Archiv der Kategorie: Verwaltungsrecht

Niqab am Steuer II, oder: Ist die Vollverschleierung am Steuer erlaubt?

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Author Manuelfb55

Ich hatte am 23.01.2021 über den VG Düsseldorf, Beschl. v. 26.11.2020 – 6 L 2150/20 – berichtet (vgl. hier: Niqab am Steuer, oder: Ist die Vollverschleierung am Steuer erlaubt?). Zu der Entscheidung liegt jetzt der Rechtsmittelbeschluss des OVG Münster vor, und zwar der OVG Münster, Beschl. v. 20.05.2021 – 8 B 1967/20.

Ich erinnere an den Sachverhalt: Gestritten wird um die Genehmigung, beim Führen eines Kraftfahrzeuges das Tragen des “Niqab” (Nikab) zu erlauben. Das hatte das VG abgelehnt, das OLG hat die Entscheidung – im Eilverfahren – bestätigt.

Hier die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Das in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordnete Gesichtsverhüllungs- und -verdeckungsverbot soll die Erkennbarkeit und damit die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei Verkehrsverstößen heranziehen zu können. Der Vorschrift kommt (auch) eine präventive Funktion zu. Mit dieser Zielrichtung dient die Vorschrift der allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer.
  2. Durch die den Straßenverkehrsbehörden in § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO eingeräumte Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung soll besonderen Ausnahmesituationen Rechnung getragen werden, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und eine unbillige Härte für den Betroffenen zur Folge hätten.
  3. Das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden bei der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO von dem in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO geregelten Verbot ist nicht bereits deshalb auf Null reduziert, weil ein religiös begründetes Bedürfnis nach einer Verhüllung des Gesichts besteht (hier: Gesichtsschleier in Form eines Niqabs).
  4. Ein in der Hauptsache möglicherweise bestehender Neubescheidungsanspruch, der im weitergehenden Verpflichtungsantrag enthalten ist, kann grundsätzlich auch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nach § 123 Abs. 1 VwGO durch Verpflichtung des Antragsgegners zur Neubescheidung gesichert werden.

Fahrerlaubnisentziehung wegen Epilepsie, oder: Anfallsfreiheit mindestens 5 Jahre

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Und damit es dann heute ganz bunt wird als zweite Entscheidung ein Beschluss aus dem Fahrerlaubnisrecht, nämlich der OVG Bremen, Beschl. v. 08.04.2021 – 1 B 120/21 – mit folgendem Sachverhalt:

Der Antragsteller verursachte am 29.07.2019 einen Verkehrsunfall. Der an der Unfallstelle erschienene Sohn des Antragstellers hatte ausweislich des Polizeiberichts angegeben, dass sein Vater Epileptiker sei, der letzte Anfall aber über Jahr zurückliege. Auf Bitten der Fahrerlaubnisbehörde legte der Antragsteller dass das Attest eines Facharztes für Nervenheilkunde vor. Darin wurde für den Antragseller eine Epilepsie mit seltenen Anfällen diagnostiziert. In einem früheren Attest desselben Arztes wurde ausgeführt, dass der letzte Anfall im Jahr 2015 stattgefunden habe und der Antragsteller mit Lamotrigin behandelt werde. Solange ein erneuter Anfall nicht ausgeschlossen sei, dürfe er kein Fahrzeug führen. Daraufhin forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller auf, ein verkehrsmedizinisches Gutachten vorzulegen. Dieses Gutachten gelangte zu dem Ergebnis, dass bei dem Antragsteller eine Epilepsie mit seltenen, generalisierten Krampfanfällen nach wahrscheinlicher Encephalitis 1988 vorliege. Es sei wahrscheinlich, dass in dem Zeitraum des Verkehrsunfalls eine Bewusstseinsstörung aufgrund eines epileptischen Anfalls vorgelegen habe. Eine Fahrtauglichkeit für die Klasse C1E (Lastkraftwagen) bestehe zum jetzigen Zeitpunkt und auf unabsehbare Zeit nicht, da sowohl der erneute Kampfanfall als auch das pathologische EEG sowie die Notwendigkeit einer weiteren antikonvulsiven Medikation dagegensprächen. Bezüglich der Fahrzeuge der Gruppe 1 (Fahrzeuge bis 3,5 t und Motorräder) wurde vorgeschlagen, dass sich der Antragteller einmal pro Quartal nervenärztlich zur Verlaufsuntersuchung vorstelle. Eine Nachuntersuchung der Fahrtauglichkeit solle spätestens in 2 Jahren erfolgen.

Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann dem Antragsteller die Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen C1 und C1E entzogen. Der Antragsteller hat gegen diesen Bescheid Klage erhoben und zugleich Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt. Das hat das VG abgelehnt. Beim OVG hatte der Antragsteller ebenfalls keinen Erfolg:

„2. Die Beschwerde hat auch in der Sache keinen Erfolg.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Nach Ziffer 6.6 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung besteht bei Epilepsie nur dann ausnahmsweise eine Fahreignung für die Klassen A, A1, B, BE, M, S, L und T, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z. B. bei einer Anfallsfreiheit von einem Jahr. Für die Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E, FzF besteht eine Fahreignung ausnahmsweise nur dann, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z. B. bei einer Anfallsfreiheit von 5 Jahren ohne Therapie.

Das Verwaltungsgericht und die Fahrerlaubnisbehörde sind vorliegend zutreffend davon ausgegangen, dass sich aus dem verkehrsmedizinischen Gutachten vom 06.07.2020 schlüssig und nachvollziehbar die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 ergibt. Das Verwaltungsgericht weist dabei zu Recht darauf hin, dass die Begutachtungsrichtlinien zur Kraftfahreignung vom 27.01.2014 (Verkehrsblatt S. 110) in der Fassung vom 28.10.2019 (Verkehrsblatt S. 775) nach Anlage 4a zur FeV als Grundlage der Beurteilung heranzuziehen sind. Auf dieser Grundlage ist das Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass der Antragsteller an einer Epilepsie mit seltenen Krampfanfällen leide. Aufgrund der Stellungnahme des Neurologen könne nicht davon ausgegangen werden, dass ohne die Einnahme antikonvulsiver Medikation eine Anfallsfreiheit bestehe. Dieses gutachterliche Ergebnis hat nach Ziff. 6 der Anlage 4 zur FeV die Feststellung der Fahruntauglichkeit für die Fahrzeuge der Gruppe 2 zur Folge……

„Transportsicherung“, oder: Vollständiges Entkleiden und Untersuchung von Körperöffnungen rechtswidrig

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Heute dann im Kessel Buntes zunächst eine Entscheidung, die mir schon etwas länger vorliegt. Ich wusste aber nicht so richtig, wo ich sie bringen sollte. Ich habe mich dann für den „Kessel Buntes“ entschieden.

Es handelt sich um das VG Braunschweig, Urt. v. 02.12.2020 – 5 a 65/20. Das VG hat zur Zulässigkeit des vollständigen Entkleidens eines Gefangenen und zur Zulässigkeit der Untersuchung sämtlicher Körperöffnungen, sowie des Anlegens von Gehörschutz, Sichtschutz und Spuckhaube auf dem Rücktransport vom LG Braunschweig, wo eine Hauptverhandlung stattgefunden hatte, in die JVA Transport. Das VG hat im Wesentlichen die Unzulässigkeit der getroffenen Maßnahmen festgestellt:

„Die auch im Übrigen zulässige Klage ist überwiegend begründet. Das vollständige Entkleiden des Klägers und die Untersuchung sämtlicher Körperöffnungen, sowie das Anlegen von Gehörschutz. Sichtschutz und Spuckhaube durch SEK — Beamte am 21. April 2017 beim Rücktransport des Klägers vom Landgericht Braunschweig zur JVA Wolfenbüttel war rechtswidrig und hat den Kläger in seinen Rechten verletzt. Soweit er hingegen auch seine Fesselung und Durchsuchung ohne Entkleiden angreift („eingewickelt wie ein Guantanamo — Gefangener“). hatte seine Klage keinen Erfolg.

Die an den Kläger ergangene Anordnung. sich vollständig, einschließlich der Unterwäsche zu entkleiden. stellt sich als rechtswidrig dar.

Als Rechtsgrundlage kommt insoweit allein § 22 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG in Betracht. Danach kann die Polizei eine Person durchsuchen. wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Sachen mit sich führt. die sichergestellt werden dürfen.

Danach war die Anordnung hier schon deshalb als rechtswidrig anzusehen. weil die SEK – Beamten von dem nach dem Wortlaut des § 22 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht. sondern als _Standardverfahren“ durchgeführt haben (Dienstliche Stellungnahme Beamter 271 v. 3. Mai 2017. BI. 82 BA 003: Stellungnahme Beamter 302 v. 3. Mai 2015. BI. 84 BA 003: Stellungnahme Beamter 308 v. 16.Mai 2017. BI. 85 BA 003) und sich offenkundig generell verpflichtet sehen, das vollständige Entkleiden zum Zwecke der Durchsuchung anzuordnen.

Die Verpflichtung des Klägers, sich zu entkleiden und nackt untersuchen zu lassen, verletzt darüber hinaus den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Hierbei kann offenbleiben. ob der Kläger nur von außen untersucht wurde oder ob die Beamten bei der Untersuchung in seinen Körper eingedrungen sind. Die Kammer folgt der einstweiligen Anordnung des LG Hannover vom 4. Mai 2017, dass bereits die körperliche Untersuchung des Klägers durch Inaugenscheinnahme sämtlicher Körperöffnungen nach vollständigem Entkleiden in einer Situation, in der zuvor ausschließlich Kontakt mit Sicherheitspersonal und seinen beiden Verteidigern stattgefunden hat, rechtswidrig ist und im konkreten Fall — mangels Anhaltspunkten für versteckte. verbotene Gegenstände — ein unverhältnismäßiger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht war.

Durchsuchungen. die mit einer Entkleidung verbunden sind. stellen sich als schwerwiegender Eingriff in die Intimsphäre und damit in das durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Persönlichkeitsrecht dar und berühren zudem die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Das gilt in besonderem Maße. wenn sie mit der Nachschau im Bereich von normalerweise bedeckten Körperöffnungen verbunden sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29. Oktober 2003. 2 BvR 1745/01, juris).

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung deutlich gemacht, dass derartige körperliche Durchsuchungen durch die Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt sein können. sie aber nur in schonender Weise und nicht routinemäßig, unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles. durchgeführt werden dürfen. Vielmehr sind alle Umstände des Einzelfalles abzuwägen. Auch ist der bloße Umstand. dass Verwaltungsabläufe sich ohne eingriffsvermeidende Rücksichtnahme einfacher gestalten. hinsichtlich der Anordnung von Durchsuchungen. die den Intimbereich und das Schamgefühl berühren. danach noch weniger als in anderen. weniger sensiblen Bereichen geeignet, den Verzicht auf solche Rücksichtnahmen zu recht-fertigen (BVerfG. Beschl. v. 10. Juli 2013. 2 BvR 2815/11. juris. Rn. 16 f. zur Durchsuchung von Gefangenen unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR und Beschl. v. 4. Februar 2009. 2 BvR 455/08, juris, Rn. 27 zur Durchsuchung von Untersuchungsgefangenen und LG Lüneburg. Beschl. v. 19. April 2005, 10 T 56/04, juris. Rn. 13 f.)

So hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 4. Februar 2009 ausgeführt. dass bei Personen. die in Untersuchungshaft verbracht werden. Umstände vorliegen können, die den Verdacht, der oder die Betreffende könne zum Zweck des Einschmuggelns in die Haftanstalt Drogen oder andere gefährliche Gegenstände in Körperöffnungen des Intimbereichs versteckt haben, als derart fernliegend erscheinen lassen, dass hierauf gerichtete Untersuchungen. die mit einer Inspektion von Körperöffnungen verbunden sind, sich als nicht mehr verhältnismäßig erweisen. Denn ein solch schwerwiegender Eingriff in die Intimsphäre ist nur zulässig bei fallbezogenen Verdachtsgründen.

Fallbezogene Verdachtsgründe sind vorliegend nicht ersichtlich. Die von den eingesetzten SEK – Beamten und der Beklagten genannten Gefahrenmomente sind allgemein gehalten und nicht ansatzweise geeignet, ein vollständiges Entkleiden des Klägers zu rechtfertigen. So haben diese auch auf Nachfrage keinen einzigen Beweis oder auch nur ein Indiz dafür liefern können, dass der Kläger, der am 21. April 2017 von der JVA Wolfenbüttel zum LG Braunschweig verbracht und die ganze Zeit ausschließlich Kontakt zu seinen Verteidigern und Justizbediensteten hatte. an oder in seinem Körper Gegenstände bei sich führte, mit denen er sich oder die eingesetzten Beamten hätte verletzen können.

Dass die körperliche Durchsuchung des Klägers nicht verhältnismäßig war, ergibt sich nach Auffassung der Kammer darüber hinaus aus dem Umfang der Sicherheitsmaßnahmen der Justizbehörden an den übrigen Verhandlungstagen:

In den 4 Folgeterminen nach dem 21. April 2017 wurde das SEK nicht eingesetzt. Dass das zunächst angenommene Befreiungsrisiko zu diesen Zeitpunkten entfallen war, hat die Beklagte noch nicht einmal behauptet, sondern lediglich eine nicht näher erläuterte „Neubewertung und Entscheidung (BI. 245 GA) angeführt.

Diese Einschätzung beruht offensichtlich auf den Beschluss des LG Braunschweig vom 4. Mai 2017. der eine Sicherheitsbegleitung des Klägers durch das SEK zu den nachfolgenden Verhandlungstagen des Landgerichts allerdings nicht schlechterdings untersagte. sondern den beteiligten Behörden lediglich aufgab. das vollständige Entkleiden des Klägers und die Untersuchung sämtlicher Körperöffnungen. nachdem er lediglich Kontakt zu Sicherheitspersonal und seinen Verteidigern hatte, zu unterlassen.

Nach allem konnten die Behörden dem Gericht keinen nachvollziehbaren Grund dafür nennen. warum der Kläger nur am 21. April 2017 vom SEK vom Landgericht Braunschweig zur JVA Wolfenbüttel begleitet wurde. nicht aber zu den Folgeterminen. Angesichts der mit der Durchführung der Maßnahme verbundenen Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des Klägers stellt sich das vollständige Entkleiden des Klägers durch das SEK für die Kammer als unverhältnismäßig dar.

2. Unzulässige Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers waren darüber hinaus das auf die Ermächtigungsgrundlage der Generalklausel nach § 11 Nds. SOG gestützte Überstreifen eines Spuckschutzes. das Aufsetzen einer Schlafbrille und des Gehörschutzes. Zwar bestand die allgemeine Fluchtgefahr. als milderes Mittel wird aber eine Fesselung an Händen und Beinen. zusammen mit der Fixierung durch einen Feuerwehrgurt als ausreichend angesehen. Die weitergehenden Eingriffe sind deshalb unter Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 10. Juli 2011. 2 BA 2815/13. juris) nicht mehr verhältnismäßig.

3. Keine Bedenken hat die Kammer lediglich. dass der Kläger vor dem Transport (bekleidet) durchsucht und während des Transports an Händen und Füßen gefesselt wurde und die Fesseln mit einem Feuerwehrgurt am Körper fixiert wurden. …..“

Außer der Reihe zu Corona: VG Weimar zur Maskenpflicht an Schulen, oder: „ausbrechender Rechtsakt“

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Vor dem eigentlichen Tagesprogramm ein „Abrundungspost“, und zwar zu dem Beitrag betreffend den AG Weimar, Beschl. v. 08.04.2021 – 9 WF 148/21 (vgl. hier: Corona I: AG Weimar und AG Wuppertal melden sich, oder: Zwei etwas “ungewöhnliche” Entscheidungen). Ich erinnere: Das ist die Entscheidung, die im familiengerichtlichen Verfahren zwei Schulen in Weimar untersagt hat, die Maskenpflicht anzuordnen, weil damit das Kindeswohl von zwei Schülern gefährdet sei.

Mit der Frage hatte sich nun auch das VG Weimar im VG Weimar, Beschl. v. 20.04.2021 – 8 E 416/21 We – zu befassen. Und das VG rückt die Stühle wieder an die richtige Stelle:

„1. Vorausgeschickt sei, dass für die gerichtliche Überprüfung der Allgemeinverfügung ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (§ 40 Abs. 1 VwGO). Der die Antragsteller zu 1. und 2. betreffende Beschluss des Amtsgerichts Weimar vom 8. April 2021 (Az. 9 F 148/21) steht dem nicht entgegen. Der Beschluss ist als ausbrechender Rechtsakt (VGH München, Beschluss vom 16.04.2021, 10 CS 21.1113) offensichtlich rechtswidrig.

Insbesondere fehlt dem Familiengericht eine Rechtsgrundlage für seine Entscheidung. In dem Beschluss werden im Weg der einstweiligen Anordnung einzelne Gebote gegenüber „den Leitungen und Lehrern […] sowie den Vorgesetzten der Schulleitungen“ ausgesprochen. Dem Familiengericht steht aber eine Befugnis, Anordnungen gegenüber Behörden und Vertretern von Behörden zu treffen, nicht zu. Für eine solche Anordnungskompetenz fehlt es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage (Lugani in Münchner Kommentar BGB, 8. Auflage 2020, Rdnr. 181 zu § 1666). § 1666 BGB scheidet als Grundlage aus, denn bei den in § 1666 Abs. 4 BGB genannten Dritten handelt es sich um private Personen, nicht um Träger öffentlicher Gewalt. Dies ist für das Verhältnis zwischen Familiengerichten und den Behörden der Kinder- und Jugendhilfe anerkannt (z. B. OLG Oldenburg, Beschluss vom 27.11.2007, 4 WF 240/07, Juris-Rdnr. 2; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 29.07.2015, 1 BvR 1468/15, Juris-Rdnr. 5; Lugani, a.a.O., Rdnr. 180 ff zu § 1666; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Auflage 2019, Rdnr. 16 vor §§ 50-52). Gegenüber den Schulbehörden gilt nichts anderes. Im Rahmen des schulrechtlichen Sonderstatusverhältnisses sind die zuständigen Behörden an die das Kindeswohl schützenden Grundrechte gebunden. Die gerichtliche Kontrolle dieses Behördenhandelns auch hinsichtlich von Gesundheitsschutzmaßnahmen in den Schulen obliegt allein den Verwaltungsgerichten (so auch die aktuelle familiengerichtliche Rechtsprechung, z. B. zuletzt – unter ausdrücklicher Ablehnung der Auffassung des AG Weimar – AG Waldshut-Tiengen, Beschluss vom 13.04.2021, 306 Ar 6/21, Juris-Rdnr. 8).

Weiterer Ausführungen zur Rechtswidrigkeit des Beschlusses des Amtsgerichts Weimar bedarf es an dieser Stelle nicht. Sie sind dem Thüringer Oberlandesgericht als Rechtsmittelinstanz vorbehalten.“

Genaus das hat in einem Rechtsstaat zu passieren: Jeder entscheidet über das, für das er zuständig ist.

Ach so: In der Sache hat das VG den Antrag zurückgewiesen. Er sieht die Thüringer CoronaVO als wirksam an. Und:

„6.2. Bei der Auswahl der zu ergreifenden Maßnahme durfte der Antragsgegner das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung für Grundschüler (hier der Antragsteller zu 2.) und der medizinischen Gesichtsmaske für Schüler an der Klassenstufe 7 (hier der Antragsteller zu 1.) anordnen. Der Antragsgegner hält sich mit seiner Entscheidung im Rahmen des ihm eröffneten Ermessens. Diese vom Antragsgegner gewählte Handlungsalternative ist vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis vertretbar und liegt deshalb innerhalb seines Einschätzungsspielraums (vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 25.11. 2020, 3 EN 746/20, Juris-Rdnr. 53).“

Neuerteilung der Fahrerlaubnis, oder: Wann wird ein (ungünstiges) Gutachten „gelöscht“?

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Und als zweite Entscheidung heute dann etwas Verkehrsverwaltungsrechtliches, nämlich das VG Berlin, Urt. v. 04.03.2021 – 4 K 125/20.

Gestritten wird/wurde um die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

„Er [der Kläger] war Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klassen B, M und L, welche ihm im Mai 2005 entzogen wurde. Einen Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis im Juli 2009 lehnte die Fahrerlaubnisbehörde der Stadt Wiesbaden im November 2009 aufgrund eines ungünstigen medizinisch-psychologischen Gutachtens ab, welches künftige Verkehrszuwiderhandlungen und das künftige Führen eines Kraftfahrzeuges unter Alkoholeinfluss durch den Kläger für wahrscheinlich hielt. Einen weiteren Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis im September 2014 lehnte Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) mit Bescheid im Mai 2015 ab, weil der Kläger das angeforderte Gutachten nicht innerhalb der Frist vorgelegt hatte. Nach durchlaufenem Widerspruchsverfahren verfolgte dieser sein Begehren erfolglos mit Klage vor dem Verwaltungsgericht – VG 4 K 282.15 – und Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg – OVG 1 N 103.15 – weiter.

Am 1. August 2019 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Neuerteilung der Klassen B, A, A1 und L. Mit Schreiben vom 30. September 2019 wies das LABO ihn auf die bestehenden Bedenken an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen hin. Es führte das noch aktenkundige vorsätzliche Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie das negative medizinisch-psychologischen Gutachten aus 2009 auf. Es forderte ihn zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens binnen sechs Monaten zu den Fragen auf, ob zu erwarten sei, dass er auch zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde, ob psycho-funktionale Beeinträchtigungen vorliegen würden und ob aufgrund der aktenkundigen Tatsachen zukünftig mit Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften zu rechnen sei. Der Kläger verweigerte die Begutachtung und bat um einen rechtsmittelfähigen Bescheid, sodass das LABO mit Bescheid vom 14. November 2019 den Antrag des Klägers auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis ablehnte. Dieser habe das angeforderte Gutachten nicht innerhalb der Frist vorgelegt. Daneben sei ihm schriftlich erklärt worden, dass das Gutachten aus dem Jahr 2009 noch verwertbar und deshalb die Gutachtenanforderung rechtmäßig sei.

Hiergegen legte der Kläger am 22. November 2019 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, dass er seit zehn Jahren keine Verstöße gegen rechtliche Bestimmungen begangen habe, sodass die Behauptung, er würde seine individuellen Bedürfnisse über die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs stellen, widerlegt sei. Ein über zehn Jahre altes Gutachten könne insofern jedenfalls nicht als belastbare Tatsache herangezogen werden. Das Gutachten enthalte Hinweise zu bereits getätigten Eintragungen. Seine weitere Verwendung verstoße gegen die Tilgungsvorschriften. Zudem sei das Gutachten weder inhaltlich noch formal nachvollziehbar. Der Verfasser des Gutachtens aus dem Jahr 2009 sei nicht als qualifiziert in dem offiziellen Register der Fachpsychologen für Verkehrspsychologie geführt worden. Dieser habe die Inhalte des Gutachtens willkürlich manipuliert und gravierend abweichend von den Aussagen des Klägers wiedergegeben. Die jetzige Anordnung zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens leide überdies daran, dass die Behörde sich nicht mit dem Vorrang des Punktesystems, der Wahl eines milderen Mittels sowie des im Einzelfall bestehenden Gefahrenpotenzial auseinandergesetzt habe. Die Gutachtenanforderung müsse insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig sein. Verwertbare Anlasstatsachen für alkoholbedingte Eignungszweifel lägen aber nicht vor. Nach psycho-funktionalen Anforderungen dürfe nicht gefragt werden. Die Frage nach zukünftigen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung sei nicht ausreichend konkret.

Das LABO wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2020, zugestellt am 5. März 2020, zurück. Die Tilgungsvorschriften seien ordnungsgemäß angewandt worden. Das Gutachten aus dem Jahr 2009 sei deshalb verwertbar. Die darin enthaltene Aussage, dass der Kläger die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr nicht erfülle, sei nicht zu beanstanden und führe zu den Fragestellungen in der hier streitgegenständlichen Gutachtenanforderung. Da dieser nicht Folge geleistet worden sei, sei zutreffend auf die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr geschlossen worden.“

Dagegen die Klage, die keinen Erfolg hatte.

Hier die Leitsätze zu der Entscheidung des VG:

  1. Die Löschungsfrist für ein medizinisch-psychologisches Gutachten nach § 2 Abs. 9 StVG richtet sich grundsätzlich nach der Tilgungsfrist für die Entscheidung über die Fahrerlaubnis, für die es angefertigt wurde.
  2. Das Gutachten stellt insofern eine neue Tatsache dar und darf auch noch verwertet werden, wenn die Taten und Entscheidungen, die zur Fahrerlaubnisentziehung geführt haben, bereits getilgt wurden (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.04.2010 – 3 C 2.10 ).

Dann schon mal frohes Osterfest