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OWi II: Rechtliches Gehör wegen Abwesenheit verletzt?, oder: Begründung der Verfahrensrüge

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Und als zweite OWi-Verfahrens-Entscheidung dann der OLG Brandenburg, Beschl. v. 24.04.2024 – 1 ORbs 324/23 – zur Begründung der Verfahrensrüge in einem „Quasi-Entbindungsfall2.

Wegen der etwas verwickelten Sachverhalts verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das OLG hat die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen und zurückgewiesen. Zur Begründung führt es (umfangreich) aus:

„a) Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist nicht in der für eine Verfahrensrüge erhobenen Form gerügt worden und – dessen ungeachtet – auch nicht gegeben.

aa) Soweit der Betroffene die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) erhoben hat, handelt es sich um eine Verfahrensrüge, die jedoch nicht den an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 zu stellenden Anforderungen genügt. Da das Rechtsbeschwerdegericht nicht von sich aus die Ordnungsgemäßheit des gesamten Verfahrens prüfen kann, muss der Beschwerdeführer die den konkrete geltend gemachten Verfahrensmangel begründenden Tatsachen angeben; hierzu gehören auch die Tatsachen, die dem behaupteten Verfahrensfehler die Grundlage entziehen (sog. Negativtatsachen; vgl. statt vieler: BGH StV 2004, 30; BGH NJW 2016, 419; BGH NStZ-RR 2008, 85).

Im vorliegenden Fall hat der Betroffene geltend gemacht, zum anberaumten Hauptverhandlungstermin nicht erschienen zu sein; zugleich behauptet der Betroffene in der Rechtsbeschwerdebegründungsschrift vom 25. Juli 2023, vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden worden zu sein.

Soweit die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg in ihrer Stellungnahme vom 31. August 2023 die Aufhebung des angefochtenen Urteils mit der Begründung beantragt, dass der Betroffene nicht (erneut) von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung durch das Gericht entbunden worden war, kann dies der Rechtsbeschwerde nicht zum Erfolg verhelfen, da es insoweit an einem entsprechenden Sachvortrag durch den Beschwerdeführer fehlt. Es fehlt an Angaben dazu, ob und ggf. in welchem Umfang der Betroffene von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung am 17. Mai 2023 gemäß § 73 Abs. 2 OWiG entbunden worden war. Hierzu hätte es eines konkreten Vortrags insbesondere deswegen bedurft, weil der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs auf den Vorlagebeschluss des Kammergerichts vom 28. Februar 2022 (3 Ws (B) 31/22, abgedruckt in: DAR 2023, 94) am 10. Oktober 2023 grundlegend entschieden hat, dass die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins fortwirkt, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin nicht erneut beantragt und erlassen werden muss (4 StR 94/22, abgedruckt in: NJW 2024, 776 f. = DAR 2024, 165 ff. = NZV 2024, 180 ff.). Um entscheiden zu können, ob das Bußgeldgericht die Hauptverhandlung zu Recht in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt hatte, hätte es eines entsprechenden Vortrags gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG insbesondere dahingehend bedurft, ob eine Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung durch das Gericht für einen konkreten Hauptverhandlungstermin ausgesprochen worden war oder sich generell auf die Hauptverhandlung in der vorliegenden Bußgeldsache bezogen hat. Hierzu verhält sich weder die Rechtsbeschwerdebegründungsschrift vom 27. Juli 2023 noch die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 31. August 2023.

bb) Die Abwesenheit der Verteidigerin von der Hauptverhandlung kann eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht begründen, so dass es nicht darauf ankommt, ob ein entsprechender Sachvortrag den an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 zu stellenden Anforderungen genügt.

Eine Verletzung des Anspruches des Betroffenen auf rechtliches Gehör kann selbst bei Ablehnung eines auf die Verhinderung des Verteidigers gestützten Terminaufhebungs- oder Terminverlegungsantrages nicht liegen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 12. November 2012, 2 RBs 253/12; BayObLG, Beschluss vom 31. Mai 1994, 2 ObOWi 194/94, jew. zitiert nach juris, jew. m.w.N.). Die Verhinderung seines Verteidigers nimmt dem Betroffenen nicht die Möglichkeit, sich selbst vor Gericht rechtliches Gehör zu verschaffen. Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet nur das rechtliche Gehör als solches, nicht rechtliches Gehör gerade durch Vermittlung eines Rechtsanwalts (vgl. bereits BVerfG NJW 1984, 862; OLG Hamm a.a.O.; BayObLG a.a.O.; OLG Köln VRS 83, 367; OLG Düsseldorf VRS 95, 104). Mithin hätte der Betroffene mit seinen Einwendungen gehört werden können, was erst Recht gilt, wenn diese – wie hier – bereits schriftsätzlich vorgetragen worden sind (vgl. auch BGHSt 28, 44, 46; BayObLG NZV 1992, 43; OLG Düsseldorf VRS 82, 209; OLG Köln VRS 83, 367; OLG Dresden DAR 2004, 102; siehe auch BVerfGE 85, 386,404).

cc) Soweit die Verteidigung die Verletzung rechtlichen Gehörs damit zu begründen sucht, dass das Bußgeldgericht „den in der Hauptverhandlung am 23. November 2023 aufgekommenen Zweifeln an einer konkreten Geschwindigkeitsmessung nicht nachgekommen“ sei, genügen die Ausführungen ebenfalls nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG. Dies betrifft sowohl die inhaltlichen Darlegungen zu den konkreten Zweifeln wie auch die Negativtatsache, dass ausweislich der Bußgeldakte eine Abschrift des Schreibens des Staatsbetriebs für das Mess- und Eichwesen des Freistaates Sachsen vom 5. Dezember 2022 sowohl dem Betroffenen als auch dessen Verteidigerin am 18. Dezember 2022 zugeleitet worden war.

b) Eine Zulassung der Rechtsbeschwerde ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten. ….

Verfahrensrüge II: Aufklärungsrüge der StA scheitert, oder: Durchsuchungsbericht fehlt

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Im zweiten Posting stelle ich dann das BGH, Urt. v. 15.05.2024 – 6 StR 374/23 – vor. Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf u.a. des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision. Die hatte keinen Erfolg:

„1. Mit der Anklage hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last gelegt, am 18. November 2022 in seiner Wohnung Betäubungsmittel – unter anderem rund 3,7 kg Cannabisblüten und 31,7 g Kokain – gelagert zu haben, die überwiegend zum gewinnbringenden Weiterverkauf durch ihn bestimmt gewesen seien. Zudem habe er in Griffweite der Betäubungsmittel verschiedene Waffen und waffenähnliche Gegenstände aufbewahrt, darunter eine mit Stahlkugeln geladene Druckgaspistole, eine Armbrust, eine Machete und einen Teleskopschlagstock, die zur Absicherung seiner Betäubungsmittelgeschäfte gedient hätten.

Das Landgericht hat zum Anklagevorwurf keine näheren Feststellungen getroffen. Der Angeklagte hat sich auf sein Schweigerecht berufen. Die Ergebnisse einer bei ihm durchgeführten Wohnungsdurchsuchung hat die Strafkammer für unverwertbar erachtet.

a) Hierzu hat sie in dem angegriffenen Urteil festgestellt, dass der Zeuge KHK M. und weitere Polizeibeamte am Vormittag des 18. November 2022, einem Freitag, zur Vollstreckung eines Durchsuchungsbeschlusses wegen des Verdachts des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge die vermeintliche Wohnanschrift des Angeklagten aufsuchten. Seine dort lebende Mutter teilte den Beamten mit, dass ihr Sohn nicht mehr bei ihr wohne. Nachdem ihr der Grund der beabsichtigten Durchsuchung erläutert und sie über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden war, erklärte sie, Angaben machen zu wollen, weil ihr Sohn schon längere Zeit Probleme habe. Sie teilte seine neue – etwa vier Kilometer entfernte – Anschrift mit und versicherte den Beamten, dass sie ihn nicht über den polizeilichen Einsatz informieren werde. Zudem erklärte sie sich damit einverstanden, dass Polizeibeamte bei ihr bleiben könnten, bis die Wohnung ihres Sohnes durch die Polizei gesichert sei. Zwei Polizeibeamte blieben sodann bei ihr.

Vor Antritt der etwa fünfminütigen Fahrt zur neuen Anschrift des Angeklagten teilte der Zeuge KHK M. die neuen Erkenntnisse zur Wohnanschrift des Angeklagten telefonisch der zuständigen Dezernentin der Staatsanwaltschaft mit, die sogleich die sofortige Durchsuchung der neuen Wohnung des Angeklagten wegen Gefahr im Verzug anordnete. Die Gründe für die Annahme von Gefahr im Verzug wurden nicht in der Akte dokumentiert.

b) Die Strafkammer hat die Ergebnisse der Wohnungsdurchsuchung für unverwertbar erachtet, weil ein bewusster und schwerwiegender Verstoß gegen den Richtervorbehalt nach Art. 13 Abs. 2 GG und § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO vorliege. Für die Annahme von Gefahr im Verzug habe es keine ernsthaften Anknüpfungstatsachen gegeben. Zudem sei ausreichend Zeit und Gelegenheit gewesen, zumindest telefonisch einen Ermittlungsrichter zu erreichen; dies sei aber noch nicht einmal versucht worden.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg.

1. Die von der Beschwerdeführerin erhobenen Aufklärungsrügen, die jeweils darauf abzielen, das Landgericht hätte wegen unzutreffender Annahme eines Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot weitere Beweise erheben müssen, genügen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und erweisen sich deshalb als unzulässig.

a) Die Beschwerdeführerin hat es jeweils versäumt, den polizeilichen Durchsuchungsbericht vom 22. November 2022 vorzulegen. Dessen hätte es jedoch bedurft, um dem Senat die erforderliche eigene umfassende Überprüfung des Verfahrens im Hinblick auf den behaupteten Rechtsfehler zu ermöglichen. Der Inhalt des anlässlich der Durchsuchung gefertigten polizeilichen Vermerks ist sowohl für die Annahme von Gefahr im Verzug als auch für die Beurteilung des Gewichts eines eventuellen Verfahrensverstoßes von wesentlicher Bedeutung (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22, Rn. 6; vom 10. Juli 2014 – 3 StR 140/14, Rn. 16; Beschlüsse vom 1. Februar 2022 – 5 StR 373/21; vom 16. Februar 2016 – 5 StR 10/16, Rn. 4; vom 24. Januar 2012 – 4 StR 493/11; vom 2. Dezember 2010 – 4 StR 464/10; KK-StPO/Henrichs/Weingast, 9. Aufl., § 105 Rn. 23; MüKo-StPO/Hauschild, 2. Aufl., § 105 Rn. 45).

b) Die Vorlage des polizeilichen Durchsuchungsvermerks durch die Beschwerdeführerin war auch nicht deshalb entbehrlich, weil sie zudem die Sachrüge erhoben und das Landgericht im Rahmen seiner schriftlichen Urteilsgründe nähere Ausführungen zu dem nach seiner Ansicht bestehenden Beweisverwertungsverbot gemacht hat. Denn es ist für den Senat nicht sicher erkennbar, ob die in den Urteilsgründen – in nicht gebotener Weise (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22, Rn. 6; vom 14. Dezember 2022 – 6 StR 340/21, Rn. 19) – dargestellten Verfahrenstatsachen die für die Annahme von Gefahr im Verzug und die Verwertbarkeit der Durchsuchungs-erkenntnisse maßgebliche Beweislage vollständig wiedergeben; Zweifel daran bestehen schon deshalb, weil die Revision weitere Inhalte des Telefonats vom 18. November 2022 zwischen dem Zeugen KHK M.    und der Dezernentin der Staatsanwaltschaft behauptet, die nicht Eingang in das Urteil gefunden haben.

Das Landgericht hat lediglich die von ihm für wesentlich erachteten Beweisergebnisse dargestellt und in erster Linie unter deren Würdigung seine Auffassung begründet, es liege ein Beweisverwertungsverbot vor. Die Kenntnisnahme des maßgebenden Akteninhalts durch den Senat selbst kann aber nicht durch die Darstellung vom Landgericht ausgewählter Teile ersetzt werden (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juli 2014 – 3 StR 140/14, Rn. 17; Beschluss vom 29. April 2015 – 1 StR 235/14, Rn. 50).

2. Mit ihrer in allgemeiner Form erhobenen Sachrüge dringt die Beschwerdeführerin ebenfalls nicht durch.

a) Die Urteilsgründe genügen den sich aus § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO ergebenden formellen Anforderungen an ein freisprechendes Urteil (vgl. BGH, Urteile vom 2. Juni 2022 – 2 StR 353/21, Rn. 15; vom 27. Februar 2020 – 4 StR 568/19, Rn. 6). Das Landgericht hat den Anklagevorwurf dargestellt und in nachvollziehbarer Weise mitgeteilt, dass verwertbare Beweise zum Beleg des Tatvorwurfs nicht vorgelegen haben.

b) Das Urteil genügt auch den sachlich-rechtlichen Anforderungen an einen Freispruch. ……“

StPO II: Verzögerung 6 Jahre, 11 Monate, 2 Wochen, oder: Für ein Verfahrenshindernis nicht langsam genug

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Und dann habe ich hier den BGH, Beschl. v. 17.01.2024 – 2 StR 100/23 – zur Frage der Verfahrensverzögerung und wie man damit umgeht.

Im sog. Rechtsgang ist der Angeklagte durch Urteil vom 19.06.2014 – bei Teileinstellung im Übrigen – wegen Urkundenfälschung in 24 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt, von der es drei Monate wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt hat. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH dieses Urteil mit Beschluss vom 28. Juli 2015 teilweise u.a. im Ausspruch über die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Das LG hat dann zweiten Rechtsgang mit Urteil vom 06.12.2017 erneut verurteilt und angeordnet, dass von der erstgenannten Gesamtfreiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung sechs Monate, eine Woche und drei Tage als vollstreckt gelten.

Dagegen die Revision, mit der u.a. ein Verfahrenshindernis aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung geltend gemacht wird. Das liegt nach Auffassung des BGH nicht vor.

„1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird ein Verfahrenshindernis begründet durch Umstände, die es ausschließen, dass über einen Prozessgegenstand mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt werden darf. Diese müssen so schwer wiegen, dass von ihnen die Zulässigkeit des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden muss (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159, 168 f.; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109).

Ein Anwendungsfall wird innerhalb dieser Rechtsprechung in der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gesehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159). So verletzt eine erhebliche Verzögerung eines Strafverfahrens den Betroffenen in seinem aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herrührenden Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren und zugleich die in Artikel 6 Abs. 1 MRK niedergelegte Gewährleistung, die eine Sachentscheidung innerhalb angemessener Dauer sichern soll (vgl. BGH, Beschluss vom 13. November 2003 – 5 StR 376/03, NStZ 2004, 639, 640 mwN).

Allerdings führt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern ist durch die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung und ggf. durch eine Kompensation in Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ausreichend berücksichtigt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159, 168 f.; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109; Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 146; vgl. auch EGMR, Urteile vom 13. November 2008 – 10597/03, StV 2009, 519, 521 Rn. 68; vom 20. Juni 2019 – 497/17, NJW 2020, 1047, 1048 Rn. 55). Lediglich in außergewöhnlichen Sonderfällen, wenn eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen der Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein Verfahrenshindernis begründen, das den Abbruch des Verfahrens rechtfertigen kann (vgl. BGH, Urteile vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109 mwN; vom 6. September 2016 – 1 StR 104/15, wistra 2017, 193, 195 Rn. 30).

2. Ein solch außergewöhnlicher Sonderfall ist vorliegend zu verneinen. Zwar ist festzustellen, dass das Verfahren überlang und insgesamt sechs Jahre, elf Monate und zwei Wochen rechtsstaatswidrig verzögert worden ist. Es genügt jedoch, einen Ausgleich durch eine Kompensationsentscheidung zu gewähren.

a) Dem liegt im Wesentlichen folgender Verfahrensablauf zugrunde:

aa) Bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung liegen nach den durch die Revision nicht beanstandeten Feststellungen und Wertungen des Landgerichts durch die Justizbehörden verursachte Verfahrensverzögerungen von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen vor.

Hiernach begannen die Ermittlungen betreffend die aus den Jahren 2004 und 2005 stammenden Taten im Jahr 2007. Im Ermittlungsverfahren fand zwischen dem 28. März 2008 und dem 1. August 2008 über einen Zeitraum von vier Monaten keine Verfahrensförderung statt.

Nach Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft am 20. Oktober 2009 ließ das Landgericht die Anklage mit Beschluss vom 7. April 2011 zu und eröffnete das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann am 3. November 2011. Mit Urteil vom 19. Juni 2014 wurde der Angeklagte wegen Urkundenfälschung in 24 Fällen verurteilt. Mit Beschluss vom 28. Juli 2015 – 2 StR 38/15 (NStZ 2016, 430) hob der Senat das Urteil wie ausgeführt auf.

In der Folge gingen die Akten am 23. Oktober 2015 bei der Staatsanwaltschaft und am 29. Oktober 2015 erneut bei dem Landgericht ein. Der Neubeginn der Hauptverhandlung war für den 5. Juli 2017 vorgesehen. Tatsächlich begann sie aufgrund eines Befangenheitsantrags der Verteidigung vom 4. Juli 2017 erst am 18. Oktober 2017. Die Hauptverhandlung endete mit dem nunmehr angefochtenen Urteil vom 6. Dezember 2017.

bb) Daneben stellt der Senat nach Auswertung des Akteninhalts von Amts wegen eine weitere Verfahrensverzögerung von vier Jahren und sieben Monaten nach Erlass der angefochtenen Entscheidung fest.

(1) Zwar ist eine sich nicht aus den Urteilsgründen ergebende Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur auf eine Verfahrensrüge hin zu prüfen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 – 3 StR 99/19, juris Rn. 24). Allerdings ist für Verzögerungen nach Urteilserlass ein Eingreifen des Revisionsgerichts von Amts wegen geboten, wenn der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2000 – 3 StR 502/00, NStZ 2001, 52; vom 20. Juni 2007 – 2 StR 493/06, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 32; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., MRK, Art. 6 Rn. 38; MüKo-StGB/Maier, 4. Aufl., § 46 Rn. 514; offengelassen durch BGH, Beschluss vom 26. Juli 2023 – 3 StR 506/22, juris Rn. 6).

(2) Davon ausgehend ist nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eine weitere Verzögerung von vier Jahren und sieben Monaten festzustellen, die auf die erheblich verzögerte Versendung der Verfahrensakten durch die Staatsanwaltschaft an das Revisionsgericht zurückzuführen ist. Die dort vollständig am 9. Juli 2018 eingegangenen Verfahrensakten wurden erst am 8. März 2023 – soweit die Übersendungsverfügung das Datum 8. März 2022 trägt, handelt es sich um ein offenkundiges Schreibversehen – weitergeleitet, weil sie in der Zwischenzeit „außer Kontrolle“ geraten waren. Sie erreichten am 16. März 2023 den Generalbundesanwalt und gingen am 24. April 2023 beim Senat ein. Unter Berücksichtigung einer angemessenen Bearbeitungszeit (vgl. auch § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO) und eingedenk des Umstandes, dass Rechtsmittelsachen stets als Eilsachen zu behandeln sind (Nr. 153 RiStBV), ergibt sich hieraus eine rechtsstaatswidrige Verzögerung von vier Jahren und sieben Monaten.

b) Dieser Verfahrensablauf begründet eine unangemessene Verfahrensdauer einschließlich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen von insgesamt sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen. Es ist jedoch ausreichend, dies durch eine Kompensationsentscheidung auszugleichen.

aa) Die Verfahrensdauer ist für sich genommen unangemessen lang. Seit Bekanntgabe der Vorwürfe an den Angeklagten am 17. März 2008 sind fünfzehn Jahre und elf Monate vergangen.

Zwar darf bei dieser Betrachtung nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Gesamtverfahrensdauer auch maßgeblich durch die über zweieinhalb Jahre andauernde Hauptverhandlung bis zum Verfahrensabschluss im ersten Rechtsgang bedingt ist und die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens ein weiteres Jahr und vier Monate erforderte.

Gleichwohl übertrifft die Verfahrensdauer die gesetzliche Verfolgungsverjährung von fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) mittlerweile um das Doppelte, was auch angesichts rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten des gesamten Tatkomplexes – so wurde dem Angeklagten mit Anklage vom 20. Oktober 2009 Steuerhinterziehung in fünfundzwanzig Fällen sowie Urkundenfälschung in sechsundneunzig Fällen zur Last gelegt – unangemessen ist (vgl. BVerfG NJW 1993, 3254, 3255). Auch das Höchstmaß des Regelstrafrahmens von fünf Jahren (§ 267 Abs. 1 StGB; vgl. hierzu OLG Rostock StV 2011, 220, 222) ist in diesem Umfang überschritten. Hinzu treten die dargelegten nicht zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerungen durch Justizorgane von nunmehr insgesamt sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen.

bb) Ein Verfahrenshindernis geht damit jedoch nicht einher.

(1) Dies gilt zunächst für den durch das Landgericht ermittelten Zeitraum, wonach bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung durch Justizorgane verschuldete Verfahrensverzögerungen von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen gegeben sind.

Gemessen an den durch das Landgericht festgestellten Belastungen des Angeklagten im Zeitraum vom 26. April 2012 bis Dezember 2012 waren diese im Rahmen der Sachentscheidung zu berücksichtigen und das Landgericht hatte hierfür – wie rechtsfehlerfrei geschehen – eine Kompensationsentscheidung zu treffen.

(2) Nichts Anderes gilt auch bei Berücksichtigung der gesamten Verfahrensdauer einschließlich aller durch die Justizorgane verschuldeten Verfahrensverzögerungen, insbesondere der besonders ins Gewicht fallenden unterlassenen Weiterleitung der Akten an das Revisionsgericht durch die Staatsanwaltschaft.

Insoweit gewinnt zunächst Bedeutung, dass die getroffenen Feststellungen den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch der angefochtenen Entscheidung tragen und das Verfahren nunmehr durch die Senatsentscheidung seinen Abschluss findet (vgl. bei einer fast fünfjährigen, willkürlich unterlassenen Aktenübersendung an das Revisionsgericht BGH, Urteil vom 9. Dezember 1987 – 3 StR 104/87, BGHSt 35, 137, 140 f.), die Akten dem Revisionsgericht auch nicht willkürlich vorenthalten wurden, sondern „außer Kontrolle“ geraten waren (vgl. BGH aaO).

Zudem ist weder ersichtlich noch von der Revision konkret vorgetragen, dass der Angeklagte durch das Verfahren besonderen Belastungen ausgesetzt war, die über die allgemeine Dauer des Verfahrens hinausgegangen wären und allein durch eine Einstellung ausgeglichen werden könnten. So befand er sich in dem hiesigen Verfahren zu keinem Zeitpunkt in Untersuchungshaft (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2023 – 3 StR 506/22, juris Rn. 7).

Des Weiteren stand für ihn bereits im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Senatsentscheidung vom 28. Juli 2015 rechtskräftig fest, dass er sich in dreizehn (von nunmehr achtzehn) Fällen der Urkundenfälschung schuldig gemacht hat und er hierfür unter anderem eine Freiheitsstrafe von drei Monaten als Einzelstrafe, im Übrigen Geldstrafen von 60 bzw. 90 Tagessätzen verwirkt hatte. Dass darüber hinaus die weiteren Fälle eine Strafbarkeit begründeten, war einerseits aufgrund des Aufhebungsgrundes der nicht ausschließbar fehlerhaften konkurrenzrechtlichen Bewertung in diesen Fällen, andererseits aufgrund des Umstandes, dass nur die Feststellungen zum Gebrauchmachen und nicht des Herstellens der falschen Urkunden aufgehoben wurden, ebenfalls erkennbar. Für den Angeklagten war mithin ersichtlich, dass er trotz der Aufhebung nicht mit einem Teilfreispruch, sondern vielmehr mit einem weiteren Schuldspruch und der Verhängung weiterer Einzelstrafen zu rechnen hatte. Dabei hatte er als alleiniger Revisionsführer stets Gewissheit darüber, dass eine Strafverschärfung ausgeschlossen war (§ 358 Abs. 2 StPO).

In einer Gesamtschau der überlangen Verfahrensdauer einschließlich der durch die Justiz verschuldeten Verzögerungen sowie des Umstands, dass sich die Taten nur im Bereich mittlerer Kriminalität bewegten, andererseits aber der geringen und allgemein bleibenden Belastungssituation des Angeklagten, genügt eine weitere Kompensationsentscheidung.“

Na ja, zumindest etwas, ansonsten: Ohne Worte.

Und dazu heißt es dann:

„b) Schließlich hält auch die Höhe der Kompensation für die festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat nach dem sog. Vollstreckungsmodell (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124) zur Entschädigung für die bis Urteilserlass eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen angeordnet, dass fünf Monate – soweit laut Urteilstenor insgesamt sechs Monate, eine Woche und drei Tage als vollstreckt gelten, ist in diesen Zeitraum ein für vollstreckt erklärter Teil in Höhe von einem Monat, einer Woche und drei Tagen aus einer einbezogenen Vorverurteilung eingeflossen – der verhängten ersten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Dies hält sich im Rahmen des dem Tatrichter eingeräumten Bewertungsspielraums und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. zum Maßstab BGH, Urteile vom 23. Oktober 2013 – 2 StR 392/13, NStZ-RR 2014, 21; vom 12. Februar 2014 – 2 StR 308/13, NStZ 2014, 599; Beschlüsse vom 1. Juni 2015 – 4 StR 21/15, NStZ 2015, 540; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 110; vom 1. Dezember 2020 – 2 StR 384/20, StV 2021, 355 Rn. 8).

3. Daneben ist das Urteil um eine Kompensation für den nach Urteilserlass eingetretenen und aufgezeigten Konventionsverstoß zu ergänzen.

Diese ist aufgrund des erheblichen Umfangs der Verzögerung so zu bemessen, dass der nach Abzug der bereits durch das Landgericht ausgesprochenen Kompensation und nach Anrechnung (§ 51 Abs. 2 StGB) der bereits vollstreckten und in die Gesamtfreiheitsstrafen einbezogenen Vorstrafen – hierbei handelt es sich um eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten sowie eine Gesamtgeldstrafe von 260 Tagessätzen, wobei von dieser wiederum 40 Tagessätze als vollstreckt gelten – verbleibende vollstreckungsfähige Strafrest der beiden Gesamtfreiheitsstrafen als vollstreckt gilt, so dass dem Angeklagten keine weiteren Freiheitsentziehungen drohen.

Dabei ist unbeachtlich, dass diese Art der Kompensation sich – vorbehaltlich der Berechnung durch die Vollstreckungsbehörde – maßgeblich auf die zweite Gesamtfreiheitsstrafe auswirken wird und einen Ausgleich nur bei Widerruf der Strafaussetzung gewähren würde (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juni 2019 – 497/17, NJW 2020, 1047, 1049 Rn. 58).“

Wortreich, aber nicht unbedingt überzeugend. Und sorry für den langen Text. Das liegt an der Länge der Verfahrensdauer 🙂 .

OWi I: Halter nicht automatisch Parkverstoßtäter, oder: Das ist keine „Revolution“, sondern h.M.

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Heute dann noch einmal OWi-Entscheidungen. Grund ist der BVerfG, Beschl. v. 17.05.2024 – 2 BvR 1457/23 -, der seit gestern ja über die Ticker läuft und heute dann auch in der Tagespresse angekommen ist.

Folgender, alltäglicher, Sachverhalt: Gegen den Betroffenen wird wegen eines Parkverstoßes eine Geldbuße in Höhe von 30 EUR festgesetzt. Der Betroffene legt Einspruch ein.  In der darauf stattfindenden Hauptverhandlung schweigt der Betroffene. Das AG verurteilt ihn. Im Urteil wird ausgeführt, der Betroffene habe geschwiegen. Die Feststellungen zur Person basierten auf den Angaben im Bußgeldbescheid, die der Betroffene bestätigt habe, und auf der verlesenen Auskunft des Fahreignungsregisters. Die Feststellungen zur Sache beruhten auf den verlesenen Angaben im Bußgeldbescheid, den Lichtbildern sowie dem Umstand, dass der Beschwerdeführer Halter des in Rede stehenden Fahrzeugs sei.

Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, der damit begründet worden ist, dass der Rückschluss auf den Betroffenen als Nutzer des Fahrzeugs allein aus der Haltereigenschaft fehlerhaft sei, hat das OLG Köln mit Beschl. v. 12.9.2023 – III-1 ORbs 292/23 – als unbegründet verworfen. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die Erfolg hatte:

„1. Das angegriffene Urteil verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.

a) Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt jedoch unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; stRspr). Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 74, 102 <127>; 83, 82 <84>; 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>; stRspr). Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. BVerfGE 4, 294 <297>; 96, 189 <203>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. März 2023 – 1 BvR 1620/22 -, Rn. 10 m.w.N.).

b) Gemessen daran verstößt das Amtsgericht mit der angegriffenen Entscheidung gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Willkürverbot. Das angegriffene Urteil enthält keinerlei Ansätze sachgerechter Feststellungen und Erwägungen zur Täterschaft des Beschwerdeführers, auf die bei einer Verurteilung nicht verzichtet werden kann.

Nach § 49 Abs. 1 Nr. 13 Variante 3 StVO handelt ordnungswidrig im Sinne des § 24 StVG, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über Parkscheiben nach § 13 Abs. 1 oder Abs. 2 StVO verstößt. Das Amtsgericht hat seine Feststellungen zur Sache allein auf die verlesenen Angaben im Bußgeldbescheid, auf Lichtbilder des Fahrzeugs sowie auf den Umstand gestützt, dass der Beschwerdeführer der Halter des in Rede stehenden Fahrzeugs sei. Damit hat das Amtsgericht zu dem Verkehrsverstoß, der dem Beschwerdeführer angelastet wird, in seiner Person weder ein aktives Tun noch ein Begehen durch Unterlassen festgestellt. Die Angaben im Bußgeldbescheid – wie auch die Lichtbilder, die allein das Fahrzeug des Beschwerdeführers zeigen – haben bezüglich der Frage, ob der Beschwerdeführer das Fahrzeug bei der bestimmten Fahrt auch tatsächlich geführt hat, keinerlei Aussagekraft. Der Beschwerdeführer hat zu dem ihn betreffenden ordnungswidrigkeitenrechtlichen Vorwurf geschwiegen. Auch aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer Halter des in Rede stehenden Pkws ist, darf bei Fehlen jedes weiteren Beweisanzeichens nicht auf dessen Täterschaft geschlossen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 843/93 -, juris, Rn. 12; BGHSt 25, 365 <367 ff.>; vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 20. November 1973 – 2 Ss OWi 1374/73 -, NJW 1974, S. 249; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26. Februar 2020 – IV-2 RBs 1/20 -, juris, Rn. 5 ff.; Fromm, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 61 OWiG Rn. 1; Tiemann, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 261 StPO Rn. 57).“

Angesichts der dargestellten zwischenzeitlich einhelligen Auffassung in Literatur und fachgerichtlicher Rechtsprechung zum unzureichenden Beweiswert der Haltereigenschaft als solcher ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei sachgerechter Verfahrensweise und bei Zugrundelegung sachgerechter Erwägungen zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre.“

Ich kann die Aufregung nicht so ganz verstehen. Die „Bild“ meinte gestern, titeln zu müssen: „Neuer-Richter-Beschluss: Knöllchen-Revolution für alle Autorfahrer“. Geht es noch oder: Kann man mal bitte einen Gang zurückschalten. Denn was ist an dem Beschluss bzw. der Aussage des BVerfG „neu“ und was ist bitte die „Revolution“? „Revolution“ ist „ein grundlegender und nachhaltiger struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme, der meist abrupt oder in relativ kurzer Zeit erfolgt.“ Das sehe ich nun wirklich nicht. Das BVerfG rügt einen Verstoß gegen das Willkürverbot, nämlich das Abweichen von einer h.M., wonach allein die Haltereigenschaft nicht ausreicht, um die Täterschaft zu begründen. Das ist, wie die zitierte Rechtsprechung zeigt, nun wirklich nicht, neu. Also warum die Welle?

Ich kenne genügend andere Stellen, an denen das BVerfG eine „Revolution“ hätte beginnen können. Ich sage nur „Messverfahren“.

 

 

VR II: Urteilsfeststellungen beim Alleinrennen, oder: Wir wollen das Fahrverhalten des Täters kennen

Und im zweiten Posting dann gleich noch einmal etwas vom KG, nämlich der KG, Beschl. v. 01.03.2024 – 3 ORs 16/24 – 161 SRs 4/24 – zu den Urteilsfeststellungen bei „Alleinrennen“ (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB). Mal wieder.

Das AG hat den Angeklagten wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens „mit fahrlässiger Gefährdung von Leib und Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert“  verurteilt. Zugleich hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperre für die Wiedererteilung von sechs Monaten festgesetzt. Schließlich hat das Amtsgericht auch den bei der Tat verwendeten PKW VW Passat eingezogen.

Das AG hat festgestellt, dass der am 03.02.2023 auf einer Fahrstrecke von etwa zwei km Länge ein sogenanntes Einzelrennen durchgeführt und im Zusammenhang mit einem Spurwechsel einen anderen Verkehrsteilnehmer dazu veranlasst zu haben, bis zum Stillstand abzubremsen.

Die hiergegen gerichtete Sprungrevision des Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg. Das KG rügt unzureichende Feststellungen:

„1. Die Feststellungen erweisen nicht, dass der Angeklagte den Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklicht hat.

a) Nach dieser Regelung macht sich strafbar, wer sich im Straßenverkehr als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Bei der Anwendung des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB gilt, dass gerade dessen weite Fassung vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) möglichst klar konturierte Feststellungen des für erwiesen erachteten Sachverhalts erfordert (vgl. Senat StraFo 2019, 342 = VRS 135, 267 = NZV 2019, 314 [m. zust. Anm. Quarch]; NJW 2019, 2788 m. Anm. Zopfs; DAR 2020, 149 = NZV 2020, 210; StV 2022, 29 [Volltext bei juris]). Vor dem Hintergrund der weiten gesetzlichen Formulierung dürfen sich Unschärfen bei der Sachverhaltsermittlung nicht einseitig zum Nachteil des Angeklagten auswirken (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]).

b) Die Urteilsfeststellungen leiden, wie dies bei ähnlichen Fallkonstellationen immer wieder vorkommt (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]), daran, dass sie zu weiten Teilen nicht das Fahrverhalten des Angeklagten darstellen, sondern dasjenige des verfolgenden Polizeifahrzeugs. Über dieses soll sich das Rechtsmittelgericht erschließen, welches Fahrverhalten dem Angeklagten zur Last fällt. Bei den Urteilsfeststellungen zu schildern ist aber nicht vorrangig das den Polizeibeamten zur Verfolgung abgenötigte Fahrverhalten, sondern dasjenige des (vorausfahrenden) Täters, welches das Tatgericht nach freier richterlicher Beweiswürdigung für tatbestandsmäßig hält. Hiervon hat sich zuvörderst der Tatrichter selbst ein Bild zu machen, das er im Urteil niederzulegen und dem Revisionsgericht zu vermitteln hat (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]).

Hier heißt es in den Urteilsfeststellungen, der Fahrer des Polizeifahrzeugs habe „stark beschleunigen“ müssen, „um zu dem PKW Passat aufzuholen, wobei der digitale Tachometer des Polizeifahrzeugs 87 km/h anzeigte“. „Trotzdem“, so heißt es weiter, „entfernte sich der PKW immer weiter“ (UA S. 3). Im gleichen Duktus heißt es später, die polizeilichen Zeugen seien dem Angeklagten weiter gefolgt, mit einer „abgelesenen Geschwindigkeit von 95 km/h“ bzw., dass „der Tachometer 85 km/h anzeigte“ (alles UA S. 3). Schließlich heißt es: „Die Polizeibeamten verfolgten den Angeklagten (…) mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h“ (UA S. 4).  All diese Schilderungen betreffen das Fahrverhalten des Polizeifahrzeugs. Ersichtlich soll das Rechtsmittelgericht daraus Schlussfolgerungen in Bezug auf die Fahrweise des Angeklagten und die von diesem erzielte Geschwindigkeit ziehen. Diese Folgerungen auszuformulieren und sie – in der Beweiswürdigung – zu begründen, ist aber die ureigene Aufgabe des Tatgerichts. Wenn es, wie hier, unterschiedliche Möglichkeiten gibt, die Beweise zu würdigen, ist das Revisionsgericht weder befugt noch in der Lage, dies zu tun.

Hier bleibt unklar, welche vom Angeklagten tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit, die sowohl für den äußeren Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB als auch für die subjektiv erforderliche „Höchstgeschwindigkeitserzielungsabsicht“ zentral ist, das Tatgericht für erwiesen erachtet. Die Feststellung, der Tachometer des Polizeifahrzeugs sei digital, sagt nichts darüber aus, ob er geeicht war und ob das Amtsgericht einen Toleranzabzug vorgenommen hat. Dieser hätte bei einem geeichten Geschwindigkeitsmesser geringer ausfallen können als bei einem ungeeichten. Bei letzterem wird – zudem unter jedenfalls in Bezug auf Messstrecke und Abstand im Ansatz standardisierten Bedingungen – von der Rechtsprechung in Bußgeldsachen überwiegend 20% in Abzug gebracht (vgl. Senat DAR 2015, 99).

In diesem Zusammenhang gilt es nicht, einen Rechtssatz mit dem Inhalt zu formulieren, diese Grundsätze seien auf die Feststellung einer Straftat nach § 315d StGB ohne Abweichung zu übertragen. Vielmehr können in Bezug auf Geschwindigkeiten auch valide Schätzungen versierter – ggf. zur Verkehrsüberwachung eingesetzter – polizeilicher Zeugen erwartet werden (vgl. allg. BayObLG NZV 2001, 139; OLG Hamm NZV 1998, 169) und vom Tatgericht in freier richterlicher Beweiswürdigung sogar ohne Abschlag übernommen werden (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]). Aber die Urteilsfeststellungen müssen das Ergebnis dieser Überlegungen in Form der für erwiesen erachteten Geschwindigkeit mitteilen, und im Rahmen der Beweiswürdigung ist klarzustellen, ob ein Toleranzabzug vorgenommen wurde. Unterbleibt dies, bedarf es regelmäßig einer Erklärung.

Nicht bei den Feststellungen, sondern im Rahmen der Beweiswürdigung teilt das Amtsgericht mit, von welcher tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit es ausgeht, nämlich „von bis zu 100 km/h auf einer Strecke von 2 km“ (UA S. 6 u.). Sollte es sich hierbei um eine zusätzliche Urteilsfeststellung handeln, so setzt sie sich in Widerspruch zu den zuvor getroffenen Feststellungen (UA S. 3 – 4), und zudem fehlt ihr eine tragende Beweiswürdigung. Zwar hat einer der polizeilichen Zeugen „von gefahrenen Geschwindigkeiten bis 100 km/h“ gesprochen (UA S. 5). Insoweit fehlt es aber, wie dargelegt, an einer Überprüfung der Validität. Insbesondere wäre mitzuteilen gewesen, ob die Geschwindigkeit mit einem geeichten Tachometer ermittelt und ob ein Toleranzabzug vorgenommen worden ist.“

Auch hier: Immer wieder.

Und bei der Segelanweisung bzw. dem Teil: Wir wollen die Sache nicht wieder sehen, führt das KG aus:

„2. Für den weiteren Verfahrensgang weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Gegen die auf § 315f StGB gestützte Einziehung eines vom Täter bei der Tat geführten PKW ist im Grundsatz nichts zu erinnern. Allerdings wird das Amtsgericht zu beachten haben, dass es sich um eine Ermessensentscheidung handelt, die im Hinblick auf die Tat und die Persönlichkeit des Täters entsprechend zu begründen ist (vgl. hierzu NK-GVR/Quarch, a.a.O., § 315f StGB Rn. 1). Dies ist hier unterblieben. Das angefochtene Urteil erwähnt lediglich das Baujahr des Fahrzeugs (2011) (UA S. 7).

b) Die Einziehung hat den Charakter einer Nebenstrafe und stellt damit eine Strafzumessungsentscheidung dar. Wird dem Täter auf diese Weise ein Gegenstand von nicht unerheblichem Wert entzogen, so ist dies ein bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafe und insoweit im Wege einer Gesamtbetrachtung der den Täter treffenden Rechtsfolgen angemessen zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 2020, 214). Sollte das Amtsgericht erneut zur Einziehung des vom Angeklagten geführten PKW gelangen, so wird es bei der Strafzumessung deutlich zu machen haben, dass es dies als bestimmenden Gesichtspunkt erkannt und berücksichtigt hat.

c) Schließlich ist auch fraglich, ob die bisherigen Feststellungen die Verurteilung wegen der Qualifikation des § 315d Abs. 2 StGB tragen. Die Anforderungen an die hierzu erforderliche konkrete Gefährdung entsprechen denjenigen des § 315b und § 315c StGB (vgl. NK-GVR/Quarch, 3. Aufl., § 315d StGB Rn. 13). Eine konkrete Gefährdung liegt vor, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Notwendig ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“ (vgl. BGH NStZ 2023, 415).

Die hierzu im Urteil festgestellte Verkehrssituation ist wenig klar. Geschildert wird ein Fahrstreifenwechsel des Angeklagten, in dessen Folge sowohl dieser als auch ein anderer Fahrzeugführer bis zum Stillstand abbremsen mussten. Allerdings erschließt sich der Vorgang nicht gänzlich, zumal die Fahrzeuge des Angeklagten und des anderen Verkehrsteilnehmers offenbar nebeneinander zum Stehen kamen. Das auf diese Weise geschilderte Verkehrsgeschehen ist jedenfalls nicht ohne Weiteres als „Beinaheunfall“ einzustufen, zumal unklar bleibt, ob der andere Fahrer aus einer nicht ganz geringen Geschwindigkeit und zudem stark abbremsen musste. „