Archiv der Kategorie: Untersuchungshaft

U-Haft I: Coronapandemie, oder: Anderer wichtiger Grund für Fortdauer der U-Haft

Bild von Vektor Kunst auf Pixabay

Ich hatte ja neulich schon kurz über den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2020 – HEs 1 Ws 84/20, allerdings nur auf der Grundlage der dazu vom OLG herausgegebenen PM. Heute kann ich nun den Volltext vorstellen.

Zur Erinnerung: Es geht um die Fortdauer der U-Haft in einem Schwugerichtsverfahren. Der Angeklagte befindet sich seit dem 24.09.2019 in Haft. Die am 09.03.2020 begonnene Hauptverhandlung ist wegen der COVID-19-Pandemie unter Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft am 17.03.2020 ausgesetzt worden. Die Haftprüfung nach § 121 StPO hat zur Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft geführt:

„3. Auch die besonderen Voraussetzungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung ist gewahrt. Wegen eines (anderen) wichtigen Grundes, welcher die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigt, konnte Urteil noch nicht ergehen (§ § 121 Abs. 1 StPO).

a) Noch am Tag des Bekanntwerdens der Tat am 24.09.2019 hat die Kriminalpolizei die Ermittlungen übernommen und in der Folge, insbesondere zur Aufklärung der Hintergründe der Tat, zahlreiche Zeugen vernommen sowie die elektronische Kommunikation des Angeklagten ausgewertet. Die rechtsmedizinischen Untersuchungen zur Todesursache fanden am 25.09.2019 statt. Nach Vorlage des Schlussvermerks der Kriminalpolizei am 07.11.2019 schloss die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen am 25.11.2019 mit der Erhebung der Anklage ab. Nach Eingang der Anklage am 26.11.2019 veranlasste der Vorsitzende des Schwurgerichts noch am selben Tag das gemäß § 201 StPO Erforderliche. Am 20.12.2019 beschloss das Schwurgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens. Entsprechend der Verfügung des Vorsitzenden des Schwurgerichts vom 08.01.2020 begann die Hauptverhandlung am 09.03.2020 mit geplanten Fortsetzungsterminen am 25.03.2020, 26.03.2020 und 27.03.2020; ein früherer Beginn der Hauptverhandlung im Februar war wegen der Verhinderung des Verteidigers und der Vertreterin der Nebenklage nicht möglich.

b) Am 17.03.2020 beschloss die Strafkammer außerhalb der Hauptverhandlung die Aussetzung der Hauptverhandlung mit der Begründung, dass wegen der COVID-19-Pandemie ein Schutz der zahlreichen Verfahrensbeteiligten, der Zeugen, Vorführungsbeamten und Gerichtswachtmeister sowie der Zuhörer im Sitzungssaal vor einer Infektion durch das Virus in den Fortsetzungsterminen nicht gewährleistet sei und deshalb eine bloße Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs. 1 StPO nicht mehr in Betracht komme. Mit Verfügung vom selben Tag teilte der Vorsitzende des Schwurgerichts dem Verteidiger, der Vertreterin der Nebenklage sowie der rechtsmedizinischen Sachverständigen mit, dass die Hauptverhandlung alsbald neu zu terminieren sei, und forderte sie auf, zwingende Verhinderungen ab dem 18.05.2020 bis spätestens 24.03.2020 mitzuteilen.

c) Unter diesen Umständen liegt zwar weder eine besondere Schwierigkeit der Sache noch ein besonderer Umfang der Ermittlungen vor. Es besteht aber ein anderer wichtiger Grund im Sinne der §§ 121 Abs. 1 Abs. 3 S. 3 StPO, der es rechtfertigt, den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten. Insoweit hat der Senat gesehen, dass eine Aussetzung der Hauptverhandlung unter Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft grundsätzlich nur in Betracht kommt, wenn dies aus sachlichen Gründen zwingend geboten ist bzw. unumgänglich ist und diese nicht auf vermeidbaren Fehlern oder Versäumnisse im bisherigen Verfahren beruht (Böhm in: Münchner Kommentar zur StPO, 2014, § 121 Rn. 90 m.z.w.N.). Solche Säumnisse liegen aber nicht vor, vielmehr beruht die Aussetzung der Hauptverhandlung auf außergewöhnlichen und von niemanden zu vertretenden Umständen.

d) Nach der insoweit maßgeblichen und vom Senat dabei berücksichtigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht muss bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachtet werden. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteiltem die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. nur etwa BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18 –, NJW 2019, 915 m.w.N.).

e) Nach dieser Maßgabe bilden – unter anderem – nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter, einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.12.1973 – 2 BvR 558/73 –, BVerfGE 36, 264 = NJW 1974, 307, und vom 23.01.2019 a.a.O.; KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 121 Rn. 16 m.w.N.). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 20.11.2015 – 1 Ws 148/15 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 17.04.2008 – 4 OBL 18/08 –, juris). In Anbetracht der zwischenzeitlich als nachgewiesen anzusehenden hohen Ansteckungsgefahr, der vermutlich hohen Anzahl unentdeckter Infektionen und des derzeit noch nicht abschließend einschätzbaren Ausmaßes schwerer bis tödlicher Krankheitsverläufe kann ein solcher wichtiger Grund deshalb auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht – wie hier – nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.

f) Insoweit geht der Senat in Anlehnung an die bisherige obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. OLG Hamburg a.a.O.) davon aus, dass dem zu entscheidenden Spruchkörper bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar ein – vom Senat nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu steht. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, dass sich das Schwurgericht vorliegend auf Grundlage der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft zu diesem neuartigen Virus und dem prognostizierten Fortschreiten der Pandemie an der maßgeblichen Empfehlung der Landesregierung Baden-Württemberg zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie (vgl. insbesondere den Erlass des Ministeriums der Justiz und für Europa vom 14.03.2020 JUMRI-JUM-1400-3/1/3) orientiert hat, was sich in Ermangelung eigener gerichtlicher und sonstig wissenschaftlich augenblicklich vorhandener Sachkunde des Gerichts auch aufdrängt. Nachdem das für die Empfehlung der Landesregierung und den Erlass des Justizministeriums maßgebliche Prinzip der Kontaktvermeidung nicht nur dem unmittelbaren Schutz von erhöht gefährdeten Personen, sondern vornehmlich der gesamtgesellschaftlich notwendigen Verringerung der Infektionsrate dient, war das Schwurgericht auch nach Ansicht des Senates nicht – wie der Verteidiger meint – zur Fortsetzung der Hauptverhandlung gehalten, weil es „nicht ersichtlich [sei], dass einer der direkten Verfahrensbeteiligten zu einer akuten Risikogruppe gehöre“ und Zuhörer in einem Abstand von 1,5 m zueinander platziert werden könnten. Schließlich besteht für den Senat kein Anlass daran zu zweifeln, dass das Schwurgericht die Entscheidung, die Hauptverhandlung auszusetzen, nicht leichtfertig, sondern wohlüberlegt und unter Erwägung aller ihm zu diesem Zeitpunkt ersichtlichen Möglichkeiten, die Hauptverhandlung an den bereits bestimmten Terminen mit einem vertretbaren Ansteckungsrisiko fortzusetzen, getroffen hat, nachdem es – wie es im Aussetzungsbeschluss mitteilt – die Situation und Handlungsoptionen mit der Gerichtsleitung und anderen Strafkammern erörtert hatte. Die rechtliche Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung bis Mai gem. § 229 StPO bestand zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer über die Aussetzung der Hauptverhandlung noch nicht, da das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19 Pandemie im Zivil-, Insolvenz und Strafverfahrensrecht vom 27.03.2020 erst am 28.03.2020 in Kraft getreten ist (BGBl. 2020 Teil I Nr. 14 v. 27.03.2020, S. 572).

g) Die sofortige Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft ist jedenfalls schon nicht deshalb geboten, weil völlig ungewiss wäre, wann die Hauptverhandlung durchgeführt werden kann und damit ein Urteil zu erwarten ist. Insoweit ist nichts dagegen zu erinnern, dass sich das Schwurgericht offenbar bei der Aussetzungsentscheidung von der Annahme leiten ließ, die Hauptverhandlung bereits im Mai 2020 wieder beginnen zu können. Zwar ist dies wegen der dynamischen, in weiten Teilen unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie und ihrer Auswirkungen keineswegs sicher. Jeglicher Grundlage entbehrt diese optimistische Annahme des Schwurgerichts jedoch nicht. So ergeben sich nicht nur aus dem Erlass des Justizministeriums Baden Württemberg vom 14.03.2020, sondern auch aus der Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 17.03.2020, wonach öffentliche Schulen oder Hochschulen (§§ 1 und 2 CoronaVO) sowie andere Einrichtungen (§ 4 CoronaVO) am 20.04.2020 wieder ihren Betrieb aufnehmen können sollen, zumindest nachvollziehbare Hinweise darauf, dass die Gefährdungslage im Mai jedenfalls der Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache zulassen könnte. Jedenfalls kann auch bei der derzeitig nicht absehbaren Entwicklung der Covid 19 – Pandemie die vom Vorsitzenden derzeit beabsichtige Anberaumung eines neuen Hauptverhandlungstermins im Mai 2020 nicht als ersichtlich undurchführbar bewertet werden.

f) Die Fortdauer der seit dem 25.09.2019 andauernden Untersuchungshaft ist mit Blick auf die Schwere des Vorwurfs auch verhältnismäßig.

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 m.w.N). Falls sich entgegen der Annahme des Schwurgerichts die Gefährdungslage im Mai noch nicht in dem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein, um eine weitere Verzögerung des Verfahrens rechtfertigen zu können. So wird das Schwurgericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., GVG § 169 Rn. 5; Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, GVG § 169 Rn. 10) und/oder die Zulassung der Tonübertragung in einen Arbeitsraum für Pressevertreter gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 GVG kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schwurgerichts – etwa wegen einer laufenden Klimaanlage und ggf. damit verbundener Ansteckungsgefahren – umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Gerichtsgebäudes, zu erwägen sein (vgl. Löwe-Rosenberg a.a.O.). Jedenfalls sind die Anstrengungen des Schwurgerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“

Corona-Virus: Fortdauer der U-Haft trotz wegen Corona-Pandemie ausgesetzter Hauptverhandlung

Bild von Vektor Kunst auf Pixabay

Vom OLG Karlsruhe geht gerade folgende PM:

„Pressemitteilung vom 31.03.2020 (10/20)

Mordprozess: Angeklagter bleibt trotz Aussetzung der Hauptverhandlung wegen der Corona-Pandemie in Haft

Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe hat entschieden, dass die Aussetzung der Hauptverhandlung als Folge der Corona-Pandemie nicht dazu führt, dass der Angeklagte aus der Untersuchungshaft zu entlassen ist.

Das Landgericht Baden-Baden hat die bereits begonnene Hauptverhandlung in einem Mordprozess – der 24-jährige Angeklagte soll seine Freundin, die sich von ihm getrennt hatte, heimtückisch getötet haben – ausgesetzt, weil wegen der Corona-Pandemie ein Schutz der zahlreichen Verfahrensbeteiligten, der Zeugen, Vorführungsbeamten und Gerichtswachtmeister sowie der Zuhörer im Sitzungssaal vor einer Infektion durch das Virus in den Fortsetzungsterminen nicht gewährleistet sei. Die Hauptverhandlung soll im Mai 2020 neu beginnen.

Das zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft zuständige Oberlandesgericht bestätigt, dass die wegen des hohen Ansteckungsrisikos bestehende Gesundheitsgefährdung durch die Corona-Pandemie die Verschiebung der Hauptverhandlung mit der Folge rechtfertigt, dass die Untersuchungshaft für drei weitere Monate aufrecht zu erhalten ist. Dabei hat es dem Landgericht für die Bewertung der Verhältnisse vor Ort und die Risikoabschätzung einen nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum zugebilligt.

Beschluss vom 30.03.2020 – HEs 1 Ws 84/20

Wenn der Volltext vorliegt, dann hier mehr. Die Entscheidung überrascht mich nicht. Mit solchen Entscheidungen hatte ich gerechnet.

U-Haft III: Beschränkungen in der U-Haft, oder: Das geht nur „einzelfallbezogen“

© Joachim B. Albers – Fotolia.com

In der letzten Entscheidung des Tages, dem OLG Celle, Beschl. v.  10.01.2020 – 3 Ws 372/19 (UVollz), geht es um die Frage der Zulässigkeit von Beschränkungen während der U-Haft,  Stichwort: „Haftstatut“

Das OLG geht in dem Verfahren mit dem Vorwurf des BtM-Handels von folgendem Sachverhalt aus:

„Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 16. Februar 2019 in Untersuchungshaft. Grundlage der Untersuchungshaft war zunächst ein Haftbefehl des Amtsgerichts Celle. Darin wurde dem Angeklagten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt. Der Haftbefehl war auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt.

Auf der Basis einer Verständigung wurde der Angeklagte am 11. November 2019 wegen Bandenhandels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Mit Beschluss vom selben Tag hat die Strafkammer die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Bereits unter dem 24. Oktober 2019 hatte der Angeklagte durch seinen Verteidiger, Rechtsanwalt pp., beantragt, „den Haftstatut des Mandanten aufzuheben, da dieser sich umfassend geständig eingelassen“ habe.

Mit Beschluss vom 28. November 2019 hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des „Haftstatuts“ zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Gefahr bestehe, dass der Angeklagte sein Geständnis widerrufe, sodass dieser Umstand, anders als die Verteidigung meine, nicht zu einer Aufhebung des „Haftstatuts“ führen könne. Im Übrigen seien auch die Urteile gegen die Mitangeklagten nicht rechtskräftig, sodass durch das Führen unüberwachter Besuche und Telefonate die Gefahr von Absprachen der Angeklagten untereinander bestehe. Dies gelte umso mehr, als bei Telefonaten die Identität des jeweiligen Gesprächspartners nicht geprüft werden könne.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde vom 9. Dezember 2019. Er macht geltend, dass die Voraussetzungen für die Anordnung des „Haftstatuts“ von Anfang an nicht vorgelegen hätten und auch die von der Strafkammer zur Begründung der Aufrechterhaltung des „Haftstatuts“ vorgebrachte theoretische Gefahr von Absprachen die Gesetzesanforderungen nicht erfülle. Die Anordnung, dass die Telekommunikation und der Empfang von Besuchen der Erlaubnis bedürfen und Besuche, Telekommunikation sowie Schrift- und Paketverkehr zu überwachen seien, sei nur zulässig, wenn im Einzelfall aufgrund konkreter Anhaltspunkte durch den unkontrollierten Kontakt des Untersuchungsgefangenen mit der Außenwelt eine reale Gefahr für die Haftzwecke bestehe, während die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht genüge. Eine solche reale Gefahr werde durch den Aspekt, dass trotz bereits abgelegten Geständnisses jedenfalls denktheoretisch die Möglichkeit dessen Widerrufs und die Gefahr von Absprachen bestehe, nicht belegt.

Das Landgericht hat mit Beschluss vom 10. Dezember 2019 entschieden, dass es der Beschwerde nicht abhelfe. Der Angeklagte sei der Kopf der Bande gewesen und habe weitere Täter, insbesondere seinen Drogenlieferanten nicht benannt. Damit lägen aus Sicht der Kammer hinreichend konkrete Anhaltspunkte vor, die einen Eingriff die Freiheitsrechte des Angeklagten rechtfertigten.“

Das OLG hat auf die Beschwerde ( vgl. dazu §§ 119 Abs. 5 Satz 1, 304 Abs.1 StPO)  den LG-Beschluss aufgehoben und die Sache an das LG zurückzuverwiesen. Es moniert, dass keine einzelfallbezogene Anordnung der Beschränkungen vorliegt.

Der amtliche Leitsatz der Entscheidung:

Sollen einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a StPO) auferlegt werden, ist eine den Anforderungen nach § 119 StPO genügende, einzelfallbezogene Anordnung (sog. Haftstatut) notwendig, die dem Beschuldigten zur Kenntnis zu geben ist. Den sich aus §§ 133 ff. NJVollzG ergebenden Beschränkungen sind in Niedersachsen inhaftierte Beschuldigte nur zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt unterworfen. Daher können ohne ein Haftstatut nach § 119 StPO nur Gründe der Sicherheit oder Ordnung der Vollzugsanstalt Entscheidungen zur Ausgestaltung der Untersuchungshaft tragen.“

U-Haft II: Haftgrund Wiederholungsgefahr, oder: Welcher Vermögensschaden muss angerichtet sein?

© 3dkombinat – Fotolia.de

Die zweite „Haftentscheidung“ kommt mit dem OLG Celle, Beschl. v. 14.02.2020 – 2 Ws 49/20 – vom OLG Celle. Das positioniert sich hinsichtlich des Haftgrundes der so. Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO)  in der Frage, ab wann bei Vermögensserienstraftaten von einer „die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigenden Straftat“ auszugehen ist. Die Frage ist in Rechtsprechung und Literatur ja nicht unstrittig.

Hier wird dem Angeschuldigten

„zur Last gelegt, zwischen dem 09.01. und dem 26.09.2019 (richtigerweise dem 23.09.2019) über die Internetverkaufsplattform eBay-Kleinanzeigen Waren aus dem Bereich der Unterhaltungs- und Mobilfunkelektronik angeboten und bundesweit an Erwerber veräußert zu haben, obwohl er weder willens noch in der Lage gewesen sei, die Waren zu liefern. Den vereinbarten Kaufpreis habe er sich von den Geschädigten jeweils direkt auf eines seiner zahlreichen Konten überweisen lassen, nur in einem Fall sei es zu einer Zahlung über den Dienstleister PayPal gekommen. Eine Lieferung des Kaufgegenstands sei in keinem der angeklagten 13 Fällen erfolgt, vielmehr habe er auf Nachfragen der Erwerber überhaupt nicht reagiert oder diese durch Ausreden vertröstet. Der Angeschuldigte habe gehandelt, um sich eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und von einigem Umfang zu sichern.

Die Schadenssummen reichen von 50,- € bis 375,- €, der Gesamtschaden beläuft sich auf 2.695,- €.“

Das OLG bejaht mit dem LG die Voraussetzungen des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO und begründet das recht umfangreich unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien. Es hat seiner Entscheidung folgenden Leitsatz gegeben – Rest bitte selbst lesen:

„Auch Betrugsserienstraftaten mit Einzelschäden von deutlich unter 2.000,- € können nach den Umständen des Einzelfalls als die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftaten gelten und dadurch den Haftgrund der Wiederholunsggefahr begründen. Als Umstände des Einzelfalls können neben der Schadenshöhe insbesondere auch die Beweggründe und Ziele des Täters, die aus der Tat sprechende Gesinnung und der bei ihr aufgewendete Wille, die Art der Ausführung und die weiteren Auswirkungen der Tat, ferner das Vorleben des Täters und sein Nachtatverhalten herangezogen werden.“

U-Haft I: Keine U-Haft im „Augsburger Königsplatz-Fall“, oder: Deutliche Worte vom BVerfG

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

An sich hatte ich heute einen OWi-Tag vorgesehen. Aber ich habe mich umentschieden und bringe drei Entscheidungen zur U-Haft.

An der Spitze der BVerfG, Beschl. v. 09.03.2020 – 2 BvR 103/20. Der ist im sog. Augsburger Königsplatzfall ergangen. In dem wird u.a. gegen den 17-jährigen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung geführt. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen „als Teil einer Gruppe von sieben Personen am 6. Dezember 2019 gegen 22.40 Uhr im Bereich des Königsplatzes in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden Geschädigten S. und M. getroffen zu sein. Der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten hätten bereits seit geraumer Zeit freundschaftliche Kontakte gepflegt und sich als Ausdruck der Zusammengehörigkeit gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel zwischen dem Geschädigten S. und einer oder mehrerer Personen aus der Gruppe entwickelt habe, hätten der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten den Geschädigten S. umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle Beschuldigten seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, den Geschädigten S. entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen, sei es verbal, körperlich oder auch durch schiere physische Präsenz und Demonstration der Überlegenheit der Gruppe gegenüber dem allein in ihrer Mitte stehenden Geschädigten S. Auf diese Weise hätten der Zusammenhalt und die zahlenmäßige Überlegenheit der Gruppe jedem der Beschuldigten ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die übrigen Gruppenmitglieder angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen.2

Das AG Augsburg hatte gegen den Beschuldigten U-Haft angeordnet, die dagegen gerichtete Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte beim LG Erfolg, das LG hat den dringenden Tatverdacht verneint. Dagegen dann die weitere Beschwerde der StA, die dazu geführt hat, dass das OLG den Haftbefehl wieder erlassen hat. Und dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die zur Aufhebung des Haftbefehls und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG geführt hat.

Das BVerfG führt – nachdem es zu den Grundsätzen betreffend Haftentscheidungen „referiert“ hat – zur Sache aus: