangskontrolle anhand des Sendeprotokolls unterlassen und damit die fehlerhafte Übertragung übersehen, liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung vor, weil die mögliche Wiederholung der Übermittlung vereitelt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Oktober 2008 – 1 BvR 2147/08 -, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Oktober 2021 – 1 BvR 838/19 -, Rn. 5).

(b) Diesen Sorgfaltsanforderungen ist die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin nicht gerecht geworden. Ausweislich der jeweils letzten Seiten der verschiedenen Anschreiben bei der Übermittlung der Verfassungsbeschwerde am 28. November 2022 bekam die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin dreimal eine Fehlermeldung, dass die vollständige Übersendung gescheitert ist (näher Rn. 12). Auch ergibt sich aus dem Sendungsbericht des Faxgeräts in der Kopfzeile der Dokumente, dass jeweils nur die vier Seiten des Anschreibens versendet wurden. Die Verfahrensbevollmächtigte hätte im Hinblick auf diese Fehlermeldungen bei sorgfaltsgemäßem Verhalten – möglicherweise nach telefonischer Nachfrage, ob tatsächlich und, wenn ja, welche Teile genau fehlen – einen neuen Übermittlungsversuch per Fax starten müssen. Eine solche Ausgangskontrolle hat – obwohl erforderlich – offenbar nicht stattgefunden. Da sich auch aus dem Schreiben vom 20. Dezember 2022 keinerlei Anhaltspunkte ergeben, die auf eine unverschuldete Fristversäumnis schließen ließen, kann vorliegend nicht von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines fehlenden Verschuldens ausgegangen werden.“

Gefährdungshaftung bei „passiver“ Unfallbeteiligung?, oder: Zweitanstoß im Verlauf eines Schleudervorgangs

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Und als zweite Entscheidung dann das OLG Celle, Urt. v.  10.05.2023 – 14 U 56/21 – zur Gefährdungshaftung von „passiv“ unfallbeteiligten Fahrzeugen.

Der Kläger verlangt in dem Verfahren von der Beklagten die Feststellung der Haftung für einen Verkehrsunfall, der sich am 11.08.2018 auf einer BAB ereignet hate. Der Kläger, ein zum Unfallzeitpunkt gesunder zehnjähriger Junge, saß angeschnallt im Fahrzeug seiner Mutter, die als Halterin ihr Fahrzeug VW Golf  zum Unfallzeitpunkt steuerte, auf einem Kindersitz im linken Bereich der Fahrzeugrückbank. Vor dem klägerischen Fahrzeug fuhr der Beteiligte E. mit seinem Fahrzeug welches bei der Beklagten haftpflichtversichert ist. Beide Fahrzeuge befuhren die rechten Fahrspur und verlangsamten ihre Fahrt, als sich vor ihnen ein Stau aufbaute.

Von hinten kommend auf der Überholspur näherte sich das Fahrzeug Dodge Ram 1500 der Beteiligten B. . Die Beteiligte B., bei der nach dem Unfall eine erhebliche Alkoholisierung festgestellt worden war (AAK von 1,1 Promille), wechselte aus ungeklärtem Grund von der Überholspur mit ca. 120 km/h nach rechts und prallte ungebremst auf das klägerische Fahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls wurde dieses in das vor ihm fahrende Fahrzeug des Beteiligten E. geschleudert. Das Beklagtenfahrzeug wurde seinerseits ebenfalls gegen das voranfahrende Fahrzeug der Beteiligten K. geschoben. Insgesamt waren vier Fahrzeuge an dem Unfall beteiligt.

Durch den Unfall erlitt der Kläger schwere, lebensgefährliche Verletzungen.

Die klägerische Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung und diejenige der Beteiligten B. erklärten eine gesamtschuldnerische Haftung für die Schäden des Klägers. Mit seiner Klage begehrt der Kläger eine gleichlautende Erklärung von der Beklagten, die dies ablehnt. Die Parteien streiten darum, ob der zweite Aufprall des klägerischen Fahrzeugs auf das Beklagtenfahrzeug zu weiteren Verletzungen beim Kläger geführt hat und ob somit auch die Beklagte für die Unfallfolgen des Klägers einstandspflichtig ist.

Das LG hat die Klage ohne Beweisaufnahme abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Unfall sei für den Beteiligten E. ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG gewesen. Das Fahrzeug sei bei einer wertenden Betrachtung nicht gem. § 7 StVG „bei Betrieb“ gewesen. Allein die Tatsache, dass es ein Hindernis gebildet habe, reiche nicht aus, um eine Gefährdungshaftung anzunehmen. Weder seine Fahrweise noch sein Betriebsvorgang hätten das Unfallgeschehen geprägt.

Dagegen die Berufung des Klägers, die in der Sache überwiegend begründet war:

„Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung gem. § 256 Abs. 1 ZPO, dass die Beklagte als Gesamtschuldnerin neben den im Antrag genannten Gesamtschuldnern für alle Folgen aus dem Verkehrsunfall vom 11. August 2018 gem. § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 421 BGB haftet.

a) Gem. 7 Abs. 1 StVG ist der Halter zum Schadensersatz verpflichtet, wenn bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs ein Mensch verletzt wird. Gem. § 7 Abs. 2 StVG ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wird.

aa) Die Ersatzpflicht der Beklagten ist nicht durch höhere Gewalt ausgeschlossen. Gem. 7 Abs. 2 StVG beruht auf höherer Gewalt ein außergewöhnliches, betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter (betriebsfremder) Personen herbeigeführtes und nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbares Ereignis, das mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch nach den Umständen äußerste, vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und das auch nicht im Hinblick auf seine Häufigkeit in Kauf genommen zu werden braucht (vgl. Hentschel, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 7 StVG, Rn. 32; Filthaut, Haftpflichtgesetz, 6. Aufl., § 1 Rn. 158; Steffen, DAR 1998, 135; jeweils mwN).

Zusammengefasst muss es sich um eine Einwirkung von außen handeln, die außergewöhnlich und nicht abwendbar ist. Alle drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, wenn höhere Gewalt vorliegen soll (vgl. Senat, Urteil vom 12. Mai 2005 – 14 U 231/04, Rn. 13, juris).

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Es fehlt bereits an einer von außen kommenden, mithin an einer betriebsfremden Einwirkung auf das Fahrzeug der Beklagten. Zwar kann eine solche Einwirkung grundsätzlich nicht nur in einem Naturereignis, sondern auch in einem menschlichen Verhalten bestehen. Hierunter fallen aber insbesondere vorsätzliche Eingriffe dritter Personen in den Verkehr, z. B. in Selbsttötungsabsicht, durch Sabotageakte oder durch absichtliches Stoßen eines Unbeteiligten vor ein Fahrzeug (vgl. Senat, Urteil vom 12. Mai 2005 – 14 U 231/04, Rn. 14f., juris).

Weder bei der Kollision zwischen der Beteiligten B. und dem klägerischen Fahrzeug noch bei der darauffolgenden Kollision zwischen dem Beklagten- und dem Klägerfahrzeug hat es sich um vorsätzliches Dazwischentreten eines Dritten gehandelt, der den Zurechnungszusammenhang zum Beklagtenfahrzeug unterbrechen könnte. Vielmehr hat sich ein typisches Risiko verwirklicht, das auf Autobahnen aufgrund der dort gefahrenen Geschwindigkeiten besteht.

Überdies stellt auch das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer keine höhere Gewalt dar. Auch grobe Regelverstöße sind bereits wegen ihrer Häufigkeit nicht geeignet, einen Haftungsausschluss zu begründen (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 1966 – VI ZR 280/64, Rn. 13, juris).

Auf die noch vom Landgericht thematisierte Frage, dass der Unfall vom Beteiligten E. nicht hätte verhindert werden können, kommt es nicht an, weil es bereits an den beiden ersten Begriffsmerkmalen der höheren Gewalt fehlt. Nach der Änderung des § 7 Abs. 2 StVG durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) begründet eine mögliche Unvermeidbarkeit des Unfalls für sich allein keinen Haftungsausschluss zugunsten des Fahrzeughalters mehr.

bb) Die Verletzungen des Klägers sind bei dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs entstanden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteil vom 26. März 2019 – VI ZR 236/18, Rn. 8; Urteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, juris) ist das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen (vgl. die ähnliche Auslegung der „Verwendung eines Fahrzeugs“ im EU-Recht, vgl. EuGH, Urteil vom 20. Juni 2019 – C-100/18, VersR 2019, 1008). Denn die Haftung nach 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird. Die Vorschrift will alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist (vgl. BGH, Urteile vom 24. März 2015 – VI ZR 265/14, Rn. 5; vom 21. Januar 2014 – VI ZR 253/13, Rn. 5; vom 31. Januar 2012 – VI ZR 43/11, Rn. 17; Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19, Rn. 42, alle zitiert nach juris). Erforderlich ist aber, dass die Fahrweise oder der Betrieb des Kraftfahrzeugs zu dem Unfallgeschehen beigetragen hat (BGH, Urteil vom 21. September 2010 – VI ZR 263/09, Rn. 3, juris).

cc) Die Grenzen einer Haftung aus 7 StVG ergeben sich ebenfalls aus dem Schutzzweck der Vorschrift (BGHZ 79, 259, 263). Die Haftung wird nicht schon durch jede Verursachung eines Schadens begründet, der im weitesten Sinne im Zusammenhang mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges ausgelöst worden ist. Eine Haftung tritt vielmehr erst dann ein, wenn das Schadensereignis dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges nach dem Schutzzweck der Gefährdungshaftung auch zugerechnet werden kann.

Gemessen daran befand sich das Fahrzeug des Beteiligten E. im Betrieb als es mit dem klägerischen Fahrzeug kollidierte. Es diente seiner Fortbewegungs- und Transportfunktion als Verkehrsmittel als sich der Unfall ereignete. Es hat insofern im Sinne einer Mitursächlichkeit durch seinen Betrieb („fahren“) zu dem Unfallgeschehen beigetragen. Im Sinne einer conditio sine qua non könnte das fahrende Beklagtenfahrzeugs auf der BAB 20 nicht weggedacht werden, ohne dass der Unfall passiert wäre.

Soweit die Beklagte meint, der Unfall habe nichts mit der spezifischen Gefährdung eines Fahrzeuges zu tun, weswegen es nicht mehr in den Bereich der Gefahren falle, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden sei, folgt der Senat dem nicht.

Die Gefährdungshaftung des § 7 StVG zielt gerade darauf ab, das Gefahrenpotential zu erfassen, das entsteht, wenn sich Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr bewegen. Geradezu typische risikoreiche Situationen entstehen auf Autobahnen, auf denen viele Verkehrsteilnehmer ihre Fahrzeuge mit hohen Geschwindigkeiten fahren. Entsteht sodann – wie hier – am Ende eines plötzlich aufgebauten Staus ein Auffahrunfall, hat sich genau das Risiko verwirklicht, für das § 7 StVG mit der Gefährdungshaftung erlassen wurde. Es geht bei § 7 StVG nicht um den Ausgleich von Verhaltensunrecht, sondern um eine erfolgsbezogene Haftung (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1992 – VI ZR 62/91, Rn. 10, juris; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 7 StVG, Rn. 1 mwN).

Erst wenn sich in einem Schadensfall ein Risiko verwirklicht, das aus einem eigenständigen Gefahrenkreis stammt, wird dieser nicht mehr vom Schutzzweck der Norm des § 7 StVG erfasst. Der Bundesgerichtshof geht dabei von einer weiten wertenden Betrachtung aus, die typische Gefahrenquellen des Straßenverkehrs erfassen soll (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19; Urteil vom 7. Februar 2023 – VI ZR 87/22, beide juris, zur Anhängerhaftung).

(a) Ein eigenständiger neuer Gefahrenkreis, der geeignet gewesen wäre, die Gefährdungshaftung entfallen zu lassen (vgl. BGH, Urteil vom 2. Juli 1991 – VI ZR 6/91, juris [Schweinemast]; Senat, Urteil vom 18. November 2020 – 14 U 84/20, nachgehend BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2021 – VI ZR 1339/20, Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen [Laternenmast]) oder eine Selbstgefährdung (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 1990 – VI ZR 33/90, juris, Herausforderungsfall), liegen nicht vor, wie ausgeführt.

(b) Soweit die Beklagte meint, der vorliegende Unfall sei mit der Konstellation eines sog. berührungslosen Unfalls vergleichbar, folgt der Senat dem ebenfalls nicht.

Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis ist, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat (vgl. st. Rspr. BGH, Urteil vom 22. November 2016 – VI ZR 533/15, Rn. 14 mwN, juris).

Dies ist vorliegend der Fall. Das Beklagtenfahrzeug war unmittelbar an einem Unfall beteiligt, es handelte sich nicht um einen berührungslosen Unfall oder eine vergleichbare Konstellation. Das Risiko der Gefahrenquelle hat sich – im Gegenteil – realisiert.

dd) Der Unfall stand ferner in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeuges steht (BGH, Urteil vom 24. März 2015 – VI ZR 265/14, Rn. 5 mwN, juris). Auch dies war der Fall (s.o.).

ee) Die Verletzungen des Klägers sind kausal auf das Unfallereignis mit dem Beklagtenfahrzeug zurückzuführen…..“

Zur Haftungsverteilung nach einem Rotlichtverstoß, oder: Betriebsgefahr tritt zurück

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Im „Kessel Buntes“ heute seit längerem mal wieder zwei Entscheidungen zur Haftung bei/nach Verkehrsunfällen.

Zunächst stelle ich das OLG Saarbrücken, Urt. v. 21.04.2023 – 3 U 11/23 – vor. Der Kläger macht in dem Verfahren gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 6.11.2019 in Saarbrücken ereignet hat. Der Kläger befuhr mit seinem eine Straße, auf der baustellenbedingt die rechte der beiden Fahrspuren gesperrt und eine Behelfsampel eingerichtet war, die der Kläger bei Rotlicht überfuhr. In der Folge kam es zur Kollision mit dem Pkw der (Erstbeklagte), als diese bei für sie angezeigtem Grünlicht aus der Ausfahrt eines Parkhauses auf die Straße einfuhr.

Das LG ist von einer Haftung der Klägers zu 75 % ausgegangen. Dagegen richten sich die Berufungen der Parteien. Die der Beklagten hatte Erfolg:

„2. Die hiernach gebotene Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 Abs. 1, 2 StVG ist aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Dabei ist in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben, wobei ein Faktor bei der Abwägung das beiderseitige Verschulden ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2022 – VI ZR 344/21 –, Rn. 11, juris). Anders als das Landgericht angenommen hat, hat der Kläger danach für die Unfallfolgen alleine einzustehen.

a) Ohne Erfolg wendet sich die Zweitberufung dagegen, dass das Landgericht auf Klägerseite einen Verstoß gegen § 8 Abs.2 StVO i.V.m. 37 Abs. 1 StVO berücksichtigt hat.

Soweit der Kläger geltend macht, sein Rotlichtverstoß sei nicht kausal für den Unfall geworden, da die Ampel auch der Einfahrt in das Parkhaus diene und die Parkhausausfahrt als weiter entfernt liegende Einmündung nicht mehr dem unmittelbaren Schutzbereich des Rotlichts unterfalle, vermag sich der Senat dieser Auffassung nicht anzuschließen. Zwar regelt jede Lichtzeichenanlage nur die Kreuzung oder Einmündung, an der sie angebracht ist (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, StVO, 47. Aufl. 2023, § 37 Rn. 8 m.w.N.); die Entscheidung über den durch das Rotlicht geschützten Bereich ist aber stets einzelfallabhängig anhand der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten zu treffen (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 7. November 2002 – Ss (OWi) 508/02 –, Rn. 8, juris; Wern in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 37 StVO (Stand: 01.12.2021), Rn. 19; NK-GVR/Felix Koehl, 3. Aufl. 2021, StVO § 37 Rn. 13). Danach war hier zweifelsfrei auch die Parkhausausfahrt durch das Rotlicht geschützt. Denn die Behelfsampel ersetzte während der Bauarbeiten die ansonsten an der Unfallstelle vorhandene Lichtzeichenanlage und erfüllte – was auch der Kläger nicht in Abrede stellt – deren Funktionen. Die üblicherweise vorhandene Lichtzeichenanlage – die sich, anders als die Zweitberufung meint, in Bezug auf die Behelfsampel nicht 14 Meter weiter entfernt, sondern näher an der Parkhausausfahrt befindet – regelt den jeweiligen Vorrang zwischen dem Verkehr auf der Kaiserstraße einschließlich der dort verkehrenden Saarbahn sowie den aus dem Parkhaus auf die Kaiserstraße einfahrenden Verkehrsteilnehmern und dient daher gerade dem Schutz des aus der Parkhausausfahrt auf die Kaiserstraße einmündenden Verkehrs. Dass es nach den Feststellungen des Sachverständigen M. erst rund 31 Meter hinter der Behelfsampel zur Kollision kam, stellt die Unfallursächlichkeit des Rotlichtverstoßes des Klägers damit nicht infrage, weil diese sich im insofern maßgeblichen, unmittelbaren Einmündungsbereich der Parkhausausfahrt ereignet hat.

b) Das Landgericht hat auf Klägerseite ferner einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO in die Abwägung mit einbezogen, da der Kläger auf das herannahende Beklagtenfahrzeug nicht reagiert hatte, obschon sich dieses bereits ab der Ausfahrt aus dem Parkhaus in seinem Blickfeld befand und er mit dessen Einfahren auf die Kaiserstraße rechnen musste. Auch dies begegnet keinen Bedenken und wird von der Zweitberufung nicht angegriffen.

c) Auf Beklagtenseite ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Sorgfaltspflichten der Erstbeklagten nicht nach § 10 StVO richteten. Denn das Grünlicht der für die Erstbeklagte geltenden Lichtzeichenanlage gemäß § 37 Satz 1 StVO geht den Vorrangregeln des § 10 Satz 1 StVO vor (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, StVO § 37 Rn. 5). Gleiches gilt in Bezug auf das an der Ausfahrt vor dem Übergang zu den Saarbahngleisen angebrachten, den Vorrang regelnden Verkehrszeichen 205 („Vorfahrt gewähren“).

d) Die Erstbeklagte brauchte bei für sie angezeigtem Grünlicht grundsätzlich auch nicht damit zu rechnen, dass Querverkehr unter Missachtung des für ihn geltenden Rotlichts von der Seite her in den Einmündungs-/Kreuzungsbereich einfährt (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 1991 – VI ZR 98/91 –, Rn. 13, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Februar 2018 – 1 U 112/17 –, Rn. 51, juris). Da auch sonst keine Umstände ersichtlich sind, die aus Sicht der Erstbeklagten Vorsicht geboten, spricht manches dafür, dass die Erstbeklagte – anders als dies das Landgericht angenommen hat – trotz der baustellenbedingten Verlagerung der Lichtzeichenanlage nicht gehalten war, sich gleichwohl nach von rechts kommenden Verkehrsteilnehmern zu vergewissern.

Letztlich kann dies dahinstehen. Denn ein etwaiges Mitverschulden der Erstbeklagten wöge gering und träte vollständig hinter das vergleichsweise schwere Verschulden des Klägers zurück. Bereits das Nichtbeachten des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage ist wegen der damit verbundenen erheblichen Gefahren in aller Regel als objektiv grob fahrlässig anzusehen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 2014 – VI ZR 452/13 –, Rn. 18, juris; Wern in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 37 StVO (Stand: 01.12.2021), Rn. 74). So liegt es auch hier. Soweit der Kläger geltend macht, die rote Ampel sei baustellenbedingt nur schwer erkennbar gewesen, vermag der Senat dem in Ansehung der Aussage des Zeugen G. nicht beizutreten. Dieser hatte in seiner Vernehmung geäußert, er sei verwundert darüber gewesen, dass der Kläger die rote Ampel übersehen konnte. Auch das von dem Kläger eingereichte Lichtbild (Bl. 39 GA) zeigt nicht auf, dass die Ampel für einen Verkehrsteilnehmer schwer erkennbar gewesen wäre. Dem steht auch nicht entgegen, dass das nebenliegende Gebäude großflächig mit einem roten Schutznetz abgedeckt war. Der Blick auf die gesondert aufgestellte Ampel war damit gerade nicht beeinträchtigt.

Hinzu tritt hier ferner, dass der Kläger im weiteren Verlauf auf das einfahrende Beklagtenfahrzeug nicht reagierte, obschon sich der Einfahrvorgang der Erstbeklagten in seinem frontalen Gesichtsfeld abspielte, und – wie das Sachverständigengutachten ergeben hat – in das seitlich vor ihm befindliche Fahrzeug hineinfuhr. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Alleinhaftung des Klägers angemessen.“

Eingang am Tag des Fristablaufs nach Dienstschluss, oder: Fristverlängerungsantrag ist (noch) rechtzeitig

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Urheber Ulfbastel

Die zweite Entscheidung behandelt auch eine Verzögerungsproblematik. Die liegt bei dem BVerfG, Beschl. v. 10.05.2023 – 2 BvR 370/22 – aber nicht auf Seiten der Parteien, sondern auf Seiten des Gerichts.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten Zahlungsklage erhoben. Der Beklagte trat der Forderung entgegen. Das AG leitete die Klageerwiderung mit Schreiben vom 01.12.2021 weiter und setzte eine Frist zur Replik innerhalb von zwei Wochen. Das Schreiben ging am 06.12.2021 bei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein.

Mit Schreiben vom 20.12.2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Fristverlängerung. Aufgrund erheblicher Arbeitsüberlastung und urlaubsbedingter Ortsabwesenheit vom 06. bis 10.12.2021 sei eine inhaltliche Rücksprache mit der Klägerin  nicht mehr rechtzeitig möglich. Das Schreiben wurde am 20.12.2021 um 17:54 Uhr per besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) versandt.

Laut handschriftlichem Vermerk lag das Schreiben dem Richter zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht vor. Mit Urteil vom 21.12.2021 wies das AG die Klage ab. Das Urteil wurde der Geschäftsstelle am 21.12.2021, 13:35 Uhr, übergeben und den Parteien aufgrund Verfügung vom selben Tag zugestellt.

Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 30.12.2021 erhob die Klägerin Anhörungsrüge. Das Urteil sei ohne vorherige Entscheidung über ihren Fristverlängerungsantrag ergangen. Wäre die Frist antragsgemäß verlängert worden, was im Falle der erstmaligen Verlängerung zu erwarten sei, zumal tragfähige Gründe anwaltlich versichert worden seien, so wäre das Vorbringen des Beklagten bestritten worden.

Mit Beschluss vom 20.01.2022 wies das AG die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Gegen Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht in entscheidungserheblicher Weise verstoßen worden. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte sein Fristverlängerungsgesuch früher stellen müssen. Er habe nicht erwarten können, dass nach Ablauf der üblichen Dienstzeiten noch über sein Gesuch entschieden werde und er habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. Bei Abfassung des Urteils habe der Antrag noch nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nur bei plötzlicher und unvorhergesehener Arbeitsüberlastung gewährt werden.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde der Klägerin, die Erfolg hatte:

„Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sie sich gegen das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 richtet. In diesem Umfang ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet und ist ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin geboten. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen den Beschluss des Amtsgerichts über die Anhörungsrüge wendet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, da sie unzulässig ist.

1. Gemäß § 93a Abs. 2 lit. b), § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG kann die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und ihr stattgeben, wenn diese zulässig und offensichtlich begründet und ihre Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Dies ist im genannten Umfang der Fall.

2. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 wendet, ist ihre Verfassungsbeschwerde zulässig. Insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben und hinreichend im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG begründet. Soweit die Beschwerdeführerin auch den Beschluss über ihre Anhörungsrüge angreift, ist ihre Verfassungsbeschwerde nicht zulässig. Ein Beschluss, mit dem über die Anhörungsrüge entschieden wird, kann nur dann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, wenn mit ihm eine eigenständige Beschwer verbunden ist (BVerfGE 119, 292 <294 f.>). Dies ist nur dann der Fall, wenn der Beschluss über die Anhörungsrüge dazu führt, dass bereits der Zugang zu dem Anhörungsverfahren mit nicht tragfähiger Begründung versagt wird und dieses Ergebnis bindend für den weiteren Prozess ist, eine andere fachgerichtliche Möglichkeit, die Korrektur des gerügten Gehörsverstoßes zu erreichen, also nicht mehr besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. März 2007 – 1 BvR 2748/06 -, Rn. 11 f.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2008 – 1 BvR 2327/07 -, Rn. 17). Nach diesem Maßstab liegt in dem Beschluss über die Anhörungsrüge keine eigenständige Beschwer, da lediglich die Korrektur des zuvor bereits begangenen Verstoßes unterblieb.

3. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie offensichtlich begründet. Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr hat das Recht der Beschwerdeführerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

a) Art. 103 1 GG garantiert die Möglichkeit der Verfahrensbeteiligten, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten im gerichtlichen Verfahren zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1 <6>). Zu jeder dem Gericht unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite muss die Gelegenheit zur Äußerung bestehen (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>). Das Gericht hat das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Bei seiner Entscheidung darf das Gericht keine Anforderungen an den Sachvortrag stellen, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter unter Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nicht zu rechnen braucht. Es darf auch keine Tatsachen zugrunde legen, zu denen nicht Stellung genommen werden konnte (vgl. BVerfGE 7, 275 <278>; 55, 1 <6>). Eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht besteht jedoch nicht. Auch kann aus Art. 103 Abs. 1 GG keine Pflicht des Gerichts, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen, abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>). Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist demnach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche Gesichtspunkte oder Erwägungen abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (BGH, Beschluss vom 13. Januar 2011 – VII ZR 22/10 -, juris, Rn. 6). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt aber keine Pflicht der Gerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 149, 86 <109 Rn. 63>). Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>; stRspr).

b) Das Gericht überging den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin und erließ sein den Rechtszug abschließendes Urteil, ohne darüber entschieden zu haben. Dies geht bereits aus den Gründen des Anhörungsrügebeschlusses hervor.

Die in dem Beschluss vom 20. Januar 2022 dargelegten Gründe rechtfertigen seine Vorgehensweise nicht.

aa) Maßgebliche Vorschrift für die Verlängerung gerichtlich gesetzter Stellungnahmefristen ist § 224 2 ZPO. Nach § 224 Abs. 2 ZPO können richterliche Fristen verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Es wird dabei als zulässig angesehen, auf eine eidesstattliche Versicherung zu verzichten und eine bloße anwaltliche Versicherung ausreichen zu lassen (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 224, Rn. 5), insbesondere dann, wenn es sich um eine erstmalige Verlängerung handelt (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 225, Rn. 4). Über einen Antrag auf Fristverlängerung kann nach § 225 Abs. 1 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

bb) Ein Antrag auf Fristverlängerung muss innerhalb der noch laufenden Frist bei Gericht eingegangen sein (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 224, Rn. 8). Nicht erforderlich ist dagegen, dass über ihn noch während des Fristlaufs entschieden wird. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet wird oder dass es der Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es in den Machtbereich des Gerichts gelangt (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 3. Oktober 1979 – 1 BvR 726/78 -, juris, Rn. 20 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Dezember 2012 – 2 BvR 1294/10 -, Rn. 14; BGH, Beschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02 -, NJW 2003, S. 3418).

cc) Nach diesem Maßstab muss der Fristverlängerungsantrag als am 20. Dezember 2022, 17:54 Uhr, gestellt gelten, denn zu diesem Zeitpunkt gelangte das per beA übermittelte Schreiben in den Machtbereich des Gerichts. Soweit das Amtsgericht in seinem Beschluss über die Anhörungsrüge ausführte, der Fristverlängerungsantrag habe zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen, verfehlt es die prozessrechtlichen Anforderungen. Das Gericht hätte noch über den Antrag befinden müssen; Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags innerhalb des Gerichts können nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin gehen.

dd) Das Amtsgericht konnte auch nicht verlangen, dass der Prozessbevollmächtigte seinen Fristverlängerungsantrag zu einem früheren Zeitpunkt hätte stellen müssen. Fristen dürfen einem gesicherten prozessrechtlichen Grundsatz zufolge, der seine Stütze im Verfassungsrecht findet, vollständig ausgeschöpft werden (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 41, 323 <328>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>). Lediglich bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax ist zu beachten, dass mit der Übermittlung so rechtzeitig begonnen wird, dass in der Regel mit einem rechtzeitigen Abschluss des Sendungsvorgangs gerechnet werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 2016 – VI ZB 7/15 -, juris, Rn. 9).

ee) Zuletzt spielt auch keine Rolle, ob den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin Verschulden trifft, ob er damit rechnen durfte, dass seinem Antrag stattgegeben werden würde und wann er mit einer Entscheidung rechnen durfte. Da es hier nicht um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geht, sind diese Fragen unerheblich. Maßgeblich ist nach oben Dargestelltem allein, ob der Fristverlängerungsantrag rechtzeitig bei Gericht einging und ob ein erheblicher Grund dafür glaubhaft gemacht wurde. Von beidem ist hier auszugehen. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen das Amtsgericht den erstmaligen Fristverlängerungsantrag wegen Arbeitsüberlastung und Ortsabwesenheit hätte ablehnen können.

c) Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr überging nicht nur den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin, sondern schnitt ihr auf diesem Wege auch die Möglichkeit ab, zu dem Vorbringen der Beklagtenseite Stellung und damit Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung zu nehmen. Dies war entscheidungserheblich…..“

Angestellte adressiert Rechtsmittel falsch, oder: Rechtsanwalt hat Fristversäumung verschuldet

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Und im Kessel Buntes heute dann mal wieder zwei Entscheidungen zur (Frist)Versäumung. Zunächst hier der BGH, Beschl. v. 26.01.2023 – I ZB 42/22 (schon etwas älter, aber erst jetzt veröffentlicht).

Gestritten wird in dem Verfahren um die Rechtszeitigkeit der Berufungseinlegung und die Wiedereinsetzung.

In dem Verfahren verlangt der Kläger von der Beklagten Maklervergütung. Das LG hat die Klage abgewiesen. Der Kläger hat gegen das ihm am 29.11.2021 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 28.12.2021, gerichtet an das LG Berufung eingelegt; dort ist der Schriftsatz am 28.12.2021 per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) um 18:50:24 Uhr eingegangen.

Das LG hat unter dem 30.12.2021 die Weiterleitung des Berufungsschriftsatzes an das Berufungsgericht verfügt, wo der Berufungsschriftsatz am 03.01.2022 eingegangen ist. Mit Schriftsatz vom 11.01.2022, beim Berufungsgericht am 12.01.2022 eingegangen, hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt.

Zur Begründung seines Antrags hat der Kläger vorgetragen, sein vormaliger Prozessbevollmächtigter habe seiner langjährigen und zuverlässigen Mitarbeiterin vor deren Urlaubsantritt den Auftrag erteilt, den Berufungsschriftsatz in der elektronischen Anwaltsakte zu erstellen und zu speichern. Kurz vor dem Urlaubsantritt der Mitarbeiterin habe der Prozessbevollmächtigte gemeinsam mit dieser eine Fristenkontrolle durchgeführt und einen als „Berufung“ bezeichneten Schriftsatz in der elektronischen Akte des Klägers vorgefunden. Diesen habe sein Prozessbevollmächtigter sodann am 28.12.2021 per beA abgesandt. Zu der fehlerhaften Adressierung an das Landgericht sei es gekommen, weil die Mitarbeiterin die Anweisung, den Berufungsschriftsatz selbst zu erstellen, nicht befolgt, sondern eine Auszubildende damit beauftragt habe. Bei der Kontrolle des Schriftsatzes habe die Mitarbeiterin dann übersehen, dass dieser fehlerhaft an das Landgericht adressiert gewesen sei. Sein Prozessbevollmächtigter habe darauf vertraut, dass der Schriftsatz korrekt an das Oberlandesgericht adressiert gewesen sei. Der Schriftsatz sei versehentlich an das falsche Gericht übersandt worden, weil die Übersendung in der bekannten anwaltlichen Stresssituation im Jahresendgeschäft während der Weihnachts- und Urlaubszeit erfolgt und durch den Umstand beeinflusst gewesen sei, dass der Schriftsatz vor dem Versand an das Gericht bei Verwendung des beA – anders als bei einer handschriftlichen Unterzeichnung – nicht auf den ersten Blick ersichtlich sei, sondern durch Betätigung des hierfür vorgesehenen Symbols im beA hätte aufgerufen werden müssen. Es überspannte die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts, wenn von ihm verlangt würde, alle Schriftsätze, die er über das beA mit seiner eigenen Kennung an die Gerichte übermittele, vor dem Absenden selbst noch einmal auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Der Berufungsschriftsatz sei zudem bei der zentralen Eingangsstelle des LG und des OLG eingegangen. Es existiere eine zentrale gemeinsame Briefannahmestelle der beiden Gerichte und es könne vermutet werden, dass dies auch noch nach Einführung des beA der Fall sei. Jedenfalls könne durch die Digitalisierung, die gerade das Ziel der Beschleunigung verfolge, keine Schlechterstellung des Rechtsanwalts erfolgen, der Schriftsätze per beA einreiche. Das digitalisierte Schriftstück sei genauso zu behandeln als wäre es an der zentralen gemeinsamen Briefannahmestelle eingegangen.

Selbst wenn man davon ausginge, dass es keine gemeinsame Briefannahmestelle gebe, so hätte der Schriftsatz doch ohne weiteres am 29.12.2021, einem normalen Werktag, digital an das zuständige Rechtsmittelgericht weitergeleitet, ausgedruckt und vorgelegt werden können. Im Zeitalter der Digitalisierung innerhalb der Justiz eine Postlaufzeit von drei Tagen anzunehmen, erscheine antiquiert und laufe dem Ziel des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs zuwider.

Mit Beschluss vom 14.12.2022 hat das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde. Das Berufungsgericht hat die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags wie folgt begründet: Der Kläger sei nicht schuldlos an der Versäumung der Frist gehindert gewesen, da ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO das insoweit vorliegende Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zuzurechnen sei. Dieser habe seine Pflichten dadurch verletzt, dass er den Berufungseinlegungsschriftsatz nicht auf die richtige Adressierung hin überprüft und entsprechend berichtigt habe. Die Anfertigung der Rechtsmittelschrift dürfe in einem so gewichtigen Teil wie der Bezeichnung des Rechtsmittelgerichts auch gut geschultem und erfahrenem Personal eines Rechtsanwalts nicht eigenverantwortlich überlassen werden. Der Prozessbevollmächtigte müsse die Rechtsmittelschrift vor Unterzeichnung und Versendung mittels beA auf Vollständigkeit und auf die richtige Bezeichnung des Rechtsmittelgerichts hin überprüfen.

Dieses Verschulden sei auch für die Versäumung der Berufungsfrist kausal geworden. Der Berufungsschriftsatz sei am 28.12.2021 gerade nicht beim OLG eingegangen. Als Empfänger sei vielmehr das LG ausgewiesen. Eine zentrale Eingangsstelle existiere nicht. Es gebe auch keinen verpflichtenden interbehördlichen digitalen Schriftverkehr. Das Landgericht sei kein Erfüllungsgehilfe des Prozessbevollmächtigen des Klägers zur Wahrung der Rechtsmittelfrist. Eine Fiktion der Wahrung der Berufungseinlegungsfrist durch Übermittlung eines digitalen Schriftsatzes an jedwedes Gericht des Landes Hessen lasse sich mit den Vorschriften der Zivilprozessordnung nicht in Einklang bringen.

Der BGH hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen. Hier die amtlichen Leitsätze zu seiner Entscheidung:

1. Hat der Prozessbevollmächtigte einer Partei die Anfertigung einer Rechtsmittelschrift seinem angestellten Büropersonal übertragen, ist er verpflichtet, das Arbeitsergebnis vor Absendung über das besondere elektronische Anwaltspostfach sorgfältig auf Vollständigkeit zu überprüfen. Dazu gehört auch die Überprüfung, ob das Rechtsmittelgericht richtig bezeichnet ist.
2. Geht ein fristwahrender Schriftsatz über das besondere elektronische Anwaltspostfach erst einen Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim Rechtsmittelgericht geführt hat (Fortführung von BGH, Beschluss vom 8. Februar 2012 – XII ZB 165/11, NJW 2012, 1591]).