Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

StPO I: Anklageschrift als elektronisches Dokument, oder: Einfache oder qualifizierte Signatur?

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Und dann heute ein paar StPO- Entscheidungen, und zwar zum elektronischen Dokument und was damit so zusammenhängt.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 24.09.2025 – 5 StR 250/25, der sich zu der Frage äußert, ob eine als elektronisches Dokument übermittelte Anklageschrift nach § 32b Abs. 1 Satz 2 StPO mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sein muss. Der BGG sagt in seinem für BGHSt vorgesehenen beschluss: Nein:

„1. Die dem Landgericht als elektronisches Dokument übermittelte Anklageschrift, die von dem sie verantwortenden Staatsanwalt durch Hinzufügung seines Namens einfach elektronisch signiert wurde, genügt der Form des § 32b Abs. 1 Satz 1 StPO. Die Vorschrift gilt für als elektronische Dokumente erstellte Anklageschriften. Einer qualifizierten elektronischen Signatur nach § 32b Abs. 1 Satz 2 StPO bedarf es nicht. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 32b Abs. 1 StPO und aus Sinn und Zweck der Regelung; die Entstehungsgeschichte der Vorschrift stützt dieses Ergebnis.

a) Nach dem Wortlaut des mit Wirkung zum 1. Juli 2021 neu gefassten § 32b Abs. 1 Satz 2 StPO bedürfen zu unterschreibende oder zu unterzeichnende elektronisch erstellte Dokumente einer qualifizierten elektronischen Signatur. Solche Unterschriftserfordernisse sieht die Strafprozessordnung allerdings nur für Urteile (§ 275 Abs. 2 StPO) und für gerichtliche Protokolle (§ 168 Satz 4 und § 271 Abs. 1 StPO) vor. Die Vorschriften der § 199 Abs. 2, § 200 StPO, in denen die gesetzlichen Anforderungen für die Erhebung der Anklage und die Abfassung von Anklageschriften normiert sind, enthalten eine dahingehende Regelung nicht.

b) Auch aus dem Gesetzeszweck folgt, dass eine elektronisch erstellte und entsprechend übermittelte Anklageschrift lediglich mit einer einfachen elektronischen Signatur im Sinne des § 32b Abs. 1 Satz 1 StPO versehen sein muss.

Sinn und Zweck des § 32b Abs. 1 StPO ist es, die Authentizität und Integrität der von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten selbst erstellten Dokumente in ausreichender Weise sicherzustellen (BT-Drucks. 18/9416, S. 48). Gleichzeitig soll das Strafverfahren weiter an die sich ständig wandelnden gesellschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen angepasst und dafür Sorge getragen werden, dass die Strafrechtspflege ihre wesentlichen verfassungsrechtlichen Aufgaben erfüllen kann (BT-Drucks. 19/27654, S. 1). Wie der Gesetzgeber aufgezeigt hat, sollen die im Anwendungsbereich des § 32b Abs. 1 StPO geltenden Formerfordernisse an die mit der fortschreitenden Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs verbundenen technischen Möglichkeiten angepasst werden. Daher sind die für die Papieraktenführung entwickelten Grundsätze zu nicht unterschriebenen Anklageschriften – soweit darin eine Unterschrift als grundsätzliches Formerfordernis angesprochen wird (vgl. hierzu RG, Urteil vom 18. Februar 1905 – 5620/04, RGSt 37, 407, 408; LR-StPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 200 Rn. 78 und 96; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 200 Rn. 38; MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 200 Rn. 124; im Ergebnis offen gelassen von BGH, Beschlüsse vom 27. April 2020 – 5 StR 117/20; vom 5. Dezember 2017 – 4 StR 323/17, NStZ 2018, 538 jeweils mwN; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. August 1993 – 1 Ws 676/93, MDR 1994, 85; vgl. auch Kulhanek, NJW 2025, 2515, 2516 und LG Würzburg, Beschluss vom 24. April 2025 – 6 Qs 67/25 Rn. 25 ff.) – nur eingeschränkt übertragbar (OLG Dresden, Beschluss vom 9. April 2025 – 6 Ws 8/25, NJ 2025, 362, 365 f.; LG Würzburg aaO Rn. 32).

Der Grad der Formstrenge ist danach zu bemessen, was nach den maßgeblichen verfahrensrechtlichen Vorschriften sinnvoll zu fordern ist (BVerfG, Beschluss vom 19. Februar 1963 – 1 BvR 610/62, BVerfGE 15, 288, 292; BGH, Beschluss vom 30. April 1979 – GmS-OBG 1/78, BGHZ 75, 340, 348). Hinsichtlich der Gewährleistung der Integrität und Authentizität von Dokumenten ist der Gesetzgeber zuletzt davon ausgegangen, dass diese bei elektronischer Aktenführung auf anderem Wege und häufig zuverlässiger sichergestellt werden kann als durch das Pendant zur eigenhändigen Unterschrift, weil die nachträgliche Veränderung von Dokumenten bei elektronischer Datenverarbeitung – auch ohne eine qualifizierte elektronische Signatur – bereits anhand der Metadaten überprüft werden kann (BT-Drucks. 19/27654, S. 55).

Es ist auch kein Grund dafür ersichtlich, an die in § 32b Abs. 1 StPO geregelte justizinterne Kommunikation der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte untereinander höhere Anforderungen zu stellen als an die Kommunikation von justizfremden Verfahrensbeteiligten oder Dritten mit diesen Einrichtungen. Diesen Personen lässt die Vorschrift des § 32a Abs. 3 StPO – die in Anlehnung an § 130a Abs. 3 ZPO für den Zivilprozess geschaffen (BT-Drucks. 18/9416, S. 45) und vom Gesetzgeber explizit unverändert gelassen wurde (BT-Drucks. 19/27654, S. 56) – bei Einreichung von elektronischen Dokumenten an Strafverfolgungsbehörden und Gerichte die Wahl, ob das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen oder von ihr (einfach) signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg im Sinne von § 32a Abs. 4 StPO eingereicht wird.

Da Strafverfolgungsbehörden und Gerichte über sichere Übermittlungswege kommunizieren (vgl. § 32 Abs. 3 StPO iVm § 4 StrAktÜbV für die Übermittlung elektronisch geführter Strafverfahrensakten; § 32d Abs. 5 StPO iVm § 5 DokErstÜbV für die Erstellung und Übermittlung elektronischer Dokumente; BT-Drucks. 19/27654, S. 56) und die tatsächliche Einhaltung der Authentizität der Dokumente innerhalb der Staatsanwaltschaften durch behördenintern geregelte Verfahrensabläufe sichergestellt wird (vgl. hierzu OLG Dresden, Beschluss vom 9. April 2025 – 6 Ws 8/25, NJ 2025, 362, 365; LG Würzburg, Beschluss vom 24. April 2025 – 6 Qs 67/25 Rn. 28; BayObLG, Beschluss vom 1. Juli 2025 – 202 StRR 39/25, NJW 2025, 2570), bedarf es einer über die gesetzliche Regelung des § 32b Abs. 1 Satz 1 StPO hinausgehenden qualifizierten elektronischen Signatur nach § 32b Abs. 1 Satz 2 StPO nicht. Zudem ist die Herkunft eines elektronisch auf einem sicheren Übermittlungsweg übersandten Dokuments in der Regel besser nachvollziehbar, als wenn es auf dem Postweg übersandt wird (BT-Drucks. 19/27654, S. 55).

c) Die Entstehungsgeschichte der aktuellen Fassung der Vorschrift stützt dieses Ergebnis.

….“

Verletzter III: Antrag auf gerichtliche Entscheidung, oder: Verletzter einer Straßenverkehrsgefährdung

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Und dann als dritte Entscheidung zum Oberbegriff: Verletzter, den OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.09.2025 – 1 Ws 101/25 (S). Er stammt aus einem Klageerzwingungsverfahren. In dem ist es aber mal nicht um die Antragerfordernis gegangen sondern um die Antragsbefugnis der Antragsteller. Dazu das OLG:

„Am 13. Oktober 2024 erstattete der Antragsteller („Name 01“) gegenüber der Polizeidirektion West Anzeige gegen den Beschuldigten wegen Gefährdung des Straßenverkehrs, § 315 c StGB. Er warf dem Beschuldigten vor, mit seinem E-Lastenfahrrad mit überhöhter Geschwindigkeit den Fußweg entlang der („Adresse 01“) in („Ort 01“). befahren zu haben. Infolgedessen sei es zu einer Beinahe-Kollision mit dem Rollstuhl des Sohnes des Anzeigeerstatters, dem Antragsteller („Name 02“), gekommen, der sich mit seinem Rollstuhl aus der Haustür auf den Bürgersteig bewegt habe. Nur dadurch, dass der Antragsteller („Name 01“) den Rollstuhl geistesgegenwärtig zurückgezogen habe, sei ein Unfall verhindert worden.

Nach Vernehmung des Beschuldigten und erfolglosen Versuchen, eine Augenzeugin namhaft zu machen, stellte die Staatsanwaltschaft Potsdam das Ermittlungsverfahren am 04. Februar 2025 ein und erteilte dem Anzeigeerstatter („Name 01“) einen Bescheid hierüber.

…..

II.

Der Senat folgt dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg. Die Anträge beider Antragsteller auf gerichtliche Entscheidung sind gemäß § 172 Abs. 2 StPO als unzulässig zu verwerfen.

1. Der von („Name 01“) im eigenen Namen gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist bereits deshalb unzulässig, weil Herr („Name 01“) nach seinem eigenen Vorbringen nicht Verletzter der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat ist. Für eine strafrechtlich relevante Einbuße oder Gefährdung von Rechtsgütern des Herrn („Name 01“), namentlich seiner körperlichen Unversehrtheit und seines Eigentums, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Das Klageerzwingungsverfahren kann aber nur betreiben, wer Verletzter ist, § 172 Abs. 1 S. 1 StPO.

2. Auch der von Herrn („Name 01“) als gerichtlich bestellter Betreuer für seinen Sohn („Name 02“) gestellte Antrag erweist sich als unzulässig.

a) Soweit sich der Antrag auf die Straftatbestände der (fahrlässigen) Körperverletzung, der Nötigung und der Sachbeschädigung, §§ 223, 229, 240, 303 StGB, bezieht, ist er bereits deshalb unzulässig, weil es sich bei den genannten Delikten um Privatklagedelikte nach § 374 Abs. 1 Ziff. 4, 5 und 6 StPO handelt, die im Wege des Klageerzwingungsverfahrens nach § 172 StPO nicht verfolgt werden können.

Zwar ist der Klageerzwingungsantrag gemäß § 172 Abs. 2 S. 3 StPO nur unzulässig, wenn das Verfahren ausschließlich ein Privatklagedelikt zum Gegenstand hat, der Antrag bleibt aber hinsichtlich dieses Delikts auch dann unzulässig, wenn das Privatklagedelikt in Tateinheit mit einem Offizialdelikt begangen worden sein soll, hinreichender Tatverdacht wegen des Offizialdelikts jedoch nicht besteht (Senat, Beschluss vom 11. Dezember 2008 – 1 Ws 225/08 – Rz. 4; OLG Stuttgart Justiz 1990, 372; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, zu § 172, Rz. 2).

So liegt der Fall hier. Ein Tatverdacht gegen den Beschuldigten wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, § 315 b Abs. 1 Ziff. 2 und 3 StGB, liegt aus den in dem Bescheid des Generalstaatsanwalts des Landes Brandenburg vom 04. Juni 2025 genannten Gründen nicht vor. Hierzu bedarf es eines von außen in den Straßenverkehr einwirkenden verkehrsfremden Eingriffs (BGHSt 48, 233). Nimmt der Täter selbst am fließenden Verkehr teil, ist dieses Erfordernis nur dann erfüllt, wenn er sein Fahrzeug bewusst zweckwidrig in verkehrswidriger Absicht einsetzt („verkehrsfremder Inneneingriff“, vgl. Fischer, StGB, 72. Auflage, zu § 315 b, Rz. 9 b). Dafür liegen keine Anhaltspunkte vor.

b) Bezogen auf eine Strafbarkeit des Beschuldigten nach § 315 c Abs. 1 StGB fehlt auch dem Antragsteller („Name 02“) die Verletzteneigenschaft.

Das dem Beschuldigten vorgeworfene Vergehen der fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung nach § 315 c Abs. 1 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt mit doppelter Schutzrichtung: Einerseits soll die Sicherheit des Straßenverkehrs als Rechtsgut der Allgemeinheit gewährleistet werden, andererseits sollen Individualrechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum bereits im Vorfeld, also im Gefährdungsstadium, vor Schädigungen bewahrt werden (vgl. dazu Fischer a. a. O., zu § 315c Rz. 2 m. w. N.). Soweit § 315 c StGB Individualrechtsgüter bereits im Vorfeld schützt, sind die Rechtsgutträger bei lediglich konkreter Gefährdung des Rechtsguts nicht unmittelbar Verletzte im Sinne des § 172 Abs. 1 S. 1 StPO (OLG Stuttgart NJW 1997, 1320 zu § 172; Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O., zu § 172, Rz. 12). Die durch Straßenverkehrsstraftatbestände geschützten Individualrechtsgüter sind vielmehr in aller Regel solche, deren Verletzung im Wege des Privatklageverfahrens verfolgt werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einstellt.

Das gilt auch für die in § 315 c StGB durch einen konkreten Gefährdungstatbestand geschützte körperliche Unversehrtheit, da die fahrlässige Körperverletzung gemäß § 229 StGB ein Privatklagedelikt ist, für welches das Klageerzwingungsverfahren nach § 172 Abs. 2 S. 3 StPO ausgeschlossen ist. Diese gesetzlich angeordnete Begrenzung der zur Klageerzwingung berechtigenden Straftatbestände würde unterlaufen, wenn demjenigen, der schon als unmittelbar Verletzter kein Recht zum Betreiben des Klageerzwingungsverfahrens hätte, ein solches Recht eingeräumt würde, obwohl er in seinem Rechtsgut, etwa in seiner körperlichen Unversehrtheit, lediglich konkret gefährdet worden ist. Wer schon als körperlich Verletzter keine Antragsbefugnis hätte, kann sie als lediglich Gefährdeter erst recht nicht haben (OLG Stuttgart, Beschluss vom 20. Dezember 1996 – 1 Ws 189/96 – Rz. 3 ff., juris = NJW 1997, 1320; Senat, Beschluss vom 17. März 2008 – 1 Ws 125/07 – Rz. 3, juris = VRS 114, 373).

Anderes gilt nur dann, wenn nach dem zugrundeliegenden Sachverhalt ein tödlicher Ausgang des Verkehrsunfalls nahe lag. Das Argument, der Schutz des lediglich konkret Gefährdeten dürfe nicht weiter reichen als derjenige des tatsächlich Verletzten, greift dann nicht durch, weil das Privatklageverfahren wegen fahrlässig begangener Tötungsdelikte unstatthaft ist (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 30. August 2004- 2Ws181/04- Rz. 2, juris = NStZ-RR 2004, 369; Senat a. a. O.). Hier liegen für einen tödlichen Ausgang des Unfalls allerdings entgegen der Auffassung der Antragsteller keine tragfähigen Anhaltspunkte vor.

3. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Klageerzwingungsantrag im Fall seiner Zulässigkeit als unbegründet hätte zurückgewiesen werden müssen, da aus den Gründen der Bescheide der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 04. Februar 2025 und des Generalstaatsanwalts des Landes Brandenburg vom 04. Juni 2025, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen insgesamt verwiesen wird, ein zur Aufnahme weiterer Ermittlungen erforderlicher Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) nicht gegeben ist und daher die Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO zu Recht erfolgt ist.“

 

Verletzter I: Nebenklagebefugnis nach Adoption?, oder: Ehemaliger leiblicher Vater und Halbschwester

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Heute gibt es denn drei Entscheidungen zur Nebenklage bzw. zu den Rechten des „Verletzten“. In der ersten hier vorgestellten Entscheidung – es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 27.08.2025 – 4 StR 80/25 – geht es um die Anschlussbefugnis als Nebenkläger.

Gestritten worden ist um die Anschlussbefugnis des leiblichen Vater bzw. die leiblichen Halbschwester eines Getöteten nach einer Adoption. Und zwar: Der Antragsteller H. M. ist der leibliche Vater des durch die Tat, die Verfahrengegenstand ist, am 22.042020 getöteten W. , die Antragstellerin L. M. ist dessen leibliche Halbschwester. Der Getötete wurde am 28.09.1973 als Sohn von H. M. geboren und bereits im Jahr 1974 als Kleinkind von den Eheleuten W. adoptiert, infolgedessen er fortan den Namen W. führte. Im Jahr 1993 wurde die Antragstellerin L. M. als Tochter des Antragstellers H. M. geboren. Am 10.03.2025 beantragten H. M. und L. M. , als leiblicher Vater beziehungsweise als leibliche (Halb-)Schwester des W. die Nebenklagezulassung im vorliegenden Verfahren.

Der BGH hat die Anschlussbefugnis verneint:

„2. Eine Nebenklagebefugnis der Antragssteller liegt nicht vor. Wer befugt ist, sich als Hinterbliebener eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten dem Verfahren als Nebenkläger anzuschließen, regelt § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO abschließend. Maßgeblich ist der Verfahrenszeitpunkt (vgl. Wenske in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 395 Rn. 45, 47 mwN). Berechtigt sind danach zwar auch Personen, deren Kinder und Geschwister – wozu auch Halbgeschwister zählen (Schmitt in Schmitt/Köhler, StPO, 68. Aufl., § 395 Rn. 8 mwN) – durch eine rechtswidrige Tat getötet wurden. Beide Antragsteller gehören als nicht im Rechtssinne, sondern „lediglich“ leiblicher Vater beziehungsweise leibliche Halbschwester des Getöteten jedoch nicht zu diesem Personenkreis (vgl. BGH, Beschluss vom 18. September 2012 – 3 BGs 262/12, NJW 2012, 3524 zur Nebenklageberechtigung nach Ehescheidung).

a) Einer Nebenklagebefugnis der beiden Antragsteller steht schon der Wortlaut der maßgeblichen Regelungen entgegen. Gemäß Art. 51 EGBGB finden, soweit in der Strafprozessordnung rechtliche Folgen an die Verwandtschaft geknüpft sind, die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über Verwandtschaft Anwendung. Gemäß § 1755 Abs. 1 Satz 1 BGB erlöschen das Verwandtschaftsverhältnis des Kindes und seiner Abkömmlinge zu den bisherigen Verwandten und die sich aus ihm ergebenden Rechte und Pflichten mit der Annahme (sog. Volladoption). Danach ist das Verwandtschaftsverhältnis des Antragstellers H. M. zu dem Getöteten durch dessen Annahme als Kind durch die Eheleute W. im Jahr 1974 erloschen. Anderes würde vorliegend nur dann gelten, wenn der gemäß § 10 des „Gesetzes über die Annahme als Kind und zur Änderung anderer Vorschriften (Adoptionsgesetz)“ vom 2. Juli 1976 zum 1. Januar 1977 in Kraft getretene § 1755 BGB (BGBl. I S. 1749, 1761) auf die bereits 1974 erfolgte Annahme des Getöteten W. keine Anwendung fände. Das setzte indes voraus, dass bis zum 31. Dezember 1977 eine Erklärung nach § 2 Abs. 2 des Adoptionsgesetzes durch den dort genannten Personenkreis erfolgt ist, wonach auf die Annahme des Getöteten nicht die Vorschriften dieses Gesetzes über die Annahme Minderjähriger angewandt werden sollten. Für die Abgabe einer solche Erklärung gibt es vorliegend keinen Anhalt.

Aus dem im Jahr 2013 neu eingeführten § 1686a BGB, der die Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters regelt, folgt nichts Anderes, denn Statusfolgen sind damit nicht verbunden (vgl. BeckOGK/Altrogge, 15. Juli 2024, BGB § 1686a Rn. 23).

Auch die Antragstellerin L. M. gilt nach dem Ausgeführten nicht als (Halb-)Schwester des Getöteten im Sinne des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO, denn die Wirkung des Erlöschens nach § 1755 Abs. 1 Satz 1 BGB gilt auch für die Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Personen, die über die bisherige Eltern-Kind-Beziehung vermittelt wurden, und für die Zukunft ab Wirksamkeit der Adoption (vgl. BeckOK-BGB/Pöcker, 75. Ed., § 1755 Rn. 2 f.), so dass sie aufgrund der bereits vor ihrer eigenen Geburt erfolgten Adoption des Getöteten nie in einem rechtlichen Geschwisterverhältnis zu diesem stand.

b) Der Berechtigung der beiden Antragsteller als Nebenkläger stehen auch die Gesetzessystematik, nach der eine Erstreckung auf erloschene Näheverhältnisse, insbesondere erloschene Verwandtschaftsverhältnisse, nicht generell, sondern nur bei entsprechender ausdrücklicher Regelung anzunehmen ist, und der gesetzgeberische Wille entgegen.

Anders als etwa die Legaldefinition des Begriffs des „Angehörigen“ im Strafgesetzbuch (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB), die im Hinblick auf die Regelung des Art. 51 EGBGB insoweit keine Anwendung findet (Art. 1 Abs. 1 Halbsatz 2 EGStGB), aber ausdrücklich auch nicht mehr bestehende Näheverhältnisse erfasst, enthält § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO eine entsprechende Erstreckung nicht. Gleichermaßen finden sich auch in der Strafprozessordnung ausdrücklich an bestehende und nicht mehr bestehende Näheverhältnisse anknüpfende Regelungen, so insbesondere bei den gesetzlichen Ausschließungsgründen vom Richteramt gemäß § 22 Nr. 2 und Nr. 3 StPO sowie bei den Regelungen über die Berechtigung zur Zeugnisverweigerung nach § 52 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 2a und Nr. 3 StPO. Überdies machte der Gesetzgeber im Zuge der Neuregelung des Adoptionsrechts zugleich auch deutlich, dass er zwischen leiblicher Abstammung und Verwandtschaft unterschied, indem er den Straftatbestand des § 173 StGB aF, der den Beischlaf unter „Verwandten“ unter Strafe stellte, dahingehend im Wortlaut anpasste, dass dieser stattdessen fortan von „leiblichem Abkömmling“ sprach, um so den insoweit geltenden Rechtszustand beizubehalten (BT-Drucks. 7/3061 S. 10, 61).

Es entsprach zudem dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen, das infolge der Neuregelung des Adoptionsrechts zum 1. Januar 1977 nach § 1755 BGB erloschene Verwandtschaftsverhältnis des adoptierten Kindes zu seinen bisherigen Verwandten nur noch in einigen „Sonderbereichen“ weiterhin zu berücksichtigen (vgl. BT-Drucks. 7/3061 S. 43), zu denen die Nebenklagebefugnis nicht gehörte (vgl. BT-Drucks. 7/3061 S. 10 f., 61 ff.). Ausdrücklich sah bereits der – später so umgesetzte – Gesetzentwurf ein Fortbestehen des Zeugnisverweigerungsrechts und des Ausschließungsgrundes auch nach Erlöschen des Verwandtschaftsverhältnisses zu den leiblichen Verwandten im Hinblick auf zu diesen fortbestehende persönliche Bindungen vor, während er etwa einen Übergang des Strafantragsrechts auf Angehörige, zu denen zivilrechtlich ein Verwandtschaftsverhältnis nicht (mehr) besteht, ausdrücklich als nicht gerechtfertigt ansah (vgl. BT-Drucks. 7/3061 S. 61 f.).

Explizit Abstand nahm der Gesetzgeber von einer Neuregelung der Anschlussbefugnis der Angehörigen eines Getöteten beim Erlass des „Ersten Gesetzes zur Verbesserung der Stellung der Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz)“ vom 18. Dezember 1986 (BGBl. I S. 2496). Die bestehenden Regelungen für deren Anschlussbefugnis sah er vielmehr ausdrücklich als „weiterhin sachgerecht“ an, weshalb sie sachlich unverändert beibehalten bleiben könnten (BT-Drucks. 10/5305 S. 11). Auch die mit dem „Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften“ vom 16. Februar 2001 (BGBl. I S. 266) einhergehende Erweiterung der Nebenklagebefugnis auf Lebenspartner in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO (BGBl. I S. 275) und die entsprechenden Anpassungen etwa der Regelungen der § 22 Nr. 2 StPO und § 52 Nr. 2a StPO – Erstreckungen auf bestehende und beendete Lebenspartnerschaften – nahm der Gesetzgeber nicht zum Anlass, auch die Nebenklagebefugnis als solche auf beendete Verwandtschaftsverhältnisse auszuweiten (vgl. BT-Drucks. 14/3751 S. 58 f.).

c) Schließlich gebieten Sinn und Zweck der Nebenklageberechtigung, den nahen Angehörigen, die durch die Straftat in eigenen Vermögensrechten betroffen sind, ein Recht zur Nebenklage zu geben, um ihren Anspruch auf Genugtuung und Entschädigung durch Beteiligung am Strafverfahren durchzusetzen und so divergierende Entscheidungen in einem zivilgerichtlichen Rechtsstreit auf Schadensersatz zu vermeiden, keine erweiternde Anwendung der Regelung des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Februar 1993 – 2 BvR 1491/91, NJW 1993, 3316 mwN; BGH, Beschluss vom 18. September 2012 – 3 BGs 262/12, NJW 2012, 3524 Rn. 23 ff.). Vielmehr ist es geboten, diese rechtssicher und praktikabel ihrem klaren Wortlaut folgend anzuwenden, zumal Gründe, die eine Gleichstellung der leiblichen Verwandtschaft mit dem in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannten Personenkreis veranlasst erscheinen ließen, nicht ersichtlich sind.“

Pflichti II: Fristsetzung zur Verteidigerbenennung, oder: Umbeiordnung bei zu kurzer Frist

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Im Mittagsposting stelle ich dann den LG Halle, Beschl. v. 10.11.2025 – 10a Qs 126/25 – zur Umbeiordnung vor.

In dem Verfahren wird den Angeklagten eine gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Mit am 10.06.2025 gefertigtem und abgesendetem gerichtlichen Schreiben informierte das AG Halle die Angeschuldigten über die beabsichtigte Pflichtverteidigerbestellung und forderte sie auf, innerhalb einer Woche mitzuteilen, ob bereits ein Rechtsanwalt beauftragt worden sei bzw. welcher Rechtsanwalt bestellt werden solle. Zugleich wies es sowohl auf die Möglichkeit gerichtlicher Informationserteilung zur Erleichterung der Kontaktierung eines Verteidigers als auch darauf hin, dass im Falle des Unterbleibens einer Benennung das Gericht einen Rechtsanwalt auswählen werde.

Mit beim AG am 18.06.2025 eingegangenem Schreiben erbat der Angeschuldigte pp.2 die Bereitstellung solcher Informationen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Mit Schreiben vom 23.06.2025 Schreiben teilte ihm das AG daraufhin mit, dass er über die RAK Sachsen-Anhalt entsprechende Informationen erhalten könne. Mit Beschluss vom 02.07.2025 bestellte das AG dem Angeschuldigten Pp.2 dann Rechtsanwalt Pp.3 aus Halle (Saale) als Pflichtverteidiger. Hierzu führte es aus, dass der Angeschuldigte innerhalb der ihm gesetzten Frist, die ausreichend lang gewesen sei, keinen Verteidiger bezeichnet habe. Mit Schriftsatz vom 02.07.2025 zeigte Rechtsanwalt Pp.4 die Verteidigung des Angeschuldigten Pp.2 an und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Das AG teilte mit, dass es beabsichtige den Pflichtverteidigerwechsel vorzunehmen, dies jedoch voraussetze, dass der Staatskasse keine Mehrkosten entstünden, weshalb es die Erklärung erbat, dass auf bisher angefallene Gebühren für die Pflichtverteidigung verzichtet werde. Diese Erklärung gab Rechtsanwalt Pp.4 nicht ab. Mit Beschluss vom 14.10.2025 lehnte das AG den Antrag des Angeschuldigten auf Bestellung von Rechtsanwalt Pp.4 als Pflichtverteidiger ab. Dagegen hat der Angeschuldigte sofortige Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte:

„Sie hat auch in der Sache Erfolg, weil die Voraussetzungen des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO vorlagen.

Eine Umbeiordnung gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist vorzunehmen, wenn einem Beschuldigten ein anderer als der von ihm innerhalb der nach § 142 Abs. 5 S. 1 StPO bestimmten Frist bezeichnete Verteidiger beigeordnet wurde oder ihm zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt wurde und er innerhalb von drei Wochen nach Bekanntmachung der Entscheidung über die Bestellung beantragt, ihm einen anderen Verteidiger zu bestellen und dem kein wichtiger Grund entgegensteht.

Rechtsanwalt Pp.4 hat schriftsätzlich mehrfach darauf hingewiesen, dass die Dreiwochenfrist mangels Belehrung des Angeschuldigten über die Möglichkeit eines Verteidigerwechsels bereits nicht zu laufen begonnen habe. Dies wird in obergerichtlicher Rechtsprechung teilweise so vertreten (OLG Koblenz, Beschl. v. 28.10.2020 – 4 Ws 639/20; BeckRS 2020, 44942 Rn. 16, beck-online). Der Akte lässt sich jedoch schon nicht entnehmen, wann der Beschluss vom 02.07.2025, mit dem dem Angeschuldigten Pp.2 Rechtsanwalt Pp.3 als Pflichtverteidiger bestellt worden ist, dem Angeschuldigten zugestellt worden ist. Eine Zustellungsurkunde ist nicht bei der Akte. Das Amtsgericht Halle (Saale) ist zudem in dem hier angegriffenen Beschluss vom 14.10.2025 selbst davon ausgegangen, dass die Beiordnung von Rechtsanwalt Pp.4 innerhalb der Dreiwochenfrist beantragt worden sei (2. a. des Beschlusses). Insoweit dürfte die Verteidigungsanzeige vom 02.07.2025 auch genügen.

Dem Angeschuldigten wurde hier nur eine kurze Frist gesetzt. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO soll solche Fälle erfassen, in denen der Beschuldigte seine Entscheidung zur Auswahl eines Pflichtverteidigers unter hohem zeitlichen Druck treffen musste. Von einer zu kurzen Frist ist auszugehen, wenn sie auf eine kurze Bedenkzeit reduziert wurde, wobei eine Einzelfallbetrachtung geboten ist (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 143a Rn. 11 StPO; BT-Drucks. 19/13829, 47). Diese ergibt hier, dass dem Angeschuldigten Pp.2 nicht genügend Zeit zur Benennung eines Pflichtverteidigers gewährt worden ist.

Grundsätzlich gilt, da die Fristsetzung zur Benennung eines Verteidigers eine gerichtliche Entscheidung im Sinne des § 35 Abs. 2 StPO ist, dass diese, sofern sie schriftlich durch ein Anhörungsschreiben erfolgt, zuzustellen ist. Ein Zustellungsnachweis liegt auch insoweit nicht vor. Nachdem der Angeschuldigte auf das entsprechende Schreiben, das am 10.06.2025 gefertigt und abgesendet worden war, mit Schreiben vom 16.06.2025, eingegangen am 18.06.2025 und damit wohl jedenfalls innerhalb der ursprünglichen Wochenfrist, die Bereitstellung von Informationen im Hinblick auf die zu treffende Verteidigerauswahl erbeten und das Amtsgericht ihm mit Schreiben vom 23.06.2025 mitgeteilt hatte, dass er Informationen über die Rechtsanwaltskammer erhalten könne, hat es bereits am 02.07.2025 Rechtsanwalt Pp.3 als Pflichtverteidiger bestellt. Dies wird nach Auffassung der Kammer den Anforderungen an die Angemessenheit der nach § 142 Abs. 5 S. 1 StPO zu setzenden Frist als Ausfluss des Bestimmungsrechts des Angeschuldigten nicht gerecht.

Dem Amtsgericht war infolge des Informationsgesuchs des Angeschuldigten Pp.2, mit dem die ursprünglich gesetzte Wochenfrist als hinfällig anzusehen war, bekannt, dass dieser aktiv auf der Suche nach einem Verteidiger war. Gemessen an dem Grundsatz, dass die Länge der Frist so bemessen sein muss, dass der Beschuldigte Kontakt mit mehreren Anwälten aufnehmen, eine Entscheidung treffen und diese dem Gericht noch innerhalb der Frist mitteilen kann (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 142 Rn. 21; BeckOK StPO/Krawczyk, 55. Ed. 1.4.2025, § 142 Rn. 21, beck-online), war bei Fertigung und Versendung des Schreibens am 23.06.2025 (Bl. 74 d.A.) bereits in Anbetracht zu berücksichtigender Postlaufzeiten nicht zu erwarten, dass der Angeschuldigte, dem lediglich die Rechtsanwaltskammer Sachsen-Anhalt als neue Anlaufstelle benannt und dem auch keine neue Frist gesetzt worden war, vor dem 02.07.2025 einen Verteidiger hätte auswählen, ihn beauftragen und erreichen können, dass dessen Verteidigungsanzeige beim Amtsgericht eingeht.“

Pflichti I: Mittelbare Nachteile/Bewährungswiderruf, oder: Psychische Erkrankung

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Am heutigen Dienstag geht es dann weiter mit Entscheidungen zur Pflichtverteidigung.

Zunächst stelle ich zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen vor. Sie enthalten allerdings nichts wesentlich Neues. Es handelt sich um:

Eine psychische Erkrankung kann grundsätzlich geeignet sein, die Vertretung durch einen Pflichtverteidiger notwendig zu machen.

Auch mittelbare Nachteile, wie ggf. eine Bewährungswiderruf, sind bei der Entscheidung, ob dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, zu berücksichtigen.