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Strafe III: Strafzumessungsklassiker bei BtM-Besitz, oder: Nemotenetur und eingestellte Verfahren

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Und zum Tagesschluss dann noch der OLG Braunschweig, Beschl. v. 06.11.2023 – 1 ORs 40/23. Es geht um die Strafzumessung in einem amtsgerichtlichen Urteil, im Grunde ein „Strafzumessungsklassiker“. Das AG hatte den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln unter Einbeziehung einer Strafe aus eine anderen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Für die Tat des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge hatte das Amtsgericht geprüft, ob ein minder schwerer Fall i.S.d. § 29a Abs. 2 BtMG vorliegt, dies im Ergebnis verneint und unter Zugrundelegung des Strafrahmens des § 29a Abs. 1 BtMG die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe festgesetzt. Für die Tat des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln hat das Amtsgericht eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 25,00 € festgesetzt.

Die Sprungrevision hatte beim OLG Erfolg:

„Die Ausführungen des angefochtenen Urteils zur Begründung des Strafausspruches erweisen sich jedoch als rechtsfehlerhaft.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat dazu in ihrer Stellungnahme vom 1. September 2023 ausgeführt:

„Die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs des angefochtenen Urteils hat eine Gesetzesverletzung zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

[Das Amtsgericht] hat […] die Ablehnung der Annahme eines minder schweren Falls gemäß § 29 a Abs. 2 BtMG in zu beanstandender Weise begründet (§ 267 Abs. 3 Satz 2, 1. HS StPO).

Die Entscheidung, ob der Strafrahmen eines minder schweren Falles Anwendung finden kann, ist auf Grund einer Gesamtwürdigung aller für die Wertung von Tat und Täter in Betracht kommenden Umstände danach zu treffen, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung des Regelstrafrahmens nicht mehr ange-messen ist (BGH, Urteil vom 15.03.2017 – 2 StR 294/16, NStZ 2018, 228; B(GH, Urteil vom 19.03.1975 – 2 StR 53/75, BGHSt 26, 97, 99). Es ist Sache des Tatgerichts, die Erschwerungs- und Milderungsgründe auf diese Weise nach pflichtgemäßem Ermessen gegeneinander abzuwägen; denn das Tatgericht ist am ehesten in der Lage, sich auf Grund der Hauptverhandlung einen umfassenden Eindruck von Tat und Täter zu verschaffen. Seine Wertung ist deshalb in der Revisionsinstanz nur begrenzt nachprüfbar. Das Revisionsgericht kann daher – wie bei der Strafhöhenbemessung – nur eingreifen, wenn die durch das Tatgericht vorgenommene Beurteilung Rechtsfehler erkennen lässt, etwa, weil die maßgeblichen Erwägungen rechtlich anerkannten Strafzumessungsgrundsätzen zuwiderlaufen, in sich widersprüchlich oder in einem Sinne lückenhaft sind, dass naheliegende, sich aufdrängende Gesichtspunkte nicht erkennbar bedacht sind (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 01.03.2011- 3 StR 28/11, NStZ-RR 2011, 284; Urteil vom 26.06.1991 – 3 StR 145/91, NStZ 1991, 529).

Für die Annahme eines minder schweren Falls hat das Amtsgericht zugrunde gelegt, dass es sich bei dem Marihuana um eine sogenannte „weiche Droge“ handelt und die Überschreitung der nicht geringen Menge um das 1, 77-fache nicht besonders hoch gewesen ist. Ferner das Amtsgericht in diesem Zusammenhang berücksichtigt, dass das Betäubungsmittel zum Eigenverbrauch bestimmt war (UA S. 5 = BL 55 Bd. 111).

Diese vorn Amtsgericht für die Annahme eines minder schweren Falls angeführten Umstände erweisen sich nicht als rechtsfehlerhaft. Insbesondere hat das Amtsgericht zutreffend erkannt, dass die Überschreitung der nicht geringen Menge um das 1,77-fache als niedrig anzusehen ist, was in der Regel für die Annahme des minderschweren Falls spricht (vgl. auch: BGH, Beschluss vom 20.03.2018 – 3 StR 56/18, juris, OS und Rn. 2; Beschluss vom 14.03.2017 – 4 StR 533/16, juris, Ra 6 117.w.N.).

Jedoch hat das Amtsgericht auf der anderen Seite gegen die Annahme des minder schweren Falls sämtlich Umstände herangezogen, welche rechtlich anerkannten Strafzumessungsgrundsätzen zuwiderlaufen.

Gegen die Annahme des minder schweren Falls gemäß § 29 a Abs. 2 BtMG spricht aus Sicht des Amtsgerichts, dass der Angeklagte nicht vermindert schuldfähig § 21 StGB gewesen ist. Zu seinen Lasten hat das Amtsgericht ferner bewertet, dass der Angeklagte „bei beiden Taten bei einer für ihn ungünstigen Beweislage nur das Notwendigste zur Feststellung des Tatbestands eingeräumt hat; ohne darüber hinaus etwas zur weiteren Aufklärung etwa der Herkunft der Betäubungsmittel beizutragen oder sich zu seinem gegenwärtigen Konsumverhalten („zu äußern“ (UA S. 5 = BL 55 Bd. „IIQ: In diesem Zusammenhang führt das Amtsgericht weiter aus, dass das Verfahren. im Hinblick auf die weiteren dem An-geklagten zur Last gelegten Straftaten in der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurden, „nachdem er die Vorwürfe nicht eingeräumt“ hat (UA S. 5-6 = BI. 55-56 Bd. 110. Dies vorangestellt kommt das Amtsgericht zu dem Ergebnis, dass insgesamt kein Fall anzunehmen sei, der sich deutlich von den Delikten, die gewöhnlich von § 29 a BtMG erfasst Werden, abhebt, weshalb kein minder schwerer Fall nach § 29 a Abs. 2 BtMG anzunehmen sei.

Diese Ausführungen lassen eine rechtsfehlerhafte Bewertung erkennen.

a) Zunächst stellt eine fehlende verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB keinen Strafmilderungsgrund dar Dass das Amtsgericht hiervon jedoch rechtsfehlerhaft ausgegangen sein dürfte, lässt die entsprechende Formulierung („hingegen‘) in den Urteilsgründen erkennen (UA S. 5 = BI. 55 Bd. III).

b) Die weiteren Urteilsausführungen lassen besorgen, dass das Amtsgericht dem Angeklagten bei den Erwägungen zur Wahl des Strafrahmens rechtsfehlerhaft sein Einlassungsverhalten in der Hauptverhandlung strafschärfend angelastet hat und die Reichweite des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit aus dem Blick verloren hat.

Schon aus dem nemo-tenetur-Grundsatz (§§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163 a Abs. 4 Satz 2, 243 Abs. 5 Satz 1 StPO) folgt, dass der Beschuldigte in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht verpflichtet ist, aktiv die Sachaufklärung zu fördern und an seiner eigenen Überführung mitzuwirken (vgl. BGH, Urteil vom 21.01.2004 — 1 StR 364/03, BGHSt 49, 56, 59 f.). Dementsprechend darf ihm mangelnde Mitwirkung an der Sachaufklärung nicht strafschärfend angelastet werden (BGH, Beschluss vom 24.07.1991 – 3 StR 246/91, juris, Rn. 7; Maier, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2020, § 46 Rn. 312 m.w.N.). Darüber hinaus kann auch Prozessverhalten, mit dem der Angeklagte – ohne die Grenzen zulässiger Verteidigung zu überschreiten – den ihm drohenden Schuldspruch abzuwenden versucht, grundsätzlich nicht straferschwerend berücksichtigt werden, da hierin – unbeschadet einer Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes – eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Verteidigung läge. Dies gilt nicht nur dann, wenn er eine unrichtige Einlassung unverändert aufrechterhält, sondern auch, wenn er dem Anklagevorwurf mit jedenfalls teilweise wahrheitswidrigem Vorbringen zu begegnen sucht (BGH, Beschluss vom 22.05.2013 – 4 StR 151/13, juris OS 1 und 2 und Rn. 5; Beschluss vom 08.11.1995, a.a.O.).

Dadurch, dass das Amtsgericht die fehlende Aufklärung der Herkunft der Betäubungsmittel, die fehlenden Angaben des Angeklagten zu seinem aktuellen Konsumverhalten sowie sein fehlendes Geständnis zu den nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Tatkomplexen gegen die Annahme des minder schweren Falls ins Feld führt, dürfte das Amtsgericht die Reichweite des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit aus dem Blick verloren und gleichzeitig verkannt haben, dass die erfolgte Aufklärungshilfe einen Strafmilderungsgrund nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG darstellt.

c) Des Weiteren dürfte das Amtsgericht in rechtsfehlerhafter Weise für die Ablehnung des minder schweren Falls die in der Hauptverhandlung nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Taten berücksichtigt haben.

Tate, deretwegen das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist (lüden nach ständiger Rechtsprechung strafschärfend berücksichtigt werden, wenn der ausgeschiedene Tatkomplex ordnungsgemäß festgestellt und der Angeklagte auf die strafschärfende Berücksichtigung hingewiesen wurde (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 46 Rn. 41 m.w.N.). Der EGMR hat insbesondere keine Einwände bei der strafverschärfenden Berücksichtigung eingestellter Taten erhoben, wenn diese im selben Verfahren angeklagt waren (EGMR, Urteil vom 25.01.2018 – 76607/13, juris, OS 2 und Rn. 56).

Vorliegend fehlt es im Hinblick auf die in der Hauptverhandlung vorläufig nach § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf den im Übrigen zu erwartenden Schuldspruch eingestellten Taten des unerlaubten Handeltreibens von Betäubungsmitteln in zwei Fällen und des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln aus den Anklageschriften der Staatsanwaltschaft Braunschweig von? 01..09.2022 und 25.10.2022 jedoch an der ordnungsgemäßen Feststellung jener Tatkomplexe und eines Hinweises des Angeklagten auf die entsprechende strafschärfende Berücksichtigung. Urteilsgründe enthalten keinerlei entsprechende Ausführungen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Berücksichtigung der in der Hauptverhandlung nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Taten in strafschärfender Hinsicht im Hinblick auf die Nichtanwendung des minder schweren Falls des § 29 a Abs. 2 BtMG ebenfalls rechtsfehlerhaft gewesen sein.

Vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhangs der Strafzumessungserwägungen kann nach alldem nicht ausgeschlossen werden, dass die Strafrahmen-wahl des Amtsgerichts [Anm. des Senates: für die Tat zu Ziff. 1] im Hinblick auf särntliche zu Lasten des Angeklagten herbeigezogenen Umstände maßgeblich durch eine unzulässige Bewertung beeinflusst ist.

[…]

Der Strafausspruch dürfte daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung bedürfen.

Angesichts der Höhe der verhängten Einzelstrafe bzgl. der Tat zu 1. sowie der darauf beruhenden Gesamtfreiheitsstrafe kann, auch vor dem Hintergrund der nur geringfügigen Überschreitung der nicht geringen Menge der Betäubungsmittel um das 1,77-fache, nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung über den anzuwendenden Strafrahmen ohne die Wertungsfehler anders ausgefallen wäre. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes kann der Rechtsfolgenausspruch auch nicht als „angemessen“ im Sinne von § 354 Abs. 1 a StPO angesehen werden. Die zugrundeliegenden Feststellungen können indes bestehen bleiben, da es sich um Wertungsfehler handelt. Ergänzende Fest-stellungen, die den getroffenen nicht widersprechen, sind möglich“

Diesen Ausführungen tritt der Senat bei. Der Ergänzung bedarf lediglich folgendes:

Da das Amtsgericht bei der konkreten Strafzumessung nach der Nennung mehrerer ausschließlich strafmildernder Umstände ausgeführt hat, dass „letztlich unter Abwägung aller für und gegen [Hervorhebung durch den Senat] den Angeklagten sprechenden Umstände die Einzelstrafen für die Taten zu 1 und 2 für tat- und schuldangemessen erachtet wurden (UA S. 6), hat es offenbar auch hier die bei der Prüfung des Vorliegens eines minder schweren Falls hinsichtlich der Tat zu Ziff. 1 fehlerhaft in die Bewertung eingestellten Umstände erneut berücksichtigt, so dass es auch der Aufhebung der für die Tat zu Ziff. 2 verhängten Einzelstrafe bedarf.“

Strafe II: „Täter-Opfer-Ausgleichsvereinbarung“, oder: Materielle und immaterielle Folgen „ausgeglichen“?

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Und dann als zweite Entscheidung heute das BGH, Urt. v. 04.01.2024 – 5 StR 540/23. Es geht auch noch einmal um die angemessene Strafe, und zwar in einem Fall, in dem das LG den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung unter Einbeziehung einer früher verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Revision der StA hatte Erfolg. Der BGh führt aus:

„2. Das Landgericht hat die festgestellte Tat als schweren sexuellen Missbrauch nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB (in der Fassung vom 21. Januar 2015, im Folgenden: aF) in Tateinheit mit Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB gewertet. Im Rahmen der Strafzumessung ist es von einem minder schweren Fall ausgegangen und hat eine Ausnahme von der Regelvermutung des § 177 Abs. 6 StGB bejaht. Deshalb hat es die Strafe aus dem Strafrahmen des § 176a Abs. 4 Alt. 2 StGB aF zugemessen. Begründet hat die Jugendkammer dieses Vorgehen damit, dass der Angeklagte zwar mehrfach, aber nicht einschlägig vorbestraft sei, er der tschechischen Polizei einen Hinweis auf den Aufenthalt der Nebenklägerin eröffnet und es keinen Hinweis darauf gegeben habe, dass er über ihre genauen Lebensverhältnisse in Tschechien informiert gewesen sei. Außerdem habe wegen des in der Hauptverhandlung erzielten Täter-Opfer-Ausgleichs der vertypte Strafmilderungsgrund des § 46a Nr. 1 StGB vorgelegen; insgesamt sei deshalb die Anwendung des Strafrahmens des minder schweren Falles gerechtfertigt erschienen.

Bei der konkreten Strafzumessung hat die Strafkammer die vorgenannten Umstände erneut berücksichtigt und zusätzlich, dass die Tat schon länger zurückliege und der Angeklagte mit einer Handlung zwei Straftatbestände verwirklicht habe. Sie hat abschließend auf eine Einzelstrafe von einem Jahr und neun Monaten erkannt und mit der Ende 2021 gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die er wegen nach der vorliegenden Tat begangenen Erwerbs und Besitzes von kinder- und jugendpornographischen Schriften verwirkt hatte, eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt. Zur gewährten Aussetzung der Bewährung hat sie lediglich ausgeführt, das Geständnis des Angeklagten, sein fortgeschrittenes Alter und seine gefestigte Stellung im Berufsleben rechtfertigten die Annahme einer positiven Legalprognose, so dass die Strafe nach § 56 Abs. 1 und 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden könne.

II.

Die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte – der Teilfreispruch wird in der Revisionsbegründung nicht angegriffen (vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 14. April 2022 – 5 StR 313/21, NStZ-RR 2022, 201) – Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Strafzumessungsentscheidung des Landgerichts weist auch eingedenk des insoweit eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 12. Mai 2021 – 5 StR 120/20 Rn.12, 16) durchgreifende Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.

1. Der Ausspruch über die wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung verhängte Strafe hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

Namentlich erweist sich die Begründung der Jugendkammer für die Annahme eines minder schweren Falls im Sinne von § 176a Abs. 4 Alt. 2 StGB aF und für ein Absehen von der Regelvermutung des § 177 Abs. 6 StGB unter mehreren Gesichtspunkten als rechtsfehlerhaft.

a) Das Landgericht durfte den vertypten Strafmilderungsgrund des § 46a StGB nicht zugunsten des Angeklagten berücksichtigen, denn die Annahme der Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs nach Nr. 1 dieser Vorschrift wird von den Urteilsgründen nicht getragen.

Dafür stritt zwar die „Täter-Opfer-Ausgleichsvereinbarung“, in der die mittlerweile volljährige Nebenklägerin die ihr angebotene Zahlung „als ausgleichende Maßnahme“ akzeptierte. Der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB würde auch nicht grundsätzlich entgegenstehen, wenn die Nebenklägerin dem Angeklagten den Ausgleich dadurch leicht gemacht hätte, dass sie an das Maß der Wiedergutmachungsbemühungen keine hohen Anforderungen gestellt und schnell versöhnungsbereit gewesen wäre, wofür – ohne dass dies ausdrücklich festgestellt worden ist – der Inhalt der Vereinbarung sprechen könnte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Februar 2001 – 3 StR 41/01, BGHR StGB § 46a Nr. 1 Ausgleich 3; vom 28. Januar 2016 – 3 StR 354/15, NStZ 2016, 401, 402). Diese Umstände enthoben die Strafkammer aber nicht der eigenverantwortlichen Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 StGB tatsächlich vorlagen. Denn für die Annahme eines friedensstiftenden Ausgleichs darf nicht allein auf die subjektive Bewertung von Opfer und Täter abgestellt werden. Vorrangig ist vielmehr zu prüfen, ob die konkret erbrachten oder ernsthaft angebotenen Leistungen des Täters nach einem objektivierenden Maßstab als so erheblich anzusehen sind, dass damit das Unrecht der Tat oder deren materielle und immaterielle Folgen als „ausgeglichen“ erachtet werden können (BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 – 2 StR 203/18, NStZ-RR 2019, 369, 370). Dies folgt schon daraus, dass überhaupt nur angemessene und nachhaltige Leistungen die erlittenen Schädigungen ausgleichen und zu einer Genugtuung für das Opfer führen können (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2005 – 1 StR 287/05, NStZ 2006, 275, 276).

Nach diesen Grundsätzen kann hier nicht von einer die Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 StGB erfüllenden Leistung des Angeklagten ausgegangen werden. Die Zahlung von lediglich 500 Euro und die vereinbarte weitere Zahlung von 1.000 Euro in monatlichen Raten von nur 50 Euro über den Zeitraum von annähernd zwei Jahren stellen schon auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen zur Tat im Ansatz keine angemessene Schmerzensgeldleistung dar. Mit Blick auf die festgestellten Einkommensverhältnisse (der ledige Angeklagte erzielt ein monatliches Einkommen von 2.400 Euro) kann die angebotene Ratenzahlung auch nicht als ernsthaftes Erstreben der Wiedergutmachung angesehen werden.

b) Hinzu kommt, dass – wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat – die Feststellungen zum Schuldgehalt der Tat lückenhaft sind:….“

Strafe I: Mindeststrafe für schwere sexuelle Nötigung?, oder: Mindeststrafe ist immer „gefährlich“

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Und heute, am letzten Arbeitstag vor Ostern, ein wenig Strafzumessung.

Ich beginne mit dem BGH, Urt. v. 21.02.2024 – 6 StR 541/23. Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schwerer sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung unter Einbeziehung einer im Mai 2023 gegen ihn verhängten Strafe u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und einem Monat verurteilt. Dagegen richtet sich die auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte:

Das LG hatte folgende Feststellungen getroffen:

W1. Nach den Feststellungen hatte sich der Angeklagte über eine Internetplattform mit der Zeugin R. für ein Wochenende in seiner Wohnung verabredet, um gegen Zahlung von 10.000 Euro diverse sexuelle Handlungen an ihr vorzunehmen; tatsächlich war er zu der Zahlung weder bereit noch in der Lage. Obwohl er ihr das Geld absprachewidrig nicht vorab gab, ließ R. zunächst sexuelle Handlungen über sich ergehen. Als sie anschließend darauf bestand, das Geld ausgehändigt zu bekommen, bedrohte der Angeklagte sie mit einem Küchenmesser, das er ihr direkt vor das Gesicht hielt, um sie zur Duldung weiterer sexueller Handlungen zu zwingen. Er forderte die unbekleidete Zeugin wiederholt auf, sich bäuchlings auf das Bett zu legen und ihre Beine zu spreizen, was sie schließlich aus Angst tat, nachdem er die Schneide des Messers gegen ihren Hals gedrückt hatte. Dann legte er das Messer zur Seite und strich mit einem Finger Creme um ihren Darmausgang, was sie unter dem Eindruck der vorangegangenen Bedrohung duldete. Als sie ihn aufforderte aufzuhören und er kurz von ihr abließ, versuchte sie aufzustehen, indem sie sich aufrichtete und auf die Bettkante setzte. Der Angeklagte stieß sie jedoch zurück, so dass sie wieder nach hinten auf das Bett fiel und Schmerzen im Bereich der Schulter erlitt. Anschließend richtete sie sich erneut auf und sagte, dass sie sein Geld nicht haben, sondern gehen wolle. Daraufhin nahm der Angeklagte das Messer wieder an sich, hielt die Schneide an ihre linke Brust und drohte, ihre Brüste abzuschneiden, falls sie nicht tue, was er sage. Sie versuchte, das Messer von sich wegzudrücken, was ihr aber nicht gelang. Nachdem er ihr nochmals mit der Anwendung von Gewalt gedroht hatte, ergriff er eine Rolle „Panzertape“, um sie zu fesseln, und forderte sie auf, ihre Hände auf den Rücken zu legen. Aus Angst, dem Angeklagten im Falle ihrer Fesselung schutzlos ausgeliefert zu sein, geriet R. in Panik. Es gelang ihr schließlich, ihm mit dem Fuß zwischen die Beine zu treten, worauf er sie mit beiden Händen so stark würgte, dass sie Luftnot bekam und Schmerzen im Bereich des Kehlkopfes erlitt. Er fragte sie, ob ihr das jetzt gefalle, worauf sie ihm so stark in die Nase biss, dass er nicht unerheblich blutete. Zugleich stieß und trat sie ihn von sich, so dass er mit dem Rücken gegen den Wohnzimmertisch fiel. Diese Situation nutzte sie aus, um zu fliehen.“

Das LG hat der Strafzumessung den Strafrahmen des § 177 Abs. 8 StGB zugrundegelegt. Das Vorliegen eines minder schweren Falles der besonders schweren sexuellen Nötigung i.S. des § 177 Abs. 9 StGB hat es verneint. Dabei hat es zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Tat bereits zwei Jahre und acht Monate zurücklag, er im Tatzeitpunkt noch nicht vorbestraft war, zudem die Verfahrensdauer von mehr als zwei Jahren und die besondere Strafempfindlichkeit des Angeklagten als „Erstverbüßer“. Strafmildernd hat es darüber hinaus gewertet, dass die Geschädigte keine lang anhaltenden Schmerzen und keine psychischen Folgeschäden erlitt. Zum Nachteil des Angeklagten hat das LG demgegenüber darauf abgestellt, dass sie seinen Einwirkungen über einen längeren Zeitraum ausgesetzt war, dass er durch das Stoßen und Würgen in mehrfacher Form Gewalt gegen sie anwandte und tateinheitlich zwei Straftatbestände sowie zwei Qualifikationstatbestände i.S. des § 177 Abs. 5 StGB verwirklichte. Unter Bezugnahme auf diese Erwägungen hat das LG sodann auf die Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren erkannt und unter Einbeziehung der im Mai 2023 gegen den Angeklagten verhängten Geldstrafe von 60 Tagessätzen die Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und einem Monat gebildet.

Das gefällt dem BGH nicht:

„2. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft zu Recht.

Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es hat die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts kommt nur in engen Grenzen in Betracht (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 24. August 1982 – 1 StR 435/82, NStZ 1982, 464, 465; vom 27. Juli 1988 – 3 StR 273/88, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Beurteilungsrahmen 3). Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn dem Tatgericht Abwägungsfehler unterlaufen sind und das gefundene Ergebnis deshalb nicht mehr vertretbar ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 – 1 StR 116/11, NStZ 2012, 162, 163; vom 28. Juni 2022 – 6 StR 511/21, NStZ-RR 2022, 342, 343; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1530). So verhält es sich hier.

In Anbetracht der vom Landgericht als erheblich strafschärfend gewerteten Umstände entbehrt die Verhängung der Mindeststrafe einer tragfähigen Begründung. Die Mindeststrafe ist zwar nicht nur denkbar leichtesten Fällen vorbehalten; auf sie darf auch erkannt werden, wenn Strafzumessungsgesichtspunkte vorliegen, die den Angeklagten belasten (vgl. BGH, Urteile vom 21. Dezember 1983 – 3 StR 437/83, NStZ 1984, 359; vom 27. Juli 1988 – 3 StR 273/88, aaO). Dies setzt aber – wie bei der Verhängung der Höchststrafe (vgl. BGH Urteil vom 15. Dezember 1982 – 2 StR 619/82, NStZ 1983, 268, 269) – eine eingehende Begründung und Abwägung der wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände voraus (vgl. BGH, Urteile vom 17. November 1983 – 4 StR 617/83, NStZ 1984, 117; vom 23. Februar 1989 – 4 StR 8/89, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Beurteilungsrahmen 7).

Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Ihnen lässt sich nicht entnehmen, aufgrund welcher Erwägungen das Landgericht innerhalb des Regelstrafrahmens trotz der den Angeklagten erheblich belastenden Faktoren die Mindeststrafe für schuldangemessen gehalten hat.“

Also noch einmal das Ganze. Mindesstrage ist nie einfach 🙂

OWI III: Erneut „Dauerbrenner“ Entbindungsantrag, oder: Fortbildung für das AG

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Und als letzte Entscheidung heute dann der OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.02.2024 – 1 ORbs 19/24. Auch die Entscheidung bringt nichts Neues, denn es geht um den „Dauerbrenner“ Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG trotz vorliegendem wirksamen Entbindungsantrag.

Ich wollte die Entscheidung erst gar nicht vorstellen. Denn auch die in ihr behandelte Problematik ist ja eine, zu der immer wieder Entscheidung ergehen (müssen). Und: Immer wieder heben die OLG die amtsgerichtlichen Verwerfungsurteile auf, weil die AG die Basics nicht beachten. So auch hier.

Zur Veröffentlichung habe ich mich dann entschlossen, weil das OLG die Grundzüge dieser Fragen noch einmal sehr schön dargestellt hat. Vielleicht hilft es ja. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Das OLG führt aus:

„1. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 OWiG statthaft und gemäß §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG, §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden.

2. Die Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG kann als Prozessurteil nur mit der Verfahrensrüge beanstandet werden.

a) Die Antragsbegründung enthält eine den Erfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG entsprechende Verfahrensrüge. Denn soweit im Grundsatz bei der Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs darzulegen ist, was der Beschwerdeführer im Falle der Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, erfährt dieser Grundsatz dann eine Ausnahme, wenn gerügt wird, die Verwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG beruhe auf einer unterbliebenen oder auf einer rechtsunwirksamen Ablehnung, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ist nicht nur dann verletzt, wenn der Betroffene daran gehindert wird, zu den für die gerichtliche Entscheidung erheblichen Tatsachen Stellung zu nehmen, sondern auch dann, wenn das Gericht eine Stellungnahme des Betroffenen nicht zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt (vgl. st. Senatsrechtsprechung, statt vieler: Senatsbeschluss vom 7. Januar 2019, 1 Z – 53 Ss-OWi 733/19 – 414/19; Senatsbeschluss vom 19. Juni 2019, 1 B – 53 Ss-OWi 261/19 – 148/19; Senatsbeschluss vom 1. November 2013, 1 Z – 53 Ss-OWi 471/13 – 271/13; Senatsbeschluss vom 1. August 2011, 1 Z – 53 Ss-OWi 239/11 – 134/11). Der Betroffene trägt in der Begründung seiner Rechtsbeschwerde vor, das Amtsgericht hätte kein Prozessurteil erlassen dürfen, sondern es hätte ihn auf seinen Antrag von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbinden und auf Grund einer Beweisaufnahme in seiner Abwesenheit eine Entscheidung in der Sache treffen müssen. Damit führt er zugleich in ausreichender Weise aus, dass das Recht auf Gehör unter dem zweiten der beiden genannten Aspekte verletzt worden sei.

b) Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs – vorläufigen – Erfolg. Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde aus vorgenanntem Grund zu (§ 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das angefochtene Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Oranienburg zurückverwiesen, wobei eine Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts nicht veranlasst ist.

aa) Mit der Verfahrensrüge trägt die Verteidigung zutreffend vor, dass der Betroffene vor der Hauptverhandlung durch seinen bevollmächtigten Verteidiger mit Schriftsatz vom 24. September 2023 beantragt habe, ihn von seiner Pflicht zur Teilnahme an der Hauptverhandlung zu entbinden, er räume jedoch ein, zur Tatzeit der Fahrer des eingemessenen Kraftfahrzeugs gewesen zu sein.

Damit hat der Betroffene einen wirksamen Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG gestellt. Ein solcher Antrag ist an keine bestimmte Form gebunden. Es reicht, dass das Antragsvorbringen erkennen lässt, dass der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen will (KK-Senge, OWiG, 5. Aufl., § 73 Rdnr. 16; Göhler/Seitz, OWiG, 18. Aufl., § 73 Rdnr. 4; OLG Bamberg, Beschluss vom 25. März 2009 – 2 Ss OWi 1326/2008; OLG Brandenburg, 2. Bußgeldsenat, Beschluss vom 05. November 2008 – 2 Ss (OWi) 180 B/08, Senatsbeschluss vom 7. Januar 2019, 1 Z – 53 Ss-OWi 733/19 – 414/19; OLG Rostock, Beschluss vom 27. April 2011 -2 Ss (OWi) 50/11 I 63/11, zit. jew. nach juris).

Über diesen Entbindungsantrag hat das Amtsgericht nicht entschieden. Darin, dass das Amtsgericht den rechtzeitig angebrachten Entbindungsantrag übergangen und gleichwohl den Einspruch des Betroffenen wegen unentschuldigten Ausbleibens nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör begründet (Senatsbeschluss vom 7. Januar 2019, 1 Z – 53 Ss-OWi 733/19 – 414/19; Senatsbeschluss vom 19. Juni 2019, 1 B – 53 Ss-OWi 261/19 – 148/19; Senatsbeschluss vom 1. November 2013, 1 Z – 53 Ss-OWi 471/13 – 271/13; Senatsbeschluss vom 30. Mai 2011, 1 Ss-OWi 83 Z/11; Senatsbeschluss vom 1. August 2011, 1 Z – 53 Ss-OWi 239/11 – 134/11; OLG Hamm NZV 2003, 588; BayObLG DAR 2000, 578), wobei allein entscheidend ist, dass es eine verfahrenserhebliche Erklärung des Betroffenen nicht zur Kenntnis genommen und nicht darüber förmlich entschieden hat.

Denn wird ein Antrag des Betroffenen, ihn von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, nicht entschieden und ergeht ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG, liegt die Verletzung des rechtlichen Gehörs darin, dass das Gericht nicht in Abwesenheit des Betroffenen dessen Einlassung oder Aussageverweigerung, auf die der Entbindungsantrag gestützt wird (§ 73 Abs. 2 OWiG), zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung in der Sache erwogen, sondern mit einem Prozessurteil den Einspruch des Betroffenen verworfen hat. Der Betroffene hat ein Recht darauf, dass das Gericht seine Erklärungen – seine Einlassung oder seine Aussageverweigerung – zur Kenntnis nimmt und in seiner Abwesenheit in der Sache entscheidet, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen eines Abwesenheitsverfahrens erfüllt sind (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Januar 2019, 1 Z – 53 Ss-OWi 733/19 – 414/19; Senatsbeschluss vom 19. Juni 2019, 1 B – 53 Ss-OWi 261/19 – 148/19; Senatsbeschluss vom 1. November 2013, 1 Z – 53 Ss-OWi 471/13 – 271/13; Senatsbeschluss vom 30. Mai 2011 – 1 Ss (OWi) 83 Z/11 -; Senatsbeschluss vom 1. April 2009 – 1 Ss (OWi) 48/09 – ; Senatsbeschluss vom 22. November 2007 – 1 Ss (OWi) 251 B/07 -; Senatsbeschluss vom 25. September 2006 – 1 Ss (OWi) 172 B/06 -; Senatsbeschluss vom 3. Januar 2006 – 1 Ss (OWi) 270 B/05 – Senatsbeschluss vom 10. Juli 2009 – 1 Ss (OWi) 108 Z/09; OLG Köln ZfS 2002, 254; BayObLG ZfS 2001, 185; OLG Rostock, Beschluss vom 27. April 2011 -2 Ss (OWi) 50/11 I 63/11 zit. n. juris).

bb) Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Betroffene vorliegend nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Anwesenheitspflicht zu entbinden gewesen wäre. Denn nach dieser Bestimmung entbindet das Gericht den Betroffenen von seiner Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich im Termin nicht äußern werde und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts (beispielsweise zur Klärung der Identität) nicht erforderlich ist. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung über den Entbindungsantrag nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt ist, dieses vielmehr verpflichtet ist, dem Antrag zu entsprechen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. Senat aaO.; ebenso: OLG Karlsruhe – Beschluss vom 12. Januar 2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17, zit. n. juris; OLG Koblenz NZV 2007, 251; KG VRS 111, 146; KG VRS 113, 63; OLG Naumburg StraFo 2007, 207; OLG Bamberg VRS 113, 284; OLG Stuttgart DAR 2004, 542; OLG Dresden DAR 2005, 460).

Hat – wie hier – der Betroffene in seinem Entbindungsantrag zugestanden, zur fraglichen Zeit das Fahrzeug, mit dem eine Verkehrsordnungswidrigkeit begangen wurde, geführt zu haben und weiter angekündigt, er werde in der Hauptverhandlung keine weiteren sachdienlichen Angaben machen, ist es in der Regel nahe liegend, ihn vom persönlichen Erscheinen zu entbinden. Dann ist nämlich von ihm eine weitere Aufklärung zum Schuldspruch nicht zu erwarten. Die mögliche Annahme, der Betroffene könne in einer Hauptverhandlung dazu gebracht werden, sein Prozessverhalten überdenken ist spekulativ und widerspricht dem erklärten Willen des Betroffenen und reicht nicht aus, ihm die Befreiung von der Erscheinungspflicht zu verweigern (vgl. KG VRS 111, 429, 430; KG VRS 113, 63).

cc) Zwar muss der Verstoß gegen das rechtliche Gehör erheblich sein (vgl. KK-Bohnert, OWiG, 5. Auflage, Einl. Rdnr. 130 m. w. N.), da nicht bei jeder Verletzung einer dem rechtlichen Gehör dienenden einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift rechtliches Gehörs verletzt ist (vgl. BVerfG NJW 1993, 2229 ff.). Eine solche erhebliche Verletzung rechtlichen Gehörs liegt jedenfalls dann vor, wenn die Rechtsanwendung offenkundig unrichtig war (vgl. BVerfG NJW 1985, 1150 f., 1151; BVerfG NJW 1987, 2733, 2734). Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn durch Prozessurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG anstatt durch Sachurteil zu entscheiden, stellt hier eine solche offenkundige Unrichtigkeit dar.“

OWi II: Gespeicherte Bilddateien/Filme als Abbildung?, oder: Ordnungsgemäße Bezugnahme?

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Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen, die sich mit Lichtbildern und der Frage, wie die im Urteil darzustellen sind, auseinandersetzten. Allerdings gibt es dazu nur die Leitsätze, das die Fragen nun doch schon ziemlich „abgearbeitet“ sind. Es überrascht dann gerade deswegen dann aber doch, dass von den AG an der Stelle aber immer wieder/noch Fehler gemacht werden.

Hier sind dann also:

Die Urteilsgründe müssen im Fall der Identifizierung des Betroffenen anhand eine Lichtbildes vom Verkehrsverstß so gefaßt sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen.

1. Auf elektronischen Medien gespeicherte Bilddateien und Filme sind keine sich bei den Akten befindliche „Abbildungen“ im Sinne des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO.
2. Wird in den Urteilsgründen lediglich erwähnt, dass sich „aus den Bild- und Tonaufzeichnungen“ ergibt, dass ein bestimmter Verkehrsvorgang vorliegt, reicht das für eine wirksame Verweisung gem. §§ 267 Abs. 1 Satz 3 StPO, 46 OWiG nicht aus.

Wie gesagt: Nichts Besonderes. Das hatte sich dann wohl auch das OLG Oldenburg gedacht, als es die Beschlussgründe im Grunde auf ein Zitat aus der BGHSt-Entscheidung beschränkt hat. Na ja.