Archiv für den Monat: August 2023

Haft II: Drei Monate zwischen Eröffnungsreife und HV, oder: Mehr ist nicht nur „vorübergehende Überlastung“

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Im zweiten Posting etwas zum Beschleunigungsgrundsatz. Ergangen ist der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 19.07.2023 – 1 Ws 225- 229/23 – in einem BtM-Verfahren, das sich gegen fünf Angeklagte richtet. Die haben sich seit dem 17. bzw. 19.11.2022 in Untersuchungshaft befunden..

Die StA hat am 14.04. 2023 Anklage zum LG Frankfurt am Main erhoben. Der Vorsitzende der zutsändigen Strafkammer zeigte dem Präsidium des LG Ende Mai 2023 die Überlastung der Kammer an und ersuchte das Präsidium, die Überlastung der Strafkammer festzustellen und das Verfahren auf eine andere Strafkammer zu übertragen. Das Präsidium des LG hat am 31.05. wurde die Überlastungsanzeige erörtert. Eine Überlastung wurde nicht festgestellt.

Die Strafkammer hat dann mit Beschlüssen vom 30. 06.2023 die Haftbefehle gegen die Angeklagten außer Vollzug. Zur Begründung führte sie aus, dass die Durchführung der Hauptverhandlung vor Januar 2024 nicht in Betracht komme und vor diesem Hintergrund der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Außervollzugsetzung gebiete. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft. Die hatte keinen Erfolg. Das OLG hat die aufgehoben:

„Auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft, die gemäß § 301 StPO auch zugunsten der Angeschuldigten wirken, sind die Haftbefehle aufzuheben.

Die Aufrechterhaltung der Haftbefehle ist vorliegend nicht gerechtfertigt, weil das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz MRK folgende Beschleunigungsgebot verletzt ist. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, BeckRS 2007, 33088). Liegt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, kann die Untersuchungshaft zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung nicht mehr als notwendig anerkannt werden. Selbst wenn noch keine vermeidbare Verzögerung vorliegt, aber bereits hinreichend deutlich absehbar ist, dass das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben werden kann, ist von der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft abzusehen (BVerfG, BeckRS 2007, 33088; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2012, 62). Eine erst bevorstehende, aber zum Entscheidungszeitpunkt schon deutlich absehbare Verfahrensverzögerung steht einer bereits eingetretenen Verfahrensverzögerung gleich (BVerfG, Beck RS 2021, 1240 Rn. 39).

So liegt der Fall hier. Die Strafkammer hat in den angefochtenen Entscheidungen festgehalten, dass angesichts der Belastungssituation der Kammer die Hauptverhandlung nicht vor Januar 2024 beginnen könne. Zwischen Eröffnungsreife und Hauptverhandlung lägen mithin nicht drei Monate, wie dies üblicherweise der Fall sein soll, sondern rund sechs Monate. Damit verzögert sich das Verfahren absehbar um mindestens drei Monate, weshalb schon nicht von einer nur vorübergehenden Überlastung auszugehen ist. Die Verzögerung ist schließlich auch der Justiz anzulasten, was die Aufhebung und nicht die Außervollzugsetzung der Haftbefehle gebietet. Soweit die Staatsanwaltschaft rügt, die Kammer wähne sich trotz der anderslautenden Entscheidung des Präsidiums und auch zu Unrecht überlastet und könne bei gebotener Reduzierung der Sitzungstage in dem Verfahren … eine Terminierung im September 2023 ermöglichen, bedarf es keiner Entscheidung des Senats. Der Senat hat keine Möglichkeit, auf die Terminierung der Kammer Einfluss zu nehmen, geschweige denn, eine bestimmte Terminierung zu erzwingen. Umgekehrt, soweit die Kammer der Auffassung ist, das Präsidium habe eine Überlastung zu Unrecht nicht festgestellt, vermag der Senat auch keinen Einfluss auf die Gerichtsorganisation des Landgerichts zu nehmen. Es verbleibt dabei, dass ein Beginn der Hauptverhandlung vor Januar 2024 mit dem Beschleunigungsgebot nicht in Einklang zu bringen ist. Justizinterne Unstimmigkeiten zwischen dem Präsidium des Gerichts und der Kammer bzgl. deren Belastungssituation dürfen nicht zu Lasten der Angeschuldigten gehen. Die Angeschuldigten haben die absehbare Verzögerung keinesfalls zu vertreten.“

Haft I: Haftgrund der sog. Schwerkriminalität, oder: Analoge Anwendung ist „dünnes Eis“

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Nach dem „Strafvollzugstag“ gestern dann heute ein Haft-Tag, also Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 20.06.2023 – 4 Ws 88/23. Das OLG hat Stellung genommen zur Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 2 StPo – Haftgrund der sog. Schwerkriminalität.

Die StA wirft dem Angeschuldigten vor, seine Stieftochter in der Zeit von 2012 bis 2017 sexuell missbraucht zu haben. Im Einzelnen wirft sie ihm neun Fälle schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB a.F. sowie einen Fall des sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 3 StGB a.F. vor.

Deswegen hat die StA den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten unter Berufung auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO beantragt. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die in der Anklageschrift aufgeführten Straftatbestände seien in § 112 Abs. 3 StPO nicht ausdrücklich benannt, so dass diese Norm keine Anwendung finde. Im Übrigen lägen weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr vor. Wegen der Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.

Dagegen die Beschwerde der StA, die keinen Erfolg hatte.

Zur Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO führt das OLG aus:

„Entgegen der Ansicht des Landgerichts findet § 112 Abs. 3 StPO auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. – analoge – Anwendung. Zutreffend ist zwar, dass § 112 Abs. 3 StPO grundsätzlich nur auf die Normen Anwendung findet, die enumerativ in § 112 Abs. 3 StPO aufgezählt werden (vgl. Böhm in MüKOStPO, 2. Aufl. 2023, StPO, § 112, Rn. 88; Graf in KK, StPO, 9. Aufl. 2023, § 112, Rn. 41), wozu § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. nicht zählt. Insoweit ist die Regelung des § 112 Abs. 3 StPO aber analog anzuwenden.

Die Gesetzesbegründung steht dem nicht entgegen. Ein Wille des Gesetzgebers, Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1. Juli 2021 begangen wurden, aus dem Anwendungsbereich auszuschließen, ist nicht ersichtlich.

Ausweislich des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung vom 21. Oktober 2020 sollte in Fällen schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Anordnung der Untersuchungshaft erleichtert werden (Seite 2 des Gesetzesentwurfes). Durch die Aufnahme des mit der Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. wortgleichen § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. in den Katalog des Untersuchungshaftgrundes der Schwerkriminalität in § 112 Absatz 3 StPO soll die hohe Bedeutung des geschützten Rechtsgutes zum Ausdruck gebracht werde (Seite 54 des Gesetzesentwurfes). Dass der Gesetzgeber sog. Altfälle anders bewerten wollte, ist nicht ersichtlich und erscheint dem Senat abwegig. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Aufnahme des dem § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. entsprechenden § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. übersehen hat. Es liegt damit eine planwidrige Regelungslücke vor und eine Analogie ist aufgrund der Gleichheit des gesetzlich nicht geregelten Falls mit dem gesetzlich geregelten Fall geboten. Aufgrund des identischen Regelungsgehalts dieser beiden Normen kann der Bedeutung des geschützten Rechtsguts nur Rechnung getragen werden, wenn auch die Taten erfasst werden, die längere Zeit zurückliegen. Das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG steht dem nicht entgegen, da dieses nicht auf das Strafverfahrensrecht Anwendung findet (vgl. BGH, Beschl. v . 25. November 2006 – 1 BGs 184/2006).“

Ich habe Bedenken, ob das richtig ist. Der § 112 Abs. 3 StPO ist ja schon eine Art Ausnahmevorschrift. Und die wendet man analog an? Und das bei einem Haftgrund (!!)?

Aber: Die Anwendung hat hier nichts gebracht, denn:

„Die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO sind vorliegend jedoch nicht erfüllt. Der Haftgrund der Schwerkriminalität ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass nach den Umständes des Falles die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sein darf oder die ernstliche Befürchtung besteht, dass der Beschuldigte weitere Straftaten ähnlicher Art begehen werde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.). Es müssen auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnten. Der zwar nicht mit „bestimmten Tatsachen” belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann u.U. bereits ausreichen. (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.).

Zutreffend hat das Landgericht einen solchen Verdacht vorliegend verneint. Zwar hat der Angeschuldigte mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Allerdings hat der Angeschuldigte – wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat – bisher keinerlei Fluchttendenzen gezeigt. Unter dem 4. Mai 2023 ist dem Angeschuldigten die Anklageschrift zugestellt worden; dennoch ist nicht bekannt, dass er nunmehr Tendenzen in diese Richtung gezeigt hätte. Dies trotz des Umstandes, dass er, wie sich aus dem durch die Polizei ausgewerteten Chat zwischen ihm und seiner Ehefrau ergibt, eine realistische Straferwartung hat. In diesem Chat hat der Angeschuldigte geäußert, er werde „bestimmt 5-10 Jahre eingesperrt“ werden.

Auch ist vorliegend ein Verdunkelungsverdacht nicht gegeben…..“

Und da frage ich mich natürlich: Warum entscheidet man die Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO, wenn es darauf dann letztlich nicht ankommt. Dann kann man die Frage auch offen lassen, bevor man sich auf „dünnes Eis“ begibt.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Welche Gebühren sind nach Rücknahme des Einspruchs abzurechnen?

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Am Freitag hatte ich gefragt: Ich habe da mal eine Frage: Welche Gebühren sind nach Rücknahme des Einspruchs abzurechnen?

Und der Kollege hat auf seine Frage folgende „Kurzantwort“ bekommen:

„Moin, m.E. ja. Ich sehe nichts, was dem entgegenstehen könnte.“

Und wer es nachlesen möchte, der kann es <<Werbemodus an>> hier im Burhoff/Volpert, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021 tun, den man hier bestellen kann. <<Werbemodus aus>>

Strafvollzug II: Bestellung eines Kosmetikspiegels, oder: Kosmetikspiegel sind keine Mittel zur Körperpflege

entnommen wikimedia.org
Urheber Tropenmuseum

In der zweiten Entscheidung des Tages, dem OLG Celle, Beschl. v. 13.07.2023 – 1 Ws 180/23 (StrVollz) – geht es um den Kauf/die Bestellung eines Kosmetikspiegels durch einen Gefangenen. JVA und StVK haben das abgelehnt. Dagegen dann die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hatte:

„Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Denn die Kammer hat ihre rechtliche Überprüfung an einer nicht einschlägigen Norm vollzogen. Sie stützt sich – wie auch die Antragsgegnerin – auf § 24 Abs. 1 S. 1 NJVollzG, wonach Gefangene sich aus einem von der Vollzugsbehörde vermittelten Angebot Nahrungs- und Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege kaufen dürfen. Die Regelung dient dazu, die Kontrollmöglichkeiten der Anstalt zu gewährleisten (vgl. Arloth/Krä, 5. Aufl., § 22 StVollzG Rn. 2), welche bei solchen Gegenständen besonderen Aufwand bedürfen. Insoweit kann die Anstalt nicht nur den Zeitraum und die Anzahl, sondern auch die Art und Weise des Einkaufs innerhalb des eröffneten Ermessensspielraums regeln. Auf bestimmte Gegenstände hat ein Gefangener keinen Anspruch (vgl. OLG Frankfurt am Main, ZfStrVo SH 1979, 33; OLG Saarbrücken. BeckRS 2016, 09800).

Bei einem Kosmetikspiegel handelt es sich jedoch nicht um einen der in § 24 Abs. 1 S. 1 NJVollzG genannten Gegenstände. Insbesondere handelt es sich nicht um ein Mittel zur Körperpflege. Weder den Gesetzesmaterialien zu § 24 NJVollzG noch denen des diesem als Vorlage dienenden § 22 StVollzG ist zu entnehmen, welche konkreten Gegenstände der jeweilige Gesetzgeber im Sinn gehabt hat. Schon der allgemeine Sprachgebrauch deutet darauf hin, dass es sich – anders als bei Gegenständen zur Körperpflege – um solche Produkte handelt, die unmittelbar im oder am Körper Verwendung finden (vgl. OLG Hamm, ZfStrVo 1988, 311). Die Systematik der Norm in Form der dort aufgestellten Vergleichbarkeit mit Nahrungs- und Genussmitteln legt zudem nahe, dass es sich bei Körperpflegemitteln um solche Mittel handeln muss, die einen ähnlichen Kontrollaufwand zur Folge haben, wie es etwa bei Zahnpasta (vgl. Arloth/Krä, a.a.O., Rn. 2a) oder Cremes und Lotionen der Fall wäre. Der Senat verkennt dabei nicht, dass in der Rechtsprechung auch Rasierklingen unter den Begriff der Körperpflegemittel subsumiert worden sind (vgl. OLG Dresden, BeckRS 2018, 15218). Ob der Senat diese Auffassung teilt, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Anders als Rasierklingen findet die Verwendung eines Kosmetikspiegels jedenfalls nicht unmittelbar am Körper statt.

Ob der Antragsteller einen Anspruch auf Bestellung eines Kosmetikspiegels geltend machen kann richtet sich deshalb nach § 21 NJVollzG. Zwar regelt dieser unmittelbar nur den Besitz von Ausstattungsgegenständen und äußert sich nicht zu den Möglichkeiten des Gefangenen, sich die fraglichen Sachen zu beschaffen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diesem Recht auch ein Anspruch auf Einkauf zulässiger Ausstattungsgegenstände entsprechen muss. Anderenfalls würde die Befugnis zur Ausstattung des Haftraums mit eigenen Sachen weitgehend leerlaufen; der Gefangene wäre auf die Zuwendungen von Angehörigen angewiesen oder auf solche Ausstattungsgegenstände beschränkt, die er schon beim Strafantritt mitgebracht hat. Eine derartige Einschränkung des  Anspruchs aus § 21 NJVollzG würde der Intention des Gesetzes nicht gerecht. Soweit es um die Beschaffung von nach § 21 NJVollzG zulässigen Ausstattungsgegenständen geht, muss die Vollzugsbehörde den Einkauf demnach gestatten (vgl. OLG Zweibrücken, NStZ 1986, 477). Dass der Antragsteller über einen Wandspiegel im Nassbereich seiner Zelle verfügt, stellt dabei einen unbeachtlichen Umstand dar (vgl. zur ähnlichen Konstellation des Kaufs einer Leselampe bei bereits ausreichender Beleuchtung im Übrigen OLG Celle, NStZ 1981, 238).“r. 8, 52, 60, 63 Abs. 3 Nr. 2, 65 GKG.“

Strafvollzug I: Menschenwürdige Unterbringung, oder: Anforderungen an den Haftraum

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Und ich starte in die neue Woche mit zwei OLG-Entscheidungen zum Strafvollzug.

Die erste kommt aus Bayern. Das BayObLG hat im BayObLG, Beschl. v. 19.07.2022 – 203 StObWs 249/22 – Stellung genommen zur Frage der menschenunwürdigen Unterbringung.

Auszugehen war von folgendem Sachverhalt:

„Der Antragsteller hat im gegenständlichen Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer mit Schreiben vom 1. November 2020 zunächst die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Unterbringung im Haftraum C II der Justizvollzugsanstalt (JVA) Kaisheim, die Feststellung eines Anspruchs auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 100.- Euro täglich fortlaufend ab dem 21. September 2020 und eine Verlegung in eine andere Zelle beantragt. Zudem hat er einen Amtshaftungsanspruch geltend gemacht. Mit Schreiben vom 15. Februar 2021 hat er beantragt, die Rechtswidrigkeit der Unterbringung im Haftraum C II sowie der Lochbleche vor dem Fenster im Haftraum DK 15  festzustellen, die Justizvollzugsanstalt zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 860.- Euro und 1290.- Euro sowie von 15.- Euro täglich ab dem 3. November 2020 zu verpflichten, und den Antrag auf Verlegung für erledigt erklärt.

Der Antragsteller verbüßt derzeit eine Freiheitsstrafe. Vom 21. September bis zum 2. November 2020 befand er sich als alleiniger Insasse im Haftraum C II 26 in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim (im Folgenden: Antragsgegnerin). Bei der Zelle handelt es sich um einen Einzelhaftraum im zweiten Stock des Zellenneubaus der Einrichtung. Ihre Grundfläche beträgt nach dem Vortrag des Antragstellers mindestens 7,58 qm, nach der Berechnung der Antragsgegnerin 8,04 qm. Das im Raum integrierte WC ist baulich nicht abgetrennt und verfügt nicht über eine gesonderte Abluftvorrichtung. Der Haftraum weist in einer Brüstungshöhe von etwa 180 cm ein Oberlichtfenster mit einer Gesamtfläche von etwa 1,30 qm auf. Ein Fensterflügel, der nach den Angaben des Antragstellers in einer seinem Schreiben vom 22. Oktober 2021 beigefügten Skizze mit mindestens 40 x 80 cm etwa ein Drittel der Fensterfront bildet, kann zur Belüftung geöffnet werden. Die übrigen zwei Drittel des Fensters sind nicht zu öffnen und bestehen aus einer Glasscheibe.  Zum Schutz vor Überwürfen ist vor dem Fenster ein Vorsatzgitter angebracht. Im verfahrensrelevanten Zeitraum war der Antragsteller bis zum 19. Oktober 2020 ohne Beschäftigung und befand sich ab dem 20. Oktober 2020 regelmäßig wöchentlich 36 Stunden und 45 Minuten im Arbeitsbetrieb. Die Aufschlusszeiten einschließlich der Aufenthaltsmöglichkeit im Freien betrugen außerhalb der Arbeitswochen von Montag bis Freitag insgesamt 5 Stunden 30 Minuten und am Wochenende 6 Stunden 30 Minuten. Die Reinigung mittels ihm zur Verfügung gestellten Reinigungsmitteln und die Belüftung des Haftraumes oblagen dem Gefangenen. Nachdem der Antragsteller am 30. Oktober 2020 der Antragsgegnerin seine Bedenken gegen die Bedingungen seiner Unterbringung in einem Gespräch mitgeteilt hatte, wurde er am 2. November 2020 in einen anderen Haftraum verlegt.

Der Antragsteller ist der Auffassung, sein Aufenthalt im Raum C II 26 sei aufgrund der Größe des Raumes und der Installation des WCs ohne Abluftvorrichtung und ohne bauliche Abtrennung mit der Menschenwürde nicht vereinbar gewesen und müsse mit einer Geldzahlung ausgeglichen werden. Er hält zudem ein Oberlichtfenster generell für unzulässig. Der Einbau hätte auch nicht den DIN-Vorgaben entsprochen. Das Fensterglas wäre nur mit einfachem Kitt befestigt gewesen. Das Fenster hätte zudem keine ausreichende Belichtung und Beleuchtung des Raumes zugelassen. Selbst bei Tag wären das Lesen und Schreiben nicht ohne künstliche Beleuchtung möglich gewesen. Die Aufschlusszeiten stellten sich ebenfalls als menschenunwürdig dar.

Die Antragsgegnerin ist dem Vorwurf einer menschenunwürdigen Unterbringung in ihrer Anstalt entgegengetreten. Die von ihr vorgetragene und mit einem Grundriß unterlegte Raumgröße von 8,04 qm, die von ihr dargestellte Ausstattung des Haftraumes und die von ihr detailliert aufgeführten Aufschlusszeiten entsprächen den Anforderungen an einen menschenwürdigen Strafvollzug. Die Gesamtfläche des Fensters würde 1,30 qm betragen.  Die Vorsatzgitter seien erforderlich geworden, nachdem Betäubungsmittel und Kommunikationsmittel in die Fenster der Anstalt hineingeworfen worden wären. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter hätte die Gitter als gerechtfertigt beurteilt.

Der Verurteilte hatte im Verfahren keinen Erfolg. Hier die Leitsätze des BayObLG:

1. Die Frage nach der Menschenwürdigkeit der Unterbringung von Strafgefangenen hängt stets von einer Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände ab. Eine maßgebliche Bedeutung kommt der Größe und Belegung des Raumes, der Lage und Größe des Fensters, der Ausstattung und Belüftung des Haftraums, den hygienischen und klimatischen Verhältnissen, der Heizung, der Luftmenge und der Beleuchtung, dem Zugang zum Freistundenhof oder zu Frischluft und Tageslicht zu. Längere Aufschlusszeiten sind geeignet, mögliche Defizite zu kompensieren.

2. Auch wenn die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze neben dem Erfordernis einer Sichtverbindung nach außen auch vorsehen, dass die Fenster zulassen, dass die Gefangenen unter normalen Bedingungen bei Tageslicht lesen und arbeiten können, führt eine Feinvergitterung nicht ohne weiteres dazu, eine Unterbringung als menschenunwürdig zu qualifizieren. Auch insoweit kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.