Archiv der Kategorie: Beweiswürdigung

Beweiswürdigung III: „Aussage-gegen-Aussage“ oder: Besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung

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Die dritte Entscheidung zur Beweiswürdigung kommt dann vom BayObLG. Das hat im BayObLG, Beschl. v. 12.07.2021 – 202 StRR 76/21 (noch einmal) zu den besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung bei einer „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ Stellung genommen.

Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, der bestritten hat. Das BayObLG hebt auf. Es beanstandet die Beweiswürdigung.

Hier dann – war schon so viel zu lesen heute 🙂 – die Leitsätze zu der Entscheidung:

1. Bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation sind besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen. Der Tatrichter muss in derartigen Fällen den entscheidenden Teil der verschiedenen Aussagen des Belastungszeugen, auch solchen, die im Ermittlungsverfahren erfolgt sind, im Urteil wiedergeben, weil dem Revisionsgericht sonst die rechtliche Überprüfung der für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit relevanten Aussagekonstanz nicht möglich ist. Dies gilt vor allem, soweit es um die Schilderung von Details zum Kerngeschehen geht und auch die Plausibilität der Zeugenaussage hiervon abhängt.

2. Die Wertung des Tatrichters, der Belastungszeuge habe „ohne Übertreibungen ausgesagt“, stellt einen Zirkelschluss dar, wenn der Tathergang mangels anderer Beweismittel allein aufgrund des Inhalts der Aussage dieses Zeugen festgestellt wurde.

3. Zwar ist es nicht von vornherein unzulässig, aus einer Lüge des Angeklagten im Rahmen der Beweiswürdigung Schlüsse zu ziehen. Allerdings muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass der Widerlegung einer Einlassung nur ein begrenzter Beweiswert zukommt, weil auch ein Unschuldiger, wenn er befürchtet, er könnte zu Unrecht verurteilt werden, gegebenenfalls die Zuflucht zur Lüge nehmen kann.

Beweiswürdigung II: Wiedererkennensproblematik, oder: Sprachliche Auffälligkeit nicht erörtert

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In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 03.03.2021 – 2 StR 11/21 – geht es um eine sog. Wiedererkennungsproblematik. Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung verurteilt. Der Angeklagte hat Revision eingelegt, mit der er Erfolg hatte. Dem BGH gefallen die Ausführungen des LG zum Wiedererkennen des Angeklagten durch eine Zeugin nicht:

„b) Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten im Wesentlichen auf die Schilderung des Tathergangs und die Identifikation des Angeklagten durch die Zeugin D. gestützt. Diese hatte am Tattag das äußere Erscheinungsbild eines zwischen 35 und 40 Jahre alten, vermutlich deutschen, sehr ungepflegten Täters („Junkietyp“) mit schmaler Statur bei einer Größe von ca. 1,70 m, hellblauen Augen, keinen Bart, braunen kurzen Haaren und dreckigen Händen beschrieben. In der Hauptverhandlung hat sie zum Erscheinungsbild des Täters dargestellt, dieser sei ca. 1,70 m groß gewesen, habe dreckige Hände gehabt, so dass sie gedacht habe, dass es sich um einen Drogenabhängigen aus dem Bahnhofsviertel gehandelt habe. Auch sei ihr ein „leichter deutschsprachiger Akzent“ bei dem Täter aufgefallen. Sie glaube, ihn mehrere Wochen nach der Tat im Dunkeln erneut im Bahnhofsviertel gesehen zu haben, da sie „auch kurz seine Stimme und seinen Gang“ erkannt habe. Einige Wochen später habe sie ihn direkt vor dem Kiosk gesehen. Bei diesem Treffen − das zur Verhaftung des Angeklagten durch die von der Zeugin herbeigerufenen Polizeibeamten führte − habe sie ihn sofort an „seinem Gesicht und seinen Augen“ erkannt. Um sich zu vergewissern, sei sie auf ihn zugelaufen und habe ihn „insbesondere an seiner Stimme“ wiedererkannt. Die Person habe mit „leichtem deutschsprachigen Akzent“ gesprochen, was ihr bei dem Täter im Kiosk ebenfalls aufgefallen sei. Auch in der Hauptverhandlung war die Zeugin „absolut sicher“, dass es sich bei dem Angeklagten um den Täter aus dem Kiosk handele.

c) Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten darauf gestützt, dass dessen Erscheinungsbild in der Hauptverhandlung wie auch auf einem in Augenschein genommenen Lichtbild seiner letzten erkennungsdienstlichen Behandlung zu der Beschreibung der Zeugin mit einer „schmale[n] Statur, braune[n] kurzen Haare[n], vermutlich Deutscher, Junkietyp und sehr ungepflegt“, passe. Zudem hat die Strafkammer die subjektive Überzeugung der Zeugin von der Täterschaft des Angeklagten in einer Gesamtschau für verlässlich erachtet. Sie hat dabei berücksichtigt, dass die Zeugin gegenüber der die Festnahme durchführenden Beamtin erklärt habe, dass sie den Angeklagten „zu 100% an seinem Gesicht erkannt habe und sich sehr sicher sei“. Die hohe Zuverlässigkeit der Identifizierung werde dadurch belegt, dass die Zeugin anlässlich einer Lichtbildrecherche aus ca. 300 Bildern, unter denen sich kein Foto des Angeklagten befunden habe, keinen Täter erkannt habe, was dafür spreche, dass die Zeugin nur dann eine Zuordnung vornehme, wenn sie in hohem Maße sicher sei. Ferner werde die Täterschaft des Angeklagten dadurch gestützt, dass bei dem Angeklagten eine Visitenkarte ‒ weiße Karte mit schwarzer Schrift − gefunden worden sei, die die Zeugin am Tag der Verhaftung als diejenige erkannt habe, die der Täter bei dem ersten Aufenthalt im Kiosk vorgelegt habe. Der Angeklagte habe sich zur Tatzeit auch im Bahnhofsgebiet aufgehalten, sei drogensüchtig, habe an Geldnot gelitten und bereits bei früheren Taten ein Messer als Tatmittel eingesetzt.

Seine Körpergröße von 1,80 m spreche nicht gegen seine Täterschaft, weil der Zeuge F. , der beim ersten Betreten des Kiosks durch den Täter hinter diesem in der Reihe gestanden habe, den Täter als etwas größer als sich selbst (1,78 m) beschrieben habe. Soweit der Angeklagte braune und keine hellblauen Augen habe, liege hierin nur eine unwesentliche Abweichung bei der ansonsten zutreffenden Täterbeschreibung durch die Zeugin.

2. Diese Beweiswürdigung trägt die Verurteilung nicht.

a) Es ist allein die Aufgabe des Tatrichters, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsrechtliche Überprüfung ist auf die Frage beschränkt, ob dem Tatrichter dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, namentlich dann, wenn sie nicht sämtliche Umstände, die dazu geeignet waren, die Entscheidung zu beeinflussen, in ihre Überlegungen einbezogen und wesentliche Feststellungen in der vorzunehmenden umfassenden Gesamtwürdigung nicht berücksichtigt hat (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2018 ‒ 2 StR 451/18, StV 2019, 317, 318; BGH, Urteil vom 26. Januar 2017 ‒ 1 StR 385/16, juris Rn. 15; Urteil vom 3. Dezember 2015 ‒ 4 StR 387/15, StV 2017, 538, 539; jeweils mwN).

Besondere Darlegungsanforderungen bestehen in schwierigen Beweislagen, zu denen auch Konstellationen zählen, in denen der Tatnachweis im Wesentlichen auf einem Wiedererkennen des Angeklagten durch einen Tatzeugen beruht (BVerfG, NJW 2003, 2444, 2445 mwN). Konnte ein Zeuge eine ihm vorher unbekannte Person nur kurze Zeit beobachten, darf sich der Tatrichter nicht ohne Weiteres auf die subjektive Gewissheit des Zeugen beim Wiedererkennen verlassen, sondern muss aufgrund objektiver Kriterien nachprüfen, welche Beweisqualität dieses Wiedererkennen hat, und dies in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen (Senat, Beschluss vom 8. Dezember 2016 ‒ 2 StR 480/16, StraFo 2017, 111, 112). Der Tatrichter ist daher aus sachlich-rechtlichen Gründen regelmäßig verpflichtet, die Angaben des Zeugen zur Täterbeschreibung zumindest in gedrängter Form wiederzugeben und diese Täterbeschreibung zum Erscheinungsbild des Angeklagten in der Hauptverhandlung in Beziehung zu setzen (Senat, Beschluss vom 29. November 2016 ‒ 2 StR 472/16, NStZ-RR 2017, 90; BGH, Beschluss vom 17. Februar 2016 ‒ 4 StR 412/15, StraFo 2016, 154, 155). Darüber hinaus sind in den Urteilsgründen auch diejenigen Gesichtspunkte darzulegen, auf denen die Folgerung des Tatrichters beruht, dass insoweit eine tatsächliche Übereinstimmung besteht (BGH, Beschluss vom 17. Februar 2016 ‒ 4 StR 412/15, aaO).

b) Hieran gemessen erweist sich die Beweiswürdigung der Strafkammer als lückenhaft und damit als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Denn die Urteilsgründe verhalten sich nicht zu den von der Zeugin D. geschilderten Auffälligkeiten im sprachlichen Ausdruck des Angeklagten. Dies war hier aber deshalb unerlässlich, weil dessen „deutschsprachige[m] Akzent“ aus Sicht der Zeugin ein maßgeblicher Wiedererkennungswert zukam. Diese „glaubte“, den Täter erstmalig mehrere Wochen nach der Tat gesehen zu haben, wobei sie „kurz seine Stimme und seinen Gang“ erkannt habe. Am Tag seiner Verhaftung identifizierte sie den Angeklagten auf offener Straße als Täter des Überfalls anhand dessen „Gesicht und seinen Augen“ sowie „insbesondere an seiner Stimme“. Letzteres begründete sie damit, der Angeklagte habe mit „leichtem deutschsprachigen Akzent“ gesprochen, was ihr bei dem Täter im Kiosk ebenfalls aufgefallen sei“.

Bei dieser Beweissituation oblag der Strafkammer zum einen die Erörterung, wie sich der aus Sicht der Zeugin „leichte deutschsprachige Akzent“ des Täters in dessen Sprachgewohnheit, möglicherweise in dessen Phonetik, Intonation, Betonungsmuster oder Satzrhythmus ausdrückte. Zudem bedurfte es der Feststellung, ob sich die so ‒ anhand der Angaben der Zeugin ‒ objektivierte Auffälligkeit im Ausdrucksverhalten des Täters bei dem Angeklagten, der sich in der Hauptverhandlung zu seiner Person und zur Sache eingelassen hat, wiederfindet. Hierzu schweigen die Urteilsgründe in Gänze. Ein ‒ wie auch immer gearteter ‒ „Akzent“ in der Sprachgewohnheit des Angeklagten versteht sich auch nicht von selbst. Dieser ist in Deutschland geboren und aufgewachsen.

Dem Vorliegen bzw. dem Fehlen einer solchen sprachlichen Auffälligkeit im Sprachausdruck des Angeklagten kommt angesichts der Darstellung der Zeugin ein erheblicher Beweiswert zu. Denn dieser war sowohl beim ersten Wiedererkennen wenige Wochen nach der Tat wie auch am Tag der Verhaftung des Angeklagten insbesondere auch dessen „Stimme“ aufgefallen. Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass der Strafkammer bei der von ihr vorgenommenen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung dieses zusätzlichen Indizes ‒ das Fehlen einer sprachlichen Auffälligkeit beim Angeklagten unterstellt ‒ trotz der weitgehenden Übereinstimmung im äußeren Erscheinungsbild sowie der weiteren belastenden Indizien, insbesondere der bei dem Angeklagten aufgefundenen Visitenkarte, Zweifel an dessen Täterschaft verblieben wären.

c) Der Senat kann offenlassen, ob das angefochtene Urteil im Übrigen den aufgezeigten Darstellungsanforderungen gerecht wird. Bedenken ergeben sich insoweit, als sich die Urteilsgründe nicht zu der Frage verhalten, anhand welcher objektiven Kriterien die Zeugin den Angeklagten wenige Wochen nach der Tat auf offener Straße erkannte. Die Angabe der Zeugin, sie habe den Angeklagten „sofort an seinem Gesicht und seinen Augen erkannt“, wird nicht weiter unterlegt. Hierzu hätte jedoch möglicherweise deshalb Anlass bestanden, weil die Zeugin ausweislich ihrer ersten Vernehmung die Augenfarbe des Täters mit hellblau bezeichnet hatte und der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen über braune Augen verfügt. Weitere objektive Merkmale, die belegen könnten, aufgrund welcher Signifikanz die Zeugin den Angeklagten an „seinem Gesicht und seinen Augen“ erkannte, werden im Urteil jedoch nicht mitgeteilt.“

Beweiswürdigung I: 50 Seiten Zeugenaussagen, oder: Hilferuf des BGH: Schreibt nicht so viel

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Und dann mal wieder drei Entscheidungen zur Beweiswürdigung.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 18.03.2021 – 4 StR 480/20. Das ist mal wieder einer der Beschlüsse, mit denen der BGH einer Strafkammer die Leviten liest = die Beweiswürdigung als zu lang beanstandet. Für mich sind das immer „Hilferufbeschlüsse“ des BGH, der ja das, was die Strafkammern schreiben – hier war es eine des LG Dortmund – alles lesen muss.

So auch hier. Verurteilt worden ist der Angeklagte bei Freisprechung im Übrigen wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, sexuellem Missbrauch eines Kindes und mit der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Die Beweiswürdigung des LG begegnet nach Auffassung des BGH rechtlichen Bedenken.

Zunächst mahnt der BGH/ruft um Hilfe:

„1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht unter anderem der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 14. Januar 2021 – 3 StR 124/20, NStZ-RR 2021, 113, 114 und vom 30. Juli 2020 – 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116, 117; Beschluss vom 6. August 2020 – 1 StR 178/20, NStZ 2021, 184, 185).

Das Tatgericht ist gemäß §§ 261, 267 StPO verpflichtet, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Erwägungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20 und vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19, NStZ-RR 2020, 258; MüKo-StPO/Miebach, 1. Aufl., § 261 Rn. 114). Die wesentlichen Beweiserwägungen sind in den schriftlichen Urteilsgründen so darzulegen, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20, Rn. 6 und vom 25. Februar 2015 – 4 StR 39/15; Urteil vom 7. August 2014 – 3 StR 224/14). Im Falle der Verurteilung des Angeklagten ist das Tatgericht grundsätzlich verpflichtet, die für den Schuldspruch wesentlichen Beweismittel im Rahmen seiner Beweiswürdigung heranzuziehen und einer erschöpfenden Würdigung zu unterziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 StR 39/15, Rn. 3).

Die schriftlichen Urteilsgründe dienen jedoch nicht dazu, den Ablauf der Ermittlungen oder den Gang der Hauptverhandlung in allen Einzelheiten zu dokumentieren. Es ist deshalb in der Regel weder erforderlich noch empfehlenswert, in den Urteilsgründen im Einzelnen wiederzugeben, welche Ergebnisse die im Hauptverhandlungsprotokoll verzeichneten Beweiserhebungen erbracht haben.

Es ist deshalb regelmäßig überflüssig, nach den tatsächlichen Feststellungen sämtliche in der Hauptverhandlung erhobenen Beweismittel, auf denen das Urteil beruhen soll, aufzuzählen; erforderlich ist regelmäßig auch nicht, den wesentlichen Inhalt von Zeugenaussagen ‒ wie im angefochtenen Urteil auf über 50 Seiten geschehen ‒ losgelöst von ihrer Beweisbedeutung in chronologischer Reihenfolge in allen Einzelheiten wiederzugeben. Eine bloße Wiedergabe der Zeugenaussagen ersetzt nicht ihre eigenverantwortliche Würdigung und kann den Bestand des Urteils gefährden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 13. Mai 2020 – 2 StR 367/19 und vom 17. Oktober 1996 – 1 StR 614/96). Eine breite Darstellung der Zeugenaussagen kann schließlich die Anforderungen an eine erschöpfende Würdigung aller für und gegen die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage sprechenden Umstände erhöhen, wenn die mitgeteilten Einzelheiten Anlass bieten, die tatgerichtlichen Wertungen in Frage zu stellen.“

Und dann – trotz der Überlänge:

„2. Gemessen hieran halten die tatgerichtlichen Beweiserwägungen einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie sind lückenhaft.

Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass es der Angeklagte war, der dem Tatopfer unter anderem eine leere Bierflasche aus Glas sowie einen Besenstiel jeweils „zumindest einige Zentimeter in die Vagina schob“, maßgeblich auf die Angaben des zur Tatzeit 13 Jahre alten Zeugen N. gestützt.

a) Das Landgericht hat die Aussage des Zeugen N. in der Hauptverhandlung im Einzelnen und unter Hervorhebung seiner im Zusammenhang sowie auf Fragen des Gerichts erfolgten Angaben (UA S. 56 bis 64), seine Erstangaben gegenüber einem Erzieher und seine Angaben im Verlaufe der Ermittlungen in den Urteilsgründen wiedergegeben (vgl. UA S. 64 bis 75). Im Rahmen der an späterer Stelle aufgenommenen – knappen – Beweiserwägungen hat das Landgericht seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit seiner Angaben unter anderem auf ein fehlendes Falschbelastungsmotiv sowie auf die Aussagekonstanz gestützt. Die diese Wertung tragenden Beweiserwägungen sind lückenhaft und nicht nachvollziehbar.

aa) Das Landgericht hat ein Falschbelastungsmotiv des Zeugen mit der Begründung verneint, es lägen keine Anhaltpunkte dafür vor, dass der Zeuge eigene Handlungen habe vertuschen wollen; soweit das Tatopfer den Zeugen bezichtigt habe, dass er selbst es mit dem Besenstiel penetriert habe, „dürfte“ der Zeuge von dieser Aussage keine Kenntnis erlangt haben, so dass diese Aussage als Anlass für ein Falschbelastungsmotiv ausscheide.

Es bedarf keiner Entscheidung, ob diese tatgerichtlichen Beweiserwägungen bereits deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen, weil es diesem Umstand jede Beweisbedeutung mit der nicht tatsachengestützten Vermutung fehlender Kenntnis des Zeugen hiervon abgesprochen hat.

Die tatgerichtlichen Beweiserwägungen zu einem fehlenden Falschbelastungsmotiv lassen jedenfalls nicht erkennen, dass das Landgericht berücksichtigt hat, dass ein Falschbelastungsmotiv nicht oder nicht allein in der belastenden Aussage des Tatopfers, sondern in einer möglichen eigenen Tatbeteiligung des Zeugen wurzeln kann. Hätte der Zeuge N. das Geschehen zum Nachteil der Nebenklägerin nicht – wie festgestellt – als unbeteiligter Dritter beobachtet, sondern wäre er als Beteiligter selbst in das Tatgeschehen verstrickt gewesen (vgl. Miebach, NStZ-RR 2021, 33, 34; Wenske in MüKo-StPO, 1. Aufl., § 267 Rn. 212), läge hierin ein mögliches Motiv für eine Falschbelastung und seine Aussage bedürfte einer besonders kritischen Würdigung, an der es hier fehlt.

Darüber hinaus hätte Anlass zur Prüfung eines möglichen Falschbelastungsmotivs auch unter dem Gesichtspunkt bestanden, dass der Zeuge N. ausweislich seiner in den Urteilsgründen dokumentierten Angaben gegenüber einem Erzieher, dem Zeugen R. , bekundete, dass „alle anwesenden Personen […], auch er selbst“ an dem Tatgeschehen zum Nachteil der Nebenklägerin beteiligt gewesen seien und auch er selbst das Tatopfer „geschlagen und getreten“ habe. Hieran fehlt es……“

OWi I: Fahreridentifizierung anhand eines Lichtbildes, oder: Bezugnahme auf CD nicht zulässig

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Heute dann ein Tag mit OWi-Entscheidungen. Allerdings – darauf hatte ich neulich schon hingewiesen: So richtige „Knaller-Entscheidungen“ gibt es derzeit nicht. Im OWi-Bereich ist es verhältnismäßig ruhig.

Hier als erstes dann der OLG Hamm, Beschl. v. 17.06.2021 – 4 RBs 141/21. Der bringt aber auch nichts Neues, sondern bestätigt nur noch einmal, was ständige Rechtsprechung ist:  Es kann nicht gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG auf ein bei den Akten befindliches elektronisches Speichermedium Bezug genommen werden:.

„Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht (§ 79 Abs. 6 OWiG). Zu einer Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts bestand kein Anlass.

Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils weist einen auf die Sachrüge hin beachtlichen Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen auf. Die Urteilsgründe müssen so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen. Diese Forderung kann der Tatrichter dadurch erfüllen, dass er in den Urteilsgründen auf ein in der Akte befindliches Foto gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Bezug nimmt. Aufgrund der Bezugnahme wird das Lichtbild zum Bestandteil der Urteilsgründe. Das Rechtsmittelgericht kann die Abbildung aus eigener Anschauung würdigen und ist daher auch in der Lage zu beurteilen, ob es als Grundlage einer Identifizierung tauglich ist. Macht der Tatrichter von der Möglichkeit des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO Gebrauch, so sind darüberhinausgehende Ausführungen zur Beschreibung des abgebildeten Fahrzeugführers entbehrlich (OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.02.2020 – (1 B) 53 Ss-OWi 8/20 (11/20) -juris m.w.N.). Eine Bezugnahme gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG ist allerdings auf ein (bei den Akten befindliches) elektronisches Speichermedium nicht angängig, sondern allenfalls auf Ausdrucke von Bildern, die sich auf diesem befinden (vgl. nur BGH NJW 2012, 244; OLG Bamberg, Beschl. v. 19.07.2017 – 3 Ss OWi 836/17 – juris; OLG Hamm, Beschl. v. 04.02.2019 – III-4 RBs 17/19 -juris).

Es kann dahinstehen, ob das Amtsgericht hier mit der bloßen Erwähnung von Blattzahlen bzgl. zweier Messfotos und der Erwähnung des „auf CD befindlichen Lichtbildes“ überhaupt eine Bezugnahme in dem o.g. Sinne vorgenommen hat (vgl. insoweit nur: OLG Hamm, Beschl. v. 23.03.2017 – III-4 RVs 30/17 -juris m.w.N.). Jedenfalls bzgl. des „auf CD befindlichen Messfotos“ – von dem unklar bleibt, ob es mit einem der erwähnten Bilder auf Bl. 13 und 61 d.A. identisch ist -, auf welches das Amtsgericht seine Überzeugungsbildung „insbesondere“ stützt, liegt nach ständiger Rechtsprechung (s.o.) keine zulässige Bezugnahme vor. Da das Amtsgericht das Lichtbild selbst als bloß „von mittlerer Qualität“ bezeichnet, hätte es daher dann näherer Ausführungen zu seinem Inhalt, insbesondere auch zur Schärfe, Beleuchtungsverhältnissen u. ä. bedurft, um eine Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht zu ermöglichen.“

BayObLG I: Landfriedensbruch vom Fußballfan?, oder: Nur Mitmarschieren/nicht distanzieren reicht nicht

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Heute stelle ich dann mal drei Entscheidungen des BayObLG vor, und zwar sowohl zu StGB- als auch zu StPO-Fragen.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 11.12.2021 – 206 StRR 421/20, den mir der Kollege Müller-Hpltz aus Düsseldorf geschickt hat. Es geht in dem Beschluss um die Frage, ob sich der Angeklagte an Gewalttätigkeiten aus einer Menschenmenge „beteiligt“ hat. Das AG Augsburg – Jugendrichter hat den Angeklagten wegen Landfriedensbruchs schuldig gesprochen. Dagegen die (Sprung)Revision.

Das AG hatte folgende Feststellungen getroffen:

1. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass sich der Angeklagte am 19. Januar 2019 in einer Gruppe von Fußballfans aus Düsseldorf in einer Gaststätte in Augsburg aufgehalten habe. Ca. 50 dieser Fans hätten die Gaststätte auf Kommando einer nicht bekannten Person schlagartig verlassen und seien anschließend mit ca. 30 Anhängern des FC Augsburg zusammengetroffen. Das Aufeinandertreffen sei in eine körperliche Auseinandersetzung einzelner Personen der Gruppierung gemündet. Dee Düsseldorfer Gruppe sei durch lautstarkes Geschrei — seitens in den Feststellurgen namentlich benannter Personen — zum Herbeieilen und zur Beteiligung an der Auseinandersetzung animiert worden. Als die Mitglieder der Augsburger Fangruppierung den Rückzug angetreten hätten, wurden nach den Feststellungen keine weiteren Tätlichkeiten verübt. Die Mitglieder der Düsseldorfer Gruppierung hätten sich dann zusammengeschlossen, sich durch lautstarkes Skandieren ihres Vereinsnamens und Erheben der Arme gegenseitig angepeitscht und seien den Flüchtenden „für kurze Zeit“ hinterhergestürmt, um die gegnerischen Fans zu verletzen, hätten die Verfolgung sodann jedoch ohne weitere Gewalttätigkeiten ab

Hinsichtlich des Angeklagten heißt es in den Feststellungen, dieser habe den Angriff durch seine „Anwesenheit“ unterstützt (UA S. 4), was sich nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen auf die erste Phase des einheitlichen Geschehens bezieht, nämlich auf das Aufeinandertreffen der Gruppen, bei dem Tätlichkeiten und damit Gewalttätigkeiten i.S.d. § 125 Abs. 1 Nr. I StGB begangen wurden. Im Abschnitt zur Beweiswürdigung, die der Senat zur Ergänzung des die Feststellungen enthaltenden Abschnitts heranziehen kann, weil die Urteilsurkunde eine Einheit bildet (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 267 Rn. 3), wird ergänzend ausgeführt, er habe sich „keineswegs … von der Gruppe der Düsseldorfer Fans distanziert“. Er „stehe mitten in der Gruppe“ (UA §, 5). Ferner habe er sich an der kurzen Verfolgungsjagd beteiligt und die Gruppierung durch lautstarke Rufe und „in die Hände klatschen“ [sic] unterstützt (UA S. 4).2

Dem BayObLG reicht das für eine Verurteilung nahc § 125 StGB nicht:

1) Ob sich jemand an Gewalttätigkeiten aus einer Menschenmenge beteiligt, bestimmt sich nach den allgemeinen Teilnahmegrundsätzen der §§ 25 ff. StGB (BGH, Urteil vom 24. Mai 2017, 2 StR 414/16, NJW 2017, 3456 Rn. 10; Beschluss vom 9. September 2008, 4 StR 368/08, NStZ 2009, 28). Strafgrund ist diese Beteiligung, nicht aber der bloße Anschluss an eine unfriedliche Menge (BGH NStZ 2009, 28). Nicht derjenige soll bestraft werden, der sich nach Gewalttätigkeiten nicht veranlasst sieht, sich zu entfernen, sondern nur derjenige, der sich aktiv an Gewalttätigkeiten beteiligt (BGH a.a.O.; vgl. BT Drs. Vl/502, S. 9). Bloß inaktives Dabeisein oder Mitmarschieren genügt nicht (BGH a.a.O.; BGH NJW 2017, 3456 Rn. 12, im Fall jedoch anders für ein „ostentatives Mitmarschieren“ durch Eingliederung in eine Marschformation).

(2) Das Verhalten des Angeklagten vor bzw. während der Begehung der Gewalttätigkeiten, wie es in den Urteilsgründen festgestellt wird, stellt sich nach diesen Maßstäben als bloße inaktive Anwesenheit in der Gruppe dar. Selbst wenn er sich mit dieser in diesem Tatabschnitt fortbewegt haben sollte, sind keine Besonderheiten festgestellt, die auf Unterstützungshandlungen hindeuten. Das bloße Dabeisein und der Umstand, dass er sich, wie die Urteilsgründe ihm anlasten, „nicht von der Gruppe der Düsseldorfer Fans distanziert hat“ (UA S. 5), erfüllt in seiner Person weder die Voraussetzungen. der täterschaftlichen Verübung von Gewalttätigkeiten noch der (psychischen) Beihilfe hierzu.

(3) Soweit der Angeklagte nach den Feststellungen aktive Unterstützungshandlungen durch eine Beteiligung an der Verfolgung der Augsburger Gruppe „schnellen Schritts“ (UA S. 5) und durch lautstarke Rufe und In-die-Hände-Klatschen (UA S.  4) begangen hat, erfolgten diese nach Beendigung der Gewalttätigkeiten. Eine Beteiligung an dieser und damit die Verwirklichung der Tatvariante des § 125 Abs. 1 Nr. 1 StGB können diese nachträglichen Handlungen nach allgemeinen Teilnahmegrundsätzen nicht mehr begründen, denn sie wurden für die Verwirklichung dieser Tatvariante nicht mehr ursächlich. Zwar ist denkbar, aus den festgestellten Handlungen im Rahmen der Beweiswürdigung Rückschlüsse auf das Verhalten des Angeklagten vor oder während der Gewalttätigkeiten zu schließen, zu solchen Folgerungen ist das Jugendgericht jedoch nicht gelangt. Dem Revisionsgericht ist eine eigene Beweiswürdigung verwehrt.

(dd) Die genannten Verhaltensweisen des Angeklagten im Anschluss an die Gewalttätigkeiten (Mitlaufen, Rufen, Klatschen) könnten zwar geeignet sein, im Rahmen des einheitlichen und fortdauernden Geschehens die Verwirklichung des Landfriedensbruch in der Tatvariante des § 125 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu begründen. Jedoch reichen insoweit die Feststellungen im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal einer „Bedrohung“ von Menschen mit einer Gewalttätigkeit nicht aus. Sollte es darauf ankommen, wird vom neuen Tatgericht festzustellen sein, ob ausdrückliche Bedrohungen ausgesprochen wurden oder, was ausreichen würde, konkludent erfolgten (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 125 Rn. 6); ggf. mag auch der bloßen Verfolgung der sich zurückziehenden Gruppe durch die Fangruppe aus Düsseldorf bereits eine bedrohende Wirkung innegewohnt haben, was anhand konkreter Umstände (z.B. Verfolgungsdauer und -strecke, Abstand zwischen den Gruppen, Anzahl der Verfolger und Verfolgten) unter Berücksichtigung etwaiger fortwirkender Auswirkungen vorangegangener Gewalttätigkeiten festzustellen sein wird.

b) Ungeachtet der keine der beiden Tatbestandsvarianten des § 125 Abs. 1 StGB tragenden Feststellungen weist das angegriffene Urteil durchgreifende Rechtsfehler insoweit auf, als das zugrunde gelegte Verhalten des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei belegt ist…..“