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Corona II: Wenn der Verteidiger in der HV keine Maske tragen will, oder: Trennung, Aussetzung, Kostentragung

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Die zweite Entscheidung kommt dann vom OLG Celle. Es handelt sich um den OLG Celle, Beschl. v. 15.04.2021 – 3 Ws 91/21. Ein m.E. mehr als interessanter Sachverhalt 🙂 .

Entschieden hat das OLG über die Beschwerde gegen den Beschluss einer Wirtschaftsstrafkammer, die mit dem Beschluss das Verfahren gegen einen Angeklagten abgetrennt, die Hauptverhandlung gegen diesen nach § 145 Abs. 1 StPO wegen eines einem unentschuldigten Ausbleiben gleichzusetzenden Verhaltens seines Verteidigers in der Hauptverhandlung ausgesetzt und dem Verteidiger die durch die Aussetzung verursachten Kosten gemäß § 145 Abs. 4 StPO auferlegt. Hintergrund dieser Entscheidung war, dass der Verteidiger sich wiederholt geweigert hatte, der von der Kammer getroffenen Anordnung, im Gerichtssaal einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, und durch die die Kammer eine von dem Vorsitzenden zuvor getroffenen Anordnung bestätigt hat, zu folgen.

Die Kammer hat hierzu ausgeführt, die Anordnung, in der Hauptverhandlung eine medizinische Maske zu tragen, sei aus Gründen des vorbeugenden Infektionsschutzes ergangen, zumal die Hauptverhandlung gegen zwei 74-jährige Angeklagte geführt werde, von denen einer auch unter Asthma leide und daher einer Risikogruppe zuzuordnen seien. Eine Fortsetzung der Hauptverhandlung unter Mitwirkung des Verteidigers sei ausgeschlossen, weil nicht das unnötige Risiko eingegangen werden könne, dass eine möglicherweise infizierte Person die Luft im Gerichtssaal durch Ausatmen mit Viren so anreichere, dass sich andere im Saal anwesende Personen infizieren könnten. Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes stelle hiernach das geeignetste und mildeste Mittel dar, um diesen Schutz zu gewährleisten. Das Befolgen der Anordnung sei dem Verteidiger ohne weiteres möglich gewesen; ein ärztliches Attest, welches ihm vom Tragen einer entsprechenden Maske hätte befreien können, habe dieser nicht vorgelegt. Die Kammer sehe in diesem Verhalten des Verteidigers einen Pflichtenverstoß, der einem Entfernen aus der Hauptverhandlung zur Unzeit oder einem Nichterscheinen gleichzusetzen sei. Von jedem Verfahrensbeteiligten dürfe erwartet werden, vor Gericht so aufzutreten und rechtmäßig ergangene Anordnungen zu befolgen, dass ihm unter Beachtung der Unversehrtheit der Rechtsgüter der anderen im Gerichtssaal anwesenden Personen der Aufenthalt gestattet werden kann. Dies gilt insbesondere in Zeiten einer Pandemie, die ihre Ursachen in einem über die Atem- und Raumluft durch Aerosole übertragbaren Virus habe. Bei dem Verhalten des Verteidigers handele es sich nicht um eine bloße Ungebühr, die vom Gericht zunächst zu tolerieren und gegebenenfalls auf berufsrechtlichen Weg zu ahnden wäre. Denn vorliegend gehe es um den Schutz der weiteren am Verfahren beteiligten Personen vor einer unnötigen Steigerung des Infektionsrisikos.

Die Beiordnung eines weiteren Verteidigers stelle nach 19 Verhandlungstagen und einer weitgehend durchgeführten Beweisaufnahme keine Alternative zur Aussetzung dar. Auch in Anbetracht des Verfahrensumfangs wäre einem neuen Verteidiger ein Zeitraum zur Einarbeitung zu gewähren, der eine dreiwöchige Unterbrechung der Hauptverhandlung übersteigen würde. Die Auferlegung der Verfahrenskosten gemäß § 145 Abs. 4 StPO sei geboten, da das schuldhafte Verhalten des Verteidigers die Aussetzung erforderlich gemacht habe. Der Verteidiger habe es ohne gewichtige Gründe abgelehnt, der Anordnung zu folgen. Auch die Möglichkeit der Beibringung eines ärztlichen Attests sei von ihm entgegen seiner Ankündigung vom 20. Hauptverhandlungstag nicht genutzt worden.

Gegen diese Entscheidung richtete sich die Beschwerde des Angeklagten, mit welcher er sich namentlich gegen die Annahme eines Pflichtenverstoßes sowie die hierauf gestützte Abtrennung des Verfahrens, die Aussetzung der Hauptverhandlung sowie die Auferlegung der hierdurch verursachten Kosten wendet. Die Anordnung, im Sitzungssaal einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, könne nicht auf § 176 Abs. 2 GVG gestützt werden und entbehre daher einer rechtlichen Grundlage. Die Abstände im Sitzungssaal seien gewahrt, es werde regelmäßig gelüftet und auch um seinen Sitzplatz seien Plexiglaseingrenzungen installiert worden. Er selbst sei weder von der Hauptverhandlung ausgeblieben noch habe er sich geweigert, die Verteidigung zu führen. Überdies hätte ein anderer Verteidiger beigeordnet und die Hauptverhandlung hiernach fortgeführt werden können. Die Kammer habe ihr insoweit zustehendes Ermessen fehlerhaft ausgeübt.

Das OLG hat die Beschwerde verworfen. Ich stelle hier dann nur die Leitsätze des Beschlusse ein. Den Rest der umfassend begründeten Entscheidung bitte selbst lesen:

1. Eine auf § 176 GVG gestützte Anordnung, zum Schutz vor einer Covid19-Infektion in der Hauptverhandlung eine medizinische Maske zu tragen, ist regelmäßig nicht zu beanstanden.

2. Eine grundlose Weigerung des Verteidigers, dieser Anordnung zu folgen, kann eine Aussetzung des Verfahrens und hiernach eine Kostentragungspflicht nach § 145 Abs. 4 StPO zur Folge haben.

Corona I: Unterbrechung der Hauptverhandlung?, oder: § 10 EGStPO – Unterbrechung wegen Corona – rettet

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Ich beginne die 17. KW. mit zwei Entscheidungen zu Corona.

Am Start zunächst der BGH, Beschl. v. 11.03.2021 – 1 StR 458/20. Es geht noch einmal um die Frage der Unterbrechung der Hauptverhandlung und die Einhaltung der entsprechenden Fristen. Die Angeklagten hatten gegen die Verurteilung durch das LG mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, dass die Unterbrechungsfrist gemäß § 229 Abs. 2 StPO nicht gewahrt worden sei, weil eine Krankheit im Sinne des § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht vorgelegen habe.

Der BGH sagt: Zumindest unbegründet:

„Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

1. Die Hauptverhandlung, die am 19. September 2019 begonnen hatte, wurde am 28. Februar 2020, dem 15. Hauptverhandlungstag, unterbrochen und sollte am 17. März 2020 fortgesetzt werden. An diesem Tag teilte ein Schöffe dem Landgericht telefonisch mit, dass er am 16. März 2020 nach einem Kurzurlaub aus Österreich zurückgekehrt sei und sogleich seinen Hausarzt wegen der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus aufgesucht habe. Dieser habe ihm mitgeteilt, dass er aus Kapazitätsgründen eine Testung im Hinblick auf eine mögliche Ansteckung mit diesem Virus nicht vornehmen könne. Das Landgericht hat daraufhin am 17. März 2020 auf Grundlage des § 229 Abs. 3 StPO durch Beschluss festgestellt, dass wegen Besorgnis der Infizierung des Schöffen und der Gefahr einer Ansteckung die Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO gehemmt seien.

Nachdem eine beisitzende Richterin am 21. März 2020 telefonisch mitgeteilt hatte, dass ihr Kind zu einem Kind ihres Nachbarn Kontakt gehabt habe, der anschließend positiv auf den SARS-CoV-2-Virus getestet worden sei, und sich ihre Familie auf Rat des Gesundheitsamtes in häusliche Quarantäne begeben und eine Testung auf den Virus durchgeführt habe, hat das Landgericht am 25. März 2020 mit gleicher Begründung erneut eine Hemmung der Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO nach § 229 Abs. 3 StPO beschlossen.

Mit Beschluss vom 31. März 2020 hat das Landgericht schließlich das Ende der Fristenhemmung zum 29. März 2020 festgestellt, nachdem zu diesem Zeitpunkt die Testung der Familienmitglieder der beisitzenden Richterin auf den Virus jeweils negativ ausgefallen und beim Schöffen keine Krankheitssymptome aufgetreten waren. Am 2. April 2020 hat das Landgericht die Hauptverhandlung mit den Schlussanträgen fortgesetzt und am nächsten Tag das Urteil verkündet.

2. Ein Verstoß gegen die Unterbrechungsvorschriften des § 229 Abs. 2 und 3 StPO liegt nicht vor. Der Ansicht der Revision, dass das Landgericht die Hauptverhandlung spätestens zum 30. März 2020 (Montag) hätte fortsetzen müssen, um die Ein-Monatsfrist des § 229 Abs. 2 StPO zu wahren, trifft nicht zu. Das Landgericht konnte zwar die Hemmung der Fristen nicht auf § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO stützen, weil eine Krankheit im Sinne dieser Vorschrift nicht vorgelegen hat. Jedoch ist § 10 Abs. 1 EGStPO mit Wirkung vom 28. März 2020 in Kraft getreten, der eine Hemmungswirkung konstituiert, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate, wobei die Fristen frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung enden.

Die Hemmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO tritt kraft Gesetzes ein. Der Feststellungsbeschluss nach Satz 2 hat nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststellt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 2020 – 4 StR 431/20 mwN). Demnach war vorliegend – die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 EGStPO lagen unzweifelhaft vor – die Hemmung der Fristen am 28. März 2020 kraft Gesetzes eingetreten und fand ihr Ende am 29. März 2020. Innerhalb der Zehn-Tagesfrist wurde die Hauptverhandlung am 2. April 2020 fortgesetzt. Einer erneuten Beschlussfassung des Landgerichts nach dem 28. März 2020, dass die Unterbrechung auf die neu eingeführte Vorschrift des § 10 Abs. 1 EGStPO gestützt werde, bedurfte es nicht.“

Da war dann der § 10 EGStPO die Rettung.

Außer der Reihe zu Corona: VG Weimar zur Maskenpflicht an Schulen, oder: „ausbrechender Rechtsakt“

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Vor dem eigentlichen Tagesprogramm ein „Abrundungspost“, und zwar zu dem Beitrag betreffend den AG Weimar, Beschl. v. 08.04.2021 – 9 WF 148/21 (vgl. hier: Corona I: AG Weimar und AG Wuppertal melden sich, oder: Zwei etwas “ungewöhnliche” Entscheidungen). Ich erinnere: Das ist die Entscheidung, die im familiengerichtlichen Verfahren zwei Schulen in Weimar untersagt hat, die Maskenpflicht anzuordnen, weil damit das Kindeswohl von zwei Schülern gefährdet sei.

Mit der Frage hatte sich nun auch das VG Weimar im VG Weimar, Beschl. v. 20.04.2021 – 8 E 416/21 We – zu befassen. Und das VG rückt die Stühle wieder an die richtige Stelle:

„1. Vorausgeschickt sei, dass für die gerichtliche Überprüfung der Allgemeinverfügung ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (§ 40 Abs. 1 VwGO). Der die Antragsteller zu 1. und 2. betreffende Beschluss des Amtsgerichts Weimar vom 8. April 2021 (Az. 9 F 148/21) steht dem nicht entgegen. Der Beschluss ist als ausbrechender Rechtsakt (VGH München, Beschluss vom 16.04.2021, 10 CS 21.1113) offensichtlich rechtswidrig.

Insbesondere fehlt dem Familiengericht eine Rechtsgrundlage für seine Entscheidung. In dem Beschluss werden im Weg der einstweiligen Anordnung einzelne Gebote gegenüber „den Leitungen und Lehrern […] sowie den Vorgesetzten der Schulleitungen“ ausgesprochen. Dem Familiengericht steht aber eine Befugnis, Anordnungen gegenüber Behörden und Vertretern von Behörden zu treffen, nicht zu. Für eine solche Anordnungskompetenz fehlt es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage (Lugani in Münchner Kommentar BGB, 8. Auflage 2020, Rdnr. 181 zu § 1666). § 1666 BGB scheidet als Grundlage aus, denn bei den in § 1666 Abs. 4 BGB genannten Dritten handelt es sich um private Personen, nicht um Träger öffentlicher Gewalt. Dies ist für das Verhältnis zwischen Familiengerichten und den Behörden der Kinder- und Jugendhilfe anerkannt (z. B. OLG Oldenburg, Beschluss vom 27.11.2007, 4 WF 240/07, Juris-Rdnr. 2; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 29.07.2015, 1 BvR 1468/15, Juris-Rdnr. 5; Lugani, a.a.O., Rdnr. 180 ff zu § 1666; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Auflage 2019, Rdnr. 16 vor §§ 50-52). Gegenüber den Schulbehörden gilt nichts anderes. Im Rahmen des schulrechtlichen Sonderstatusverhältnisses sind die zuständigen Behörden an die das Kindeswohl schützenden Grundrechte gebunden. Die gerichtliche Kontrolle dieses Behördenhandelns auch hinsichtlich von Gesundheitsschutzmaßnahmen in den Schulen obliegt allein den Verwaltungsgerichten (so auch die aktuelle familiengerichtliche Rechtsprechung, z. B. zuletzt – unter ausdrücklicher Ablehnung der Auffassung des AG Weimar – AG Waldshut-Tiengen, Beschluss vom 13.04.2021, 306 Ar 6/21, Juris-Rdnr. 8).

Weiterer Ausführungen zur Rechtswidrigkeit des Beschlusses des Amtsgerichts Weimar bedarf es an dieser Stelle nicht. Sie sind dem Thüringer Oberlandesgericht als Rechtsmittelinstanz vorbehalten.“

Genaus das hat in einem Rechtsstaat zu passieren: Jeder entscheidet über das, für das er zuständig ist.

Ach so: In der Sache hat das VG den Antrag zurückgewiesen. Er sieht die Thüringer CoronaVO als wirksam an. Und:

„6.2. Bei der Auswahl der zu ergreifenden Maßnahme durfte der Antragsgegner das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung für Grundschüler (hier der Antragsteller zu 2.) und der medizinischen Gesichtsmaske für Schüler an der Klassenstufe 7 (hier der Antragsteller zu 1.) anordnen. Der Antragsgegner hält sich mit seiner Entscheidung im Rahmen des ihm eröffneten Ermessens. Diese vom Antragsgegner gewählte Handlungsalternative ist vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis vertretbar und liegt deshalb innerhalb seines Einschätzungsspielraums (vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 25.11. 2020, 3 EN 746/20, Juris-Rdnr. 53).“

Corona II: Corona-VO Ba-Wü verfassungsgemäß, oder: Gemeinsamer Aufenthalt nur mit Mindestabstand

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Bei der zweiten Entscheidung aus dem „Corona-Komplex“, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2021 – 2 Rb 34 Ss 2/21. Es geht um die Verfassungsmäßigkeit und Auslegung des Aufenthaltsverbots im öffentlichen Raum in der baden-württembergischen Corona-Verordnung von Frühjahr 2020.

Das AG Heidelberg hat den Betroffenen wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 100 € und wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 500 € verurteilt.

Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen stand der Betroffene am 05.04.2020 zunächst um 16:20 Uhr mit zwei und dann um 18:00 Uhr mit drei anderen jeweils nicht zu seinem Hausstand gehörenden Personen an zwei verschiedenen Örtlichkeiten im öffentlichen Raum zusammen, mit denen er sich unterhielt, wobei die Kommunikation über das Mindestmaß der gebotenen Höflichkeit im Sinn eines „Hallo, wie geht’s“ hinausging. Der Abstand zwischen den Personen betrug bei dem ersten Vorkommnis etwa einen Meter, bei dem späteren Vorkommnis etwa anderthalb Meter.

Die Verurteilung ist auf §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 9 Nr. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17.03.2020 in der vom 29.03.2020 bis 09.04.2020 geltenden Fassung gestützt.

Das OLG hat die Rechtsbeschwerde zugelassen und eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG angeregt:

Es nimmt zunächst zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-VA Stellung und bejahr diese. Dazu hier nur der Leitsatz, das man das auch alles schon mal gelesen hat:

Das Infektionsschutzgesetz ermächtigte in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die Landesregierungen zu Regelungen durch Rechtsverordnung, im Frühjahr 2020 aus Anlass der Corona-Pandemie den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu beschränken und Verstöße hiergegen als Ordnungswidrigkeit auszugestalten.

„Zur Sache“ führt das OLG dann aus:

„bb) Der § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 in der zur Tatzeit geltenden Fassung zukommende Regelungsgehalt ist dabei durch Auslegung zu ermitteln.

(1) Bei der Auslegung einer Norm bildet der Wortlaut zugleich Ausgangspunkt und Grenze (BVerfGE 71, 108; 92, 1). Mit dem Begriff „Aufenthalt“ wird dabei nicht mehr als die zeitlich begrenzte Anwesenheit an einem Ort umschrieben (vgl. nur https://www.duden.de/rechtschreibung/Aufenthalt). Soweit § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 an den Aufenthalt mit anderen Personen anknüpft, ergibt sich daraus nicht ohne Weiteres, wie die Verbindung zwischen den beteiligten Personen sein muss, um diese Voraussetzung zu erfüllen. Denn dies erlaubt sowohl ein Verständnis, bei dem es auf eine räumliche Nähe und/oder aber eine innere Verbindung der Personen (vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 14.04.2020 – 19 K 1816/20 = BeckRS 2020, 5775) ankommt. Insoweit gibt auch die Zusammenschau mit § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, der zu anderen Personen einen Mindestabstand von 1,5 Metern vorschrieb, keinen Aufschluss, weil sich dem Text – anders als etwa bei der Regelung der Abstands- und Kontaktregelungen in §§ 2, 9 der Corona-VO vom 23.06.2020 – kein eindeutiger Bestimmungsgehalt im Sinn eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses entnehmen lässt.

(2) Dem Amtsgericht ist danach beizupflichten, dass dem Gesetzeszweck entscheidende Bedeutung für die Bestimmung des Regelungsgehalts zukommt. Allerdings führt dies zu einem von der Bewertung des Amtsgerichts abweichenden Auslegungsergebnis.

Nach den bei Erlass der Verordnung bestehenden noch eingeschränkten wissenschaftlichen Erkenntnissen kam dem Einhalten eines räumlichen Abstandes zwischen den Menschen entscheidende Bedeutung zu, um eine Übertragung des Virus im Weg der Tröpfcheninfektion zu verhindern, wobei ein Abstand von 1,5 Metern als ausreichend erachtet wurde (und wird). Diesem Zweck diente nicht nur die Abstandsregel des § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, sondern letztlich auch die mit der Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO angestrebte Kontaktbeschränkung. Dem wird ein Verständnis, wonach es für den Aufenthalt mit einer anderen nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Person allein auf eine innere Verbindung zwischen den Personen (im Sinn eines nicht nur zufälligen Zusammentreffens, VG Karlsruhe a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.) ohne Berücksichtigung des räumlichen Abstands ankommt, nicht gerecht.

Zwar wäre nach dem Wortlaut und dem systematischen Verhältnis zu § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO auch ein Verständnis möglich, wonach der Verordnungsgeber das Zusammenkommen mehrerer Personen allein deshalb verhindern wollte, weil dabei die Gefahr besteht, dass hinreichende Mindestabstände – wenngleich auch häufig unbeabsichtigt – gerade nicht verlässlich eingehalten werden. Als Hinweis auf einen entsprechenden Willen des Verordnungsgebers kann gesehen werden, dass in der ab dem 04.05.2020 geltenden Fassung der Corona-Verordnung durch § 9 Nr. 1 CoronaVO nicht mehr wie zuvor der Verstoß sowohl gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO als auch gegen das Abstandsgebot nach § 3 Abs. 1 Satz 2 CoronaVO, sondern nurmehr der Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO bußgeldbewehrt war.

Unabhängig davon, ob dies im Text der zum Tatzeitpunkt geltenden Verordnungsfassung hinreichend zum Ausdruck kommt, kann jedoch auch dann nicht auf eine räumliche Komponente verzichtet werden, da sonst auch Fallgestaltungen erfasst würden, bei denen keine Infektionsgefahr bestand, zum Beispiel, wenn sich zwei für sich genommen erlaubte Personengruppen auf der Straße begegneten und mit mehreren Metern Abstand zueinander (z.B. von einer Straßenseite zur anderen) unterhielten. Denn im Falle der verlässlichen Wahrung eines eine Übertragung der Krankheit ausschließenden Mindestabstands ist das Verbot einer Ansammlung nicht mehr zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich und damit nicht mehr von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt (OLG Hamm a.a.O.). Auch unter dem Gesichtspunkt der an eine Norm zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen (dazu OLG Oldenburg NdsRpfl 2021, 66) ist es nach Auffassung des Senats geboten, zur Bestimmung des Maßes der räumlichen Komponente auf die in § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO getroffene Bestimmung zurückzugreifen, der die wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde liegt, dass das Übertragungsrisiko bei Einhaltung eines Mindestabstandes von 1,5 Metern minimiert ist (ebenso AG Reutlingen COVuR 2020, 611; vgl. auch OLG Koblenz a.a.O.).

(3) Bestätigt wird dieses Auslegungsergebnis nicht zuletzt dadurch, dass der Verordnungsgeber in späteren Fassungen der Corona-Verordnung – so auch in der zum Urteilszeitpunkt geltenden Fassung – den gesetzestechnisch missglückten Regelungstext in diesem Sinn umgestaltet hat, ohne dass damit ersichtlich eine inhaltliche Änderung einhergehen sollte.

Diese Rechtsauffassung wird auch vom 1. Bußgeldsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe in einem nicht veröffentlichten Beschluss vom 04.02.2021 (1 Rb 21 Ss 833/20) – allerdings nicht tragend – geteilt.

2. Auf Grundlage dieser vom amtsgerichtlichen Urteil abweichenden Beurteilung der rechtlichen Grundlage kann das Urteil schon auf die Sachrüge keinen Bestand haben, so dass es auf die daneben erhobenen verfahrensrechtlichen Beanstandungen nicht mehr ankommt.

a) Bezüglich der Tat II. 2. des Urteils (angenommener vorsätzlicher Verstoß um 18:00 Uhr) ergibt sich schon aus den getroffenen Feststellungen nicht zweifelsfrei, dass es zu einer Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern gekommen ist.

b) Hinsichtlich der weiteren Tat II. 1. (angenommener fahrlässiger Verstoß um 16:20 Uhr) soll der Abstand nach den getroffenen Feststellungen zwar bei nur etwa einem Meter gelegen haben. Doch bestehen erhebliche Bedenken, ob diese Feststellung von der dazu vorgenommenen Beweiswürdigung getragen wird. Mit der Feststellung hat das Amtsgericht die Entfernungsangabe des Zeugen Bender übernommen, der diese jedoch ausdrücklich als Schätzung bezeichnet hat. Dies lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres mit den von ihm auf einem Lichtbild (AS. II 97) eingetragenen Standorten der beteiligten Personen in Einklang bringen, die dem Senat wegen der hierauf erfolgten Verweisung gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zugänglich sind. Nach Auffassung des Senats hätte es deshalb näherer Feststellungen zu den räumlichen Verhältnissen am Tatort bedurft. Jedenfalls bei einer im Grenzbereich liegenden Unterschreitung des nach der Rechtsauffassung des Senats maßgeblichen Mindestabstandes kann dies zudem Einfluss auf die Beurteilung des Schuldgehalts haben und sich damit auf die Bemessung des Bußgeldes auswirken.

Da es zweifelhaft erscheint, dass in einer neuen Hauptverhandlung überhaupt noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Unterschreitung des Mindestabstandes von 1,5 Metern als Voraussetzung für eine Verurteilung belegen, und auf der Grundlage des Akteninhalts jedenfalls eine klare Unterschreitung des Mindestabstandes jeweils nicht vorgelegen haben dürfte, erscheint eine Fortsetzung des Verfahrens nicht sachdienlich. Bei dieser Sachlage könnte das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG (mit der Kostenfolge gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO) beendet werden.“

Corona I: AG Weimar und AG Wuppertal melden sich, oder: Zwei etwas „ungewöhnliche“ Entscheidungen

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Heute dann der Start in  die 15. KW.

Und ich beginne diese Woche dann mal wieder mit „Corona“, dem Monothema der letzten Monate. Zunächst werde/will ich eine AG-Entscheidung erwähnen.

Nein, es ist nicht der AG Weimar, Beschl. v. 08.04.2021 – 9 WF 148/21, der gestern durch das Netzt gegeistert ist und die Wogen hat hoch schlagen lassen. Der Beschluss – das sieht man als Kundiger gleich am Aktenzeichen – das „F“ steht beim AG für „Familiengericht“ – ist im familiengerichtlichen Verfahren in Form einer einstweiligen Anordnung (eA) nach §§ 49 ff. FamFG) ergangen, wohl auf einen Antrag nach § 1666 BGB. Jedenfalls habe ich das so verstanden, wobei ich einräume: Die 178 Seiten, die der Beschluss lang ist, habe ich nur überflogen.

Denn: Der Beschluss untersagt zwei Schulen in Weimar, die Maskenpflicht anzuordnen, weil damit das Kindeswohl von zwei Schülern gefährdet sei. Spätestens da merkt man, dass etwas nicht stimmen kann. Denn:

  • Das Familiengericht überprüft die Maskenpflicht, die auf den Regelungen der Corona-VO in Thüringen beruht? Dafür ist wohl kaum das AG im familiengerichtlichen Verfahren zuständig. M.E. hat hier jemand eine Bühne gesucht und, wenn man die Kommentare unter den den diversen Veröffetlichungen sieht, auch gefunden.
  • Dafür sprechen die 178 Seiten, dafür spricht der in meinen Augen unsinnige Tenor des Beschlussen, der m.E. nocht vollstreckbar ist.
  • Dafür sprechen die „gehörten“ (?) Sachverständigen, die alle – gelinde ausgedrückt – Corona, wenn nicht leugnen, dann aber zumindest relativieren.
  • Dafür spricht der Veröffentlichungszeitpunkt: Auf einem Samstag im Internet. Da dauern Reaktionen der Fachbehörden lange – m.E. haben sie zu lange gedauert.

Daher: Ich werde den Beschluss – es handelt sich nicht um ein „Urteil“, wie an einigen Stellen zu lesen war – hier nicht verlinken. Sondern ich warte mal ab, was passiert. Ob Rechtsmittel möglich sind, bin ich mir gar nicht so sicher, wenn ich den § 57 FamFG sehe – aber ich bin kein Familienrechtler. Und wer soll es  einlegen? Wer war am Verfahren beteiligt? Das Land Thüringen offenbar nicht, denn das ist laut Beschluss ja nur angehört worden. Also so einfach ist das vielleicht gar nicht, wie das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in seiner gestrigen PM meint.

Nun zur eigentlichen Sache – wobei: Dafür, dass ich zu dem AG Weimar-Beschluss nicht bloggen woltte, ist es nun doch ein wenig mehr geworden. Aber egal.

Vorstellen wollte ich hier eine andere amtsgerichtliche Entscheidung, nämlich das AG Wuppertal, Urt. v. 29.03.2021 – 82 OWi-923 Js 192/21-2/21. Mit dem Urteil hat das AG Wuppertal vier Betroffene von einem Verstoß gegen die Kontaktbeschränkungen des § 2 Abs. 1, 2 Nr. 1 CoronaschutzVO NRW vom 30.10.2020 in der ab dem 10.11.2020 gültigen Fassung frei gesprochen. Die vier Betroffenen sollen sich am 15.11.2020 gegen 0:22 Uhr mit Angehörigen von mehr als dem eigenen und einem weiteren Hausstand getroffen haben.

Das AG spricht frei mit der Begründung:

§ 2 Abs. 1, 2 CoronaSchVO vom 30.10.2020 in der ab dem 10.11.2020 gültigen Fassung scheidet als taugliche Rechtsgrundlage für die gegenständlichen Bußgeldbescheide aus, weil die Norm gegen höherrangiges Recht verstößt. Sie ist nicht mit Art. 20 Abs. 3 bzw. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar.

Die Begründung stelle ich nicht näher ein. Das hat man m.E. alles schon mal gelesen.

Was mich an dem Urteil erstaunt: Die Argumentation des AG ist nicht neu – das AG nimmt ja auch selbst auf „AG Dortmund, Urteil vom 02. November 2020, 733 OWi – 127 Js 75/20, 64/20, Rn. 29 ff.; AG Ludwigsburg, Urteil vom 29. Januar 2021, 7 OWi 170 Js 112950/20, Rn. 23 ff.; AG Reutlingen, Beschluss vom 09. Dezember 2020, 4 OWi 23 Js 16246/20, Rn. 4 ff.; AG Weimar, Urteil vom 11. Januar 2021, 6 OWi – 523 Js 202518/20, Rn.10 ff.“ – über die Entscheidungen habe ich hier zum Teil ja auch berichtet. Von der abweichenden obergerichtlichen Rechtsprechung werden nur das OVG Münster (Beschl. v. 30.11.2020 – 13 B 1675/20.NE) und das OLG Hamm (Beschl. v. 08.02.2021, 1 RBs 4-5/21)  erwähnt: Deren Argumentation kann aber “ nicht verfangen“ bzw. es wird die „zugrundeliegende Wertung …. nicht geteilt.“ Kann man so machen, ist aber in meinen Augen nicht ganz sauber, wenn man zuvor den Sachverständigen und deren Auffassung breiten Raum eingeräumt hat.

Was mich dann erstaunt hat, ist das „obiter Dictum“ des AG, in dem es heißt:

„8)  Obiter Dictum

Der Unterzeichner erlaubt sich das Urteil mit den folgenden Anmerkungen zu beschließen:

Gerichtliche Entscheidungen stellen keine rein mathematische Subsumtion unter einen Tatbestand dar, sondern werden im Kontext politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder auch pandemischer Entwicklungen getroffen. Sie lassen sich auch in der Entscheidungsfindung nicht von ihren – gegebenenfalls weitreichenden – Konsequenzen entkoppeln. Dies kenntlich zu machen kann zu einer ehrlichen Auseinandersetzung über die gegenständlichen Einschränkungen und die sie betreffenden gerichtlichen Entscheidungen beitragen.

Bei der Lektüre einer Vielzahl von gerichtlichen Entscheidungen das Regelungsregime in der Pandemie betreffend konnte sich der Unterzeichner nicht des Eindrucks erwehren, dass diese oft weniger von inhaltlicher Überzeugung als von dem Wunsch getragen zu sein schienen, die effektive Bekämpfung einer unbestritten gefährlichen Pandemie nicht zu erschweren. Auch die auffällige Diskrepanz in der verfassungsrechtlichen Bewertung zwischen Rechtsprechung und Lehre zeigt in diese Richtung.

Bei allem Verständnis für diese Beweggründe sei hier der Hinweis erlaubt, dass so das Bewusstsein für ein grundlegendes Problem getrübt werden könnte. Gerade in Krisenzeiten dürfen die demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes keine Aufweichung erfahren. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung selbst ist der wirksamste Schutz gegen autoritäre und antidemokratische Strömungen, welche oft in Krisenzeiten und den mit ihnen verbundenen Unsicherheiten an Einfluss gewinnen. Parlamentarische Entscheidungen tendieren dazu, differenzierter auszufallen und erreichen so ein höheres Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz, die einer krisenbedingten Polarisierung und Radikalisierung entgegenwirken kann. Auch die friedensstiftende Wirkung parlamentarisch-demokratischer Entscheidung streitet somit für den vorliegenden Versuch, von grundgesetzlichen Standards auch in Pandemiezeiten nicht abzuweichen.“

Da schießt das AG m.E. über das Ziel hinaus. Es hat in seinem Urteil die Frage zu beantworten, ob den Betroffenen ein Verstoß gegen die CoronaschutzVO NRW zur Last gelegt werden kann. Die hat es verneint. Und damit ist es dann m.E. auch gut (oder nicht). Über die Begründung kann man streiten und sie wird sicherlich vom OLG Düsseldorf überprüft werden. Alles andere/danach ist m.E. überflüssig.

Zum Schluss: Da ich heute andere Dinge zu tun habe, als ggf. Kommentare zu moderieren, habe ich die Kommentarfunktion geschlossen.