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StPO I: 3 x Anforderungen an den Anfangsverdacht, oder: „Drogenlieferservice“ und Cannabisgeruch usw.

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In die 36. KW. starte ich mit Entscheidungen zur Durchsuchung (§§ 102 ff. StPO), also StPO-Entscheidungen.

An der Spitze der „Berichterstattung“ stehen ein BverfG-Beschluss, ein BGH-Beschluss und ein Beschluss des LG Rostock. In allen Beschlüssen geht es um den sog. Anfangsverdacht als Voraussetzung für die Anordnung einer Durchsuchungsmaßnahme.

Im BVerfG. Beschl. v. 21.07.2022 – 2 BvR 1483/19 – geht es um eine Durchsuchung im Hinblick auf die Beteiligung an BtM-Delikten. Das Verfahren richtete sich gegen einen Gastwirt, gegen den wegen des Verdachts des BtM-Handels ermittelt wurde. Es wurde angenommen, dass er statt Speisen Drogen auslieferte. Der Gastwirt wurde oberserviert. Es wurde festgestellt, dass sein Wagen nachts bei zwei mutmaßlichen Lieferfahrten vor dem Haus des Betroffenen abgestellt worden war. Kontakte der Beiden konnten nicht beobachtet werden, und auch sonst ergab sich keine Verbindung. Das AG hat dann gegen den Betroffenen einen Durchsuchungsbeschluss erlassen. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die – man sieht es am Aktenzeichen – nach drei Jahren Erfolg hatte. Dem BVerfG reichen die Erkenntnisse nicht für die Anordnung der Durchsuchungsmaßnahme:

„bb) Die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts legen keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür dar, dass der Beschwerdeführer Betäubungsmittel für (…) aufbewahrt hätte, um diesen bei seinem Handeltreiben zu unterstützen. Das Landgericht wies darauf hin, dass die im Durchsuchungsbeschluss als Beweismittel angegebenen, aber nicht in der Akte abgelegten Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung des gesondert verfolgten (…) sowie die Angaben einer Vertrauensperson von keiner Bedeutung für die Annahme des Tatverdachts gegenüber dem Beschwerdeführer gewesen seien. Auch einer polizeilichen Mitteilung, nach der der Beschwerdeführer bereits in elf Fällen, unter anderem wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, in Erscheinung getreten sei, maß das Landgericht wegen ihrer Unbestimmtheit keine Bedeutung bei. Allein auf die Bewegungen und Standzeiten des Fahrzeugs des (…), die in der polizeilichen Durchsuchungsanregung beschrieben waren, konnte der Anfangsverdacht gegenüber dem Beschwerdeführer entgegen der Auffassung des Landgerichts jedoch nicht in einer verfassungsrechtlich vertretbaren Weise gestützt werden. Denn die Bewegungen und Standzeiten des Fahrzeugs in den Nächten auf den 9. November und den 21. November 2018 liefern alleine keinen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür, dass der Beschwerdeführer Betäubungsmittel, noch dazu größere Mengen, für (…) aufbewahrt hätte.

Dem in der Ermittlungsakte niedergelegten Ergebnis der Observation des Fahrzeugs des (…) kann lediglich entnommen werden, dass dieses gegenüber der Wohnanschrift des Beschwerdeführers geparkt wurde, nicht aber, dass (…) dabei beobachtet worden wäre, wie er die Wohnung des Beschwerdeführers aufgesucht oder betreten hätte. Es ist dort nicht einmal festgehalten, ob (…) überhaupt sein Fahrzeug verlassen und wenn ja, in welche Richtung er sich anschließend zu Fuß weiterbewegt hatte. Zutreffend weist der Beschwerdeführer darauf hin, dass auch andere Anschriften im Umfeld seiner Wohnung für (…) fußläufig erreichbar gewesen wären. Erst recht ist nicht beobachtet worden, dass ihm etwas von einer anderen Person übergeben oder zugesteckt worden wäre. Der Beschwerdeführer selbst wurde in den besagten Nächten offenbar gar nicht gesehen, und auch sonst führt der landgerichtliche Beschluss keine Anhaltspunkte dafür an, dass der Beschwerdeführer schon einmal im Kontakt zu (…) gestanden und diesen bei dessen Betäubungsmitteldelikten unterstützt hätte. Ebenso wenig sind sonstige Anhaltspunkte vom Landgericht dafür dargetan, dass der Beschwerdeführer im November 2018 oder in der weiter zurückliegenden Vergangenheit bereits einmal größere Drogenmengen bei sich aufbewahrt hätte, was in Verbindung mit den Standzeiten des Fahrzeugs des (…) auf eine Beteiligung an dessen Tat zumindest hätte hindeuten können.

Letztlich erschöpft sich die Begründung des Tatverdachts darin, dass aus den nächtlichen Standzeiten des Fahrzeugs des (…) im Nahbereich beziehungsweise gegenüber der Wohnanschrift des Beschwerdeführers auf ein Aufbewahren von Betäubungsmitteln für (…) durch den Beschwerdeführer geschlossen wird. Diese Annahme erschöpft sich in einer bloßen Vermutung, die den schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre des Beschwerdeführers nicht zu rechtfertigen vermag.“

Im Zusammenhang „Anfanfsverdacht“ als Grundlage für eine Durchsuchungsmaßnahme ist dann hinzuweisen auf den BGH, Beschl. v. 20.07.2022 – StB 29/22. Der BGH stellt noch einmal – auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG die Voraussetzungen für die – von ihm bejahte Annahme eine Anfangsverdachts fest, nämlich:

„a) Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen durchzuführenden Durchsuchung genügt der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer an dieser Tat in Betracht kommt. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht (st. Rspr.; vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05 , NJW 2007, 1443 15; BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2008 – StB 26/08 , BGHR StPO § 102 Tatverdacht 2 Rn. 5; vom 12. August 2015 – StB 8/15 , BGHR StPO § 102 Tatverdacht 3 Rn. 4). ….“

Und auf der Grundlage hat er keine Bedenken gegen die angeordnete Durchsuchungsmaßnahme gehabt.

Und fast wortgleich wie der BGH führt das LG Rostock im LG Rostock, Beschl. v. 16.08.2022 – 13 Qs 119/22 (1) – aus:

„Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es nicht.

Gemessen an diesen Maßstäben lagen zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses sachlich zureichende Gründe für eine Durchsuchung vor.

Diese ergeben sich aus der plausiblen Aussage des Zeugen pp. in seiner polizeilichen Vernehmung vom 11.02.2022. Danach habe er als unmittelbarer Nachbar einen ständigen starken Geruch von Cannabis aus der Wohnung und vom Balkon des Beschuldigten wahrgenommen und auch immer wieder Besuche von bis zu 15 Personen am Tag in der Wohnung des Beschuldigten mit nur kurzen Aufenthalten beobachten können. Außerdem habe der Cousin des Beschuldigten ihm erzählt, dass der Beschuldigte mit Marihuana, Koks und Speed Handel treibe.

Der vom Beschwerdeführer zur Begründung seines Rechtsmittels angeführte Umstand, der Zeuge habe selbst sein Verhältnis zum Beschuldigten als „nicht gut“ bezeichnet, was eine Motivlage für dessen Falschbelastung erkennen lasse, vermag den gegen diesen bestehenden Tatverdacht nicht zu entkräften. Dies deshalb schon nicht, weil bei einer solchen Motivlage kaum zu erwarten gewesen wäre, dass der Zeuge seine eher schlechte Beziehung zum Beschuldigten gegenüber der Polizei offenbart hätte.

Die Begründung der Durchsuchungsanordnung entspricht allerdings nicht in vollem Umfang den gesetzlichen Anforderungen. Zwar sind die dem Beschwerdeführer im Sinne eines Anfangsverdachts zur Last gelegte Straftat sowie die aufzufindenden Beweismittel in dem angefochtenen Beschluss noch hinreichend dargestellt.

Jedoch sind die tatsächlichen Umstände, aus denen sich der Tatverdacht gegen den Beschuldigten ergab, nicht näher ausgeführt; vielmehr verweist der Beschluss pauschal auf das „bisherige Ermittlungsergebnis und die Bekundungen eines Zeugen (BI. 11 f. d.A.)“, ohne zudem die Indiztatsache der einschlägigen Vorbelastung des Beschwerdeführers in diesem Zusammenhang zu erwähnen.

Dies ist zwar von Verfassungs wegen nur dann notwendig, wenn andernfalls die erforderliche Begrenzung der Durchsuchungsgestattung nicht gewährleistet ist (BVerfG, NStZ – RR 2002, 172f.). Die Darlegung jedenfalls der wesentlichen Verdachtsmomente ist jedoch einfachgesetzlich geboten, da dem Betroffenen nur so eine sachgerechte, umfassende Prüfung ermöglicht wird, ob der Beschluss rechtmäßig ergangen ist. Dafür, dass die Bekanntgabe der Verdachtsmomente den Untersuchungszweck gefährden würde und deshalb eine weitere Begründung unterbleiben durfte, ist nichts ersichtlich.

 

Die unzureichende Begründung des Durchsuchungsbeschlusses führt hier für sich allerdings nicht zur Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung. Der Beschluss lässt nämlich in ausreichendem Maße, insbesondere unter Hinweis auf die Bekundungen eines Zeugen, erkennen, dass die Ermittlungsrichterin die Voraussetzungen für seinen Erlass eigenständig geprüft hat. Dafür, dass diese die Vernehmungsniederschrift und den Bundeszentralregisterauszug vom 23.02.2022 nicht zur Kenntnis genommen hat, liegen insoweit keine Anhaltspunkte vor.

BVerfG II: Fingerabdruck und Polizeifotos beim Sprayer, oder: erkennungsdienstliche Maßnahmen zulässig?

entnommen obenclipart.org

Bei der zweiten BVerfG-Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 29.07.2022 – 2 BvR 54/22. Die dort vom BVerfG beschiedene Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die Anordnung mehrerer erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81b Alt. 1 StPO.

Ich nehme den Sach verhalt (wieder) aus der PM des BVerfG:

„….  Anfang Juni 2021 brachte ein zunächst unbekannter Täter an einem Gasverteilergebäude zwei großflächige, mit silberner Sprühfarbe ausgeführte Übermalungen der dort bereits in weißer und schwarzer Farbe angebrachten Schriftzüge „Toni F. Du Jude“ und „Antifa Boxen“ an. Der Täter wurde dabei von einem Zeugen angesprochen, gefilmt und fotografiert. Dieser Zeuge gab bei seiner späteren Vernehmung an, er sei in der Lage, die Person wiederzuerkennen. Die Eigentümerin des betroffenen Gebäudes stellte Strafantrag. Ausgehend von einem anonymen Hinweis erkannten zwei Polizeibeamte den Beschwerdeführer auf den vom Zeugen gefertigten Lichtbildern wieder. Gegen den Beschwerdeführer wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung eingeleitet.

Anfang Juli 2021 ordnete die Polizei an, den Beschwerdeführer gemäß § 81b Alt. 1 und 2 der Strafprozessordnung (StPO) erkennungsdienstlich zu behandeln und hierzu ein Fünfseitenbild, ein Ganzkörperbild, eine Personenbeschreibung, ein Spezialbild sowie einen Zehnfinger- und Handflächenabdruck anzufertigen. Zur Begründung führte die Anordnung unter anderem unter Bezugnahme auf § 81b Alt. 1 StPO aus, eine erkennungsdienstliche Behandlung sei notwendig, weil die „aufgeführten Maßnahmen“ zur Sachverhaltsaufklärung erforderlich seien. Der Beschwerdeführer sei von einem Zeugen gesehen, gefilmt und auf diesen Bildern von mehreren Polizeibeamten erkannt worden. Um den Beschwerdeführer der Tat beweiskräftig vor Gericht zu überführen, müsse dem Zeugen eine Wahllichtbildvorlage vorgelegt werden. Dies diene dazu, den Beschwerdeführer zu identifizieren oder ihn vom Tatvorwurf zu entlasten. Die Wiedererkennung durch Polizeibeamte allein sei bei fehlendem Geständnis, Inanspruchnahme des ihm zustehenden Aussageverweigerungsrechts oder dem Abstreiten der Tat vor Gericht als Beweis nicht geeignet, zumal das Bildmaterial von schlechter Qualität sei.

Soweit sich die Anordnung auf § 81b Alt. 1 StPO stützt, stellte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht einen Antrag auf gerichtliche Feststellung, dass diese aufzuheben sei. Das Amtsgericht bestätigte die Anordnung mit Beschluss vom 12. Oktober 2021. Zur Begründung nahm es auf die Gründe der Anordnung Bezug. Die Anordnung sei – auch ihrem Umfang nach – für die Aufklärung der Straftat erforderlich.

Gegen den Beschluss legte die Verteidigerin des Beschwerdeführers im Oktober 2021 Beschwerde zum Landgericht ein und führte in der Begründung aus, dass ihr Mandant nicht bestreite, die Person zu sein, mit der der Zeuge gesprochen habe. Weiterhin räume der Mandant ein, die Person auf den von dem Zeugen gefertigten Aufnahmen zu sein. Einer Anfertigung von Lichtbildern bedürfe es aus diesem Grund nicht. Eine Anfertigung von Finger- sowie Handflächenabdrücken sei dagegen nicht zulässig, da es kein Vergleichsmaterial gebe.

Nachdem das Amtsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen hatte, verwarf das Landgericht diese mit angegriffenem Beschluss vom 6. Dezember 2021 als unbegründet und nahm zur Begründung vollinhaltlich Bezug auf die polizeiliche Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung, der nichts hinzuzufügen sei.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die landgerichtliche Entscheidung.“

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Auch hier verweise ich wegen der Einzelheiten der Begründung auf den verlinkten Volltext. Hier nur:

„2. Der Beschluss des Landgerichts ist mit diesen Maßstäben nicht in Einklang zu bringen. Soweit er die Anfertigung eines Zehnfinger- und Handflächenabdrucks betrifft, war die Anfertigung dieser Abdrücke für die Strafverfolgung bereits nicht geeignet (a). Hinsichtlich der Anfertigung eines Fünfseiten- und Ganzkörperbildes hat das Landgericht die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG mangels Auseinandersetzung mit deren konkreter Notwendigkeit ebenfalls grundlegend verkannt (b).

a) Das Landgericht geht zwar unter Bezugnahme auf die Gründe der polizeilichen Anordnung noch nachvollziehbar davon aus, dass der Beschwerdeführer Beschuldigter in einem Strafverfahren war und gegen ihn ein konkreter Anfangsverdacht nach § 152 2 StPO wegen des Vorwurfs der Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 2 StGB bestand. Die Abnahme eines Zehnfinger- und Handflächenabdrucks war zur Erreichung des Zwecks der Maßnahme – der Täterfeststellung und damit der Durchführung des Strafverfahrens – jedoch bereits nicht geeignet. Die Identifizierung des Täters konnte nicht über die Abnahme eines Zehnfinger- und Handflächenabdrucks erfolgen, weil Finger- oder Handflächenabdrücke ausweislich der Ermittlungsakte am Tatort nicht sichergestellt wurden. Ausführungen zur konkreten Notwendigkeit dieser erkennungsdienstlichen Maßnahmen sind weder dem landgerichtlichen Beschluss noch der in Bezug genommenen Begründung der polizeilichen Verfügung zu entnehmen. Die polizeiliche Verfügung, auf welche das Landgericht in seiner Begründung verweist, verhält sich allein zur konkreten Notwendigkeit der Bildaufnahmen nach § 81b Alt. 1 StPO. Eine Begründung der Notwendigkeit der Abnahme von Zehnfinger- und Handflächenabdrücken weist sie lediglich für die erkennungsdienstliche Anordnung nach § 81b Alt. 2 StPO aus, die dem Zweck der Erforschung und Aufklärung zukünftiger Straftaten dienen sollte. Auf diese Begründung der Maßnahme gemäß § 81b Alt. 2 StPO kann für die Rechtmäßigkeit der Anordnung nach § 81b Alt. 1 StPO jedoch kein Bezug genommen werden. Denn die vom Gesetzgeber vorgegebenen präzisen Verwendungszwecke würden konterkariert, wollte man eine nach § 81b Alt. 2 StPO rechtmäßige Datenerhebung zur Kompensation für eine defizitär begründete Anordnung gemäß § 81b Alt. 1 StPO heranziehen.

b) Die konkrete Notwendigkeit der Anordnung der Anfertigung eines Fünfseiten- und Ganzkörperbildes hat das Landgericht ebenfalls nicht verfassungsrechtlich tragfähig begründet. In der vollinhaltlichen Bezugnahme auf die polizeiliche Anordnung, der nach Ansicht des Landgerichts nichts hinzuzufügen war, ist eine umfassende Abwägung zwischen den Interessen einer wirksamen Strafverfolgung und dem Interesse des Beschwerdeführers im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit der Maßnahme nicht erkennbar. Es fehlt bereits eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der Zeuge der Sachbeschädigung angegeben hatte, in der Lage zu sein, den Täter wiederzuerkennen. Dies hätte auch im Rahmen einer Beweisaufnahme in der – zeitnah zu erwartenden – Hauptverhandlung erfolgen können. Ebenso wenig erörtert die polizeiliche Anordnung, dass es auch dem Tatrichter im Rahmen der Hauptverhandlung grundsätzlich möglich gewesen wäre, einen Abgleich zwischen den in der Akte befindlichen Lichtbildern sowie dem Erscheinungsbild des Beschwerdeführers vorzunehmen. Es ergibt sich auch nicht aus der Akte, dass die von dem Zeugen gefertigten Lichtbilder für einen solchen Abgleich ungeeignet gewesen wären. Vielmehr erkannten die Polizeibeamten den Beschwerdeführer spontan auf diesen Lichtbildern wieder.“

U-Haft II: Schwerkriminalität und Fluchtgefahr, oder: Ohne Haftgrund gibt es keinen Haftbefehl

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den LG Stuttgart, Beschl. v. 05.08.2022 – 14 Qs 21/22 -, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Am 19.04.2022 erhob die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den zum damaligen Zeitpunkt auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten u.a. wegen der Vorwürfe der Vergewaltigung und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern Anklage beim AG Esslingen – Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht-. Nachdem der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts gegenüber der Staatsanwaltschaft Bedenken hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts geäußert hatte, nahm die Staatsanwaltschaft am 23.06.2022 die Anklage zurück und erhob nunmehr Anklage beim AG – Schöffengericht – Esslingen. Zugleich beantragte sie nun erstmals den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten. Am 11.07.2022 hat das AG im Umfang der Anklageschrift einen auf die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität gestützten Haftbefehl erlassen. Der Beschuldigte habe im Falle einer Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe im nicht bewährungsfähigen Bereich zu rechnen. Soziale Bindungen oder andere Faktoren, welche dem in Ansehung der zu erwartenden Strafe bestehenden Fluchtanreiz entgegenwirken könnten, seien derzeit nicht bekannt. Ebenfalls sei in den dem Beschuldigten zur Last liegenden Taten ein hohes Maß an krimineller Energie zu erkennen, da er über einen längeren Zeitraum hinweg verschiedene minderjährige Geschädigte über soziale Netzwerke kontaktiert und diese gezielt zur Ermöglichung sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen manipuliert haben solle. Ebenso lägen die Voraussetzungen von § 112 Abs. 3 StPO vor.

Nach der Festnahme des Angeschuldigten wird der Haftbefehl seit dem 19.7.2022 vollzogen. Die Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte Erfolg:

„Zwar ist der Beschwerdeführer der im angegriffenen Haftbefehl bezeichneten Taten dringend verdächtig. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund im Sinne des § 112 Abs. 2 und Abs. 3 StPO.

Soweit sich die Anordnung der Untersuchungshaft auf den Haftgrund der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO stützt, geht dies fehl, da bereits die formellen Voraussetzungen der Vorschrift nicht gegeben sind. In Abs. 3 findet sich dem Wortlaut nach eine atypische Ermächtigung zur Anordnung der Untersuchungshaft in den dort abschließend aufgeführten Fällen von Katalogtaten der Schwerkriminalität ohne Hinzutreten eines Haftgrundes im Sinne von § 112 Abs. 2 StPO. Aufgrund des vom Gesetzgeber gewählten Enumerationsprinzips findet die Vorschrift hingegen keine Anwendung, wenn die Norm nicht ausdrücklich im Katalog des Abs. 3 enthalten ist (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, 1. Aufl. 2014, StPO § 112 Rn. 88). So liegen die Dinge hier. Anknüpfungspunkt für die Charakterisierung als Katalogtat ist damit deren Bezeichnung nach Paragraph, Absatz, Nummer usw.. Nachdem die Vorschrift des § 176a Abs. 1 StGB in dieser abschließenden Aufzählung nicht enthalten ist, liegen bereits die formellen Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO nicht vor, so dass auch die Frage nach der Identität des Regelungsgehalts von § 176a StGB a.F. und § 176c Abs. 1 StGB keiner Beantwortung mehr bedarf.

Ebenfalls besteht ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO – auch unter Berücksichtigung der erheblichen Straferwartung – nicht. Denn allein die hohe Straferwartung vermag die Fluchtgefahr nicht begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 112 Rn. 24 m.w.N,). Daher ist die Straferwartung nur der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Beschwerdeführer werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, ob bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, ein Beschuldigter werde dem in der Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben (OLG Hamm, Beschluss vom 19. Februar 2013 — 5 Ws 59/13). Die danach vorzunehmende Gesamtwürdigung ergibt, dass hier der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht anzunehmen ist: Der Beschwerdeführer verfügt über einen festen Wohnsitz und ist aufgrund seiner ausgeübten Erwerbstätigkeit sozial eingebunden. Er ist selbstständig und habe Haus und Hof. Beides sind Umstände, die mit einer längeren Abwesenheit des Beschwerdeführers nicht verträglich sind. Überdies würde er im Fall seiner Flucht oder seines Untertauchens seinen krebskranken Vater zurücklassen. Ferner hat er bereits seit Anfang Juli 2021 Kenntnis von den Tatvorwürfen im Raum Ulm (l. A. des Haftbefehls), wobei Vorkehrungen, die darauf schließen ließen, er werde sich dem Verfahren durch Flucht entziehen, nicht getroffen wurden. Auch ist davon auszugehen, dass der anwaltlich beratene Beschwerdeführer eine grobe Vorstellung über die Höhe der zu erwartenden Rechtsfolgen hat. Nach alledem überwiegt nach Auffassung der Kammer die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeschuldigte sich dem Verfahren stellen wird. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist mithin nicht gegeben.

Schließlich ist die Anordnung der Untersuchungshaft auch nicht aufgrund von Wiederholungsgefahr gern. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO geboten. Die Wiederholungsgefahr muss durch bestimmte Tatsachen begründet sein, die eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die Gefahr besteht, er werde gleichartige Taten wie die Anlasstaten bis zur rechtskräftigen Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache begehen (KK-StPO/Graf, 8. Aufl, 2019, StPO § 112a Rn. 19). Erforderlich ist eine innere Neigung oder wenigstens Bereitschaft der Begehung von Straftaten, auf welche vor allem aus äußeren Tatsachen geschlossen werden kann. Insoweit sind auch Indiztatsachen zu berücksichtigen und zu würdigen, wie etwa die Vorstrafen des Beschuldigten und die zeitlichen Abstände zwischen ihnen sowie die Persönlichkeitsstruktur und die aktuellen Lebensumstände des Beschuldigten (BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed. 1.4.2022, StPO § 112a Rn. 13). Solche Indiz-tatsachen, die die erforderliche Wiederholungsgefahr zu begründen geeignet wären, sind vorliegend nicht vorhanden. Der Beschwerdeführer ist bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Ebenfalls liegen keine Hinweise auf weitere sexualstrafrechtliche Verfehlungen des Beschwerdeführers vor. Daher besteht die erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens nicht.“

Eine „schöne“ Entscheidung. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Ausführungen zur „Schwerkriminalität“. Denn es wird oft übersehen, dass auf diesen Haftgrund nur in den in § 112 Abs. 3 StPO enumerativ aufgezählten Fällen abgestellt werden kann/darf. Zudem ist die Regelung darüber hinaus verfassungskonform auszulegen. Denn der Haftgrund der Schwerkriminalität ist (nur) dann gegeben, wenn der Beschuldigte einer in § 112 Abs. 3 genannten Straftat – ungeachtet des im Einzelfall zu erwartenden Strafmaßes – dringend verdächtig ist und Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne seine Festnahme die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte; ausreichend ist dabei schon die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunklungsgefahr (BVerfGE 19, 342, 350 f.; zuletzt BGH, Beschl. v. 13.7.2022 – StB 28/22 – m.w.N.).

StPO III: Ende der Pflichti-Bestellung nach § 408b StPO?, oder: Nicht mit dem Einspruch gegen Strafbefehl

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Und im letzten Posting dann zwei Entscheidungen, die ich auch an einem Pflichti-Tag hätte bringen können. In beiden geht es nämlich um die Frage, wie lange eine nach § 408b StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung dauert. Nur bis zur Einlegung des Einspruchs oder ggf. auch darüber hinaus? Dazu gibt es ja bereits den LG Oldenburg, Beschl. v. 26.10.2021 – 4 Qs 424/21 -, über den ich hier auch berichtet habe.

Die Frage war nach altem Recht streitig, war aber schon „damals“ zutreffend dahin zu beantworten, dass die Bestellung über die Einlegung des Einspruchs hinaus andauert. Das gilt nach neuem Recht der Pflichtverteidigung erst recht – so hat es auch das LG Oldenburg gesehen. Und so sehen es auch die beiden Entscheidungen, die ich hier vorstelle, nämlich der LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.07.2022 – 16 Qs 59/22 – und der LG Stade, Beschl. v. 05.08.2022 – 102 Qs 2575 Js 37782/21 (26/22).

Ich stelle hier dann mal die Begründung aus dem LG Karlsruhe, Beschluss ein, die des LG Stade (a.a.O.) ist ähnlich:

„Das als sofortige Beschwerde (§ 143 Abs. 3 StPO) zu behandelnde Rechtsmittel des Angeklagten ist zulässig und begründet.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 408b StPO ist nicht auf das schriftliche Verfahren bis zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl beschränkt, sondern gilt bis zur Einlegung des Rechtsmittels gegen das auf den Einspruch hin ergangene amtsgerichtliche Urteil fort (OLG Oldenburg StV 2018, 152; OLG Köln NStZ-RR 2010, 30; OLG Celle StraFo 2011, 291; LR-Gössel, StPO, § 408b Rn 12, 13; KK-StPO-Maur, StPO, § 408b Rn 8; a.A. OLG Düsseldorf NStZ 2002, 390; KG Berlin, Beschluss v. 29.05.2012, 1 Ws 30/12, bei juris; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 17.09.2014, 1 Ws 126/14, bei juris).

Der Wortlaut des § 408b StPO enthält keine Beschränkung auf das schriftliche Strafbefehlsverfahren. Die besondere prozessuale Situation, die durch die Beiordnung nach § 408b StPO kompensiert werden soll, besteht zudem in veränderter Form auch nach Erlass des Strafbefehls fort.

Nach § 411 Abs. 2 S. 2 StPO gelten für das weitere Verfahren die Regeln des § 420 StPO. Im beschleunigten Verfahren werden diese erleichterten Regeln der Beweisaufnahme dadurch ausgeglichen, dass nach § 418 Abs. 4 StPO dem Angeklagten, der eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten hat, ein Verteidiger beizuordnen ist. Die Parallele spricht in systematischer Hinsicht für eine Geltung der Pflichtverteidigerbeiordnung nach § 408b StPO auch für das Hauptverfahren (OLG Celle StraFo 2011, 291 m.w.N.).

Wie sich aus § 143 Abs. 2 S. 1 StPO ergibt, kann die Beiordnung allerdings aufgehoben werden. Das ist vorliegend geschehen.

Die Aufhebungsmöglichkeit steht im Ermessen des Gerichts. Allerdings sind insoweit Vertrauensgrundsätze zu beachten. Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes grundsätzlich, hieran weiter festzuhalten (BeckOK StPO/Krawczyk StPO § 143 Rn. 7, 8 m.w.N.). eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung kommt dann in Betracht, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat oder sich die für die Bestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben (BeckOK StPO/Krawczyk a.a.O.).

Zwar weicht das Urteil hinsichtlich rechtlicher Würdigung und Rechtsfolgen von dem ursprünglichen Strafbefehl erheblich ab, es lässt sich aber weder den Urteilsgründen noch dem Hauptverhandlungsprotokoll entnehmen, dass bereits zum Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Beschlusses eine solche wesentliche Änderung der Umstände vorlag.

Der Übergang vom Strafbefehlsverfahren in das Hauptverfahren als solcher ist nach obigen Ausführungen kein solcher Umstand.“

Da die Frage, wie man an den Entscheidungen sieht, aber immer noch nicht einhellig gesehen wird, sollte man als Verteidiger – wegen der gebührenrechtlichen Auswirkungen – auf Klarstellung beim AG drängen und Bestätigung der Bestellung beantragen. Kostet ja nichts.

StPO II: AG lehnt Strafbefehlsantrag zunächst ab, oder: Wenn der Angeklagte dann in der HV ausbleibt

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Die zweite Konstellation tritt in der Praxis auch immer wieder auf.

Die Staatsanwaltschaft stellt einen Strafbefehlsantrag, dem das AG nicht nachkommt, sondern Hauptverhandlungstermin bestimmt. In der Hauptverhandlung erscheint der Angeklagte dan nicht. Frage: Kann dann noch ein Strafbefehl nach § 408a StPO erlassen werden?

Das AG Landstuhl hat die Frage im AG Landstuhl, Beschl. v. 27.05.2022 – 2 Cs 4231 Js 9469/21 – bejaht:

„Die Voraussetzungen von § 408a StPO liegen vor. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass das Gericht dem ursprünglichen Strafbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft vom 12.08.2021 nicht entsprochen, sondern gem. § 408 Abs. 3 S. 2 StPO Termin zur Hauptverhandlung bestimmt hat.

Gegen die Anwendbarkeit von § 408a StPO auf diese Fallkonstellation werden zwar in der Literatur (im Wesentlichen historische und grammatikalische) Bedenken erhoben. Zur Begründung wird regelmäßig darauf abgestellt, die Vorschrift setze den Erlass eines Eröffnungsbeschlusses voraus, an dem es im Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO jedoch fehle (vgl. etwa Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 408a Rn. 3; BeckOK-StPO/Temming, 43. Ed. 2022, § 408a Rn. 3). Zudem sei der Gesetzgeber, wie die Gesetzesbegründung zeige (BT-Drucks. 10/1313, S. 36), selbst davon ausgegangen, der Übergang ins Strafbefehlsverfahren nach § 408a StPO sei bei Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO nicht sachgerecht (kritisch hierzu zurecht Zähres, NStZ 2002, 296 f.).

Diese Argumente überzeugen jedoch nicht (ebenso MüKo-StPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, § 408a Rn. 6; i.E. ebenso AK-StPO/Loos, 1996, § 408a Rn. 4, der indes für eine analoge Anwendung von § 408a StPO auf diese Fallkonstellation plädiert).

Dass der Gesetzgeber selbst von einer Unanwendbarkeit der Regelung des § 408a StPO auf das Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO ausgegangen ist, steht einer hiervon abweichenden Auslegung der Vorschrift nicht entgegen. Wenngleich der Gesetzesbegründung bei der Auslegung von Gesetzen regelmäßig erhebliche Bedeutung zukommt, ist es in der Rechtswissenschaft anerkannt, dass eine strenge Bindung an den historischen Willen des Gesetzgebers nicht existiert; eine Rechtsnorm kann „klüger“ sein als ihre Verfasser (vgl. etwa Hirsch, JZ 2007, 853 (855); instruktiv Kausch, in: FS-Gerhard Otte, 2005, S. 165 (166)). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Gesetzgeber eine Begründung für seine Annahme, der Übergang ins Strafbefehlsverfahren nach vorangegangener Terminierung nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO sei „nicht sachgerecht“, schuldig bleibt.

Auf einen nach § 407 Abs. 1 S. 2 StPO gestellten Strafbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft, der gem. § 407 Abs. 1 S. 4 StPO die Anklageschrift ersetzt, kann das Gericht reagieren, indem es diesen erlässt (§ 408 Abs. 3 S. 1 StPO), Termin zur Hauptverhandlung bestimmt (§ 408 Abs. 3 S. 2 StPO) oder den Erlass ablehnt (§ 408 Abs. 2 S. 1 StPO). Die Ablehnung des Strafbefehlsantrags hat, da hierdurch das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts verneint wird, die Wirkung eines Nichteröffnungsbeschlusses (§ 408 Abs. 2 S. 2 StPO). Ein Vorgehen nach § 408 Abs. 3 S. 1 oder 2 StPO bedeutet demnach, da anderenfalls nach § 408 Abs. 2 S. 2 StPO zu verfahren wäre, dass der hinreichende Tatverdacht vom Gericht bejaht wird. Dies gilt nicht nur für den Erlass des Strafbefehls, sondern auch für die Anberaumung einer Hauptverhandlung. Mit Erlass der Terminsverfügung erhält der Angeschuldigte den Status des Angeklagten (MüKo-StPO/ Teßmer, 1. Aufl. 2016, § 157 Rn. 10; LR-StPO/Mavany, 27. Aufl. 2020, § 157 Rn. 4). Da ein Vorgehen nach § 408 Abs. 3 S. 1 oder 2 StPO die Prüfung und Bejahung eines hinreichenden Tatverdachts impliziert, hat die auf den Strafbefehlsantrag ergehende Terminsverfügung im Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO deshalb die Wirkung eines Eröffnungsbeschlusses (Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 408 Rn. 14; KK-StPO/Maur, 8. Aufl. 2019, § 408 Rn. 25; MüKo-StPO/Teßmer, 1. Aufl. 2016, § 157 Rn. 10; BeckOK-StPO/Temming, 43. Ed. 2022, § 408 Rn. 10; a.A. ohne nähere Begründung AG Eggenfelden, NStZ-RR 2009, 339 (140)), sodass das Wortlautargument jedenfalls im Ergebnis nicht verfangen kann.

Aber auch in teleologischer und systematischer Hinsicht sprechen die besseren Argumente für eine Anwendbarkeit von § 408a StPO auch auf das Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO. Bleibt ein Angeklagter ? wie vorliegend ? zur Hauptverhandlung aus, so verbliebe anderenfalls als einzige Möglichkeit die Ergreifung von Zwangsmitteln nach § 230 StPO. Dies begegnet vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes insbesondere in denjenigen Fällen Bedenken, in denen ? wie vorliegend ? lediglich eine Geldstrafe im unteren Bereich des Strafrahmens zu erwarten ist. Dafür, dass die für einen Angeklagten deutlich weniger eingriffsintensive Möglichkeit des Vorgehens nach § 408a StPO, mit der aufgrund der Einspruchsmöglichkeit auch keine Verkürzung seiner Rechte einhergeht, in dieser Fallkonstellation nicht zur Verfügung stehen soll, sodass lediglich der Rückgriff auf die Zwangsmittel des § 230 StPO verbleibt, besteht kein einleuchtender Grund. Die Versagung der Möglichkeit des Erlasses eines Strafbefehls nach § 408a StPO würde der Sache nach einen bloßen Formalismus darstellen, für den es keine prozessuale Rechtfertigung gibt. Insbesondere steht der Angeklagte nach Erlass eines Strafbefehls nach § 408a StPO prozessual nicht besser oder schlechter, als er gestanden hätte, wenn das Gericht bereits dem ursprünglichen Strafbefehlsantrag Folge gegeben hätte. Nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers hat § 408a StPO den Zweck, „steckengebliebene“ Verfahren in hierfür geeigneten Fällen „rationell“ zu beenden (BT-Drucks. 10/1313, S. 35 sowie 10/6592, S. 21). Bleibt ein Angeklagter ? wie vorliegend ? nach der Anberaumung der Hauptverhandlung gem. § 408 Abs. 3 S. 2 StPO unentschuldigt aus, bleibt das Verfahren stecken; ihm könnte nur durch die Ergreifung invasiver Zwangsmittel Fortgang gegeben werden, wenn der Weg des § 408a StPO versperrt wäre. Dessen Anwendung auf diese Fallkonstellation steht somit nicht nur in Einklang mit dem Gesetzeszweck, sondern entspricht auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und wahrt die Freiheitsrechte des Angeklagten.

Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung einen gegenüber dem ursprünglichen Strafbefehlsantrag modifizierten neuen Antrag gestellt, der den vom Gericht geäußerten ursprünglichen Bedenken Rechnung trägt, sodass die Voraussetzungen des § 408 Abs. 3 S. 1 StPO nunmehr vorliegen und dem Antrag gem. § 408a Abs. 2 S. 1 StPO zu entsprechen war.“