Archiv für den Monat: Juli 2023

OWi I: Wegen Wiedereinsetzung keine Verjährung, oder: Erfolg bei der Einspruchverwerfung

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Und heute dann mal wieder ein OWi-Tag. Aber: Nichts bahnbrechend Neues, sondern weitgehend „alter Wein in neuen Schläuchen“.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 28.03.2023 – 202 ObOWi 314/23 -, der zur Verfolgungsverjährung nach Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist Stellung nimmt und sich auch noch einmal zu den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 OWiG äußert.

Zur Wiedereinsetzung bzw. zur Frage des Eintritts der Verfolgungsverjährung führt das bayObLg aus:

„1. Eine Einstellung des Verfahrens kommt nicht in Betracht, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht eingetreten ist.

a) Die Verjährungsfrist betrug zunächst 3 Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) und begann mit Beendigung der Handlung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), hier also am 18.06.2020. Die Verjährung wurde jedenfalls durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020, der dem Betroffenen am 17.09.2020 zugestellt wurde, unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG), sodass ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG 6 Monate betrug.

b) Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft wurde die 6-monatige Verjährungsfrist durch den Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 rechtzeitig unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Zwar lagen zwischen der vorhergehenden Unterbrechungshandlung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020 und dem Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 mehr als 6 Monate.

bb) Gleichwohl war die Verjährungsfrist zum letztgenannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Denn die durch die Zentrale Bußgeldstelle am 24.11.2020 bewilligte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist hatte zur Folge, dass die Verjährungsfrist neu zu laufen begann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 16.03.2004 – 2 ObOWi 7/2004 = BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281 = VRS 106, 452 [2004]; Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 = BayObLGSt 1953, 179; OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.01.1978 – 1 Ws [B] 36/78 OWiG = BeckRS 2014, 21126; KG, Beschl. v. 04.04.2017 – 3 Ws [B] 43/17 = StraFo 2017, 460; OLG Naumburg, Beschl. v. 04.01.1995 – 1 Ss [B] 254/94 = VRS 88, 456 [1995]; BeckOK OWiG/Gertler OWiG § 31 Rn. 18; KK-OWiG/Ellbogen 5. Aufl. § 31 OWiG Rn. 37; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. 2016 § 46 Rn. 13; Göhler/Gürtler/Thoma OWiG 18. Aufl. Vor § 31 Rn. 2b; LK-StGB/Schmidt 12. Aufl. 2007 § 78 Rn. 10). Mit der Rechtskraft des Bußgeldbescheids, die (zunächst) aufgrund des Ablaufs der Einspruchsfrist eingetreten war, bestand für eine Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG kein Raum mehr; vielmehr lief stattdessen die Frist für die Vollstreckungsverjährung nach § 34 OWiG (OLG Hamm, Beschl. v. 23.05.1972 – 5 Ss OWi 363/72 = NJW 1972, 2097 = MDR 72, 885). Eine neue Verfolgungsverjährung kann in Fällen, in denen das Verfahrensrecht einen Eingriff in die Rechtskraft zulässt, erst zu dem Zeitpunkt beginnen, in dem das rechtskräftig verurteilende Erkenntnis beseitigt wird (BayObLG, Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die zur Beseitigung der bis dahin eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids führte, die bei Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheids noch nicht abgelaufene Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen begann. Mit der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist durch die Entscheidung der Verwaltungsbehörde vom 24.11.2020 wurde die Rechtskraft des Bußgeldbescheids nachträglich beseitigt. Dies hatte aber nicht etwa zur Folge, dass die ursprüngliche Frist für die Verfolgungsverjährung gleichsam rückwirkend wieder lief. Andernfalls würden für den säumigen Betroffenen Vorteile geschaffen, die er ohne seine Säumnis nicht gehabt hätte, was mit dem Zweck der Wiedereinsetzung nicht vereinbar wäre (OLG Hamm a.a.O.). Durch das Recht der Wiedereinsetzung sollen zwar dem Betroffenen, der unverschuldet eine Frist versäumt hat, keine Nachteile entstehen, eine Besserstellung seiner Rechtsposition ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung aber nicht intendiert.

2. In der Folgezeit wurden jeweils weitere Unterbrechungshandlungen vor Ablauf der 6-monatigen Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 11 OWiG rechtzeitig vorgenommen bis zu dem ersten in dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenen Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 27.01.2022. Seit diesem Zeitpunkt ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Der Umstand, dass auf Antrag des Betroffenen in der Folgezeit wegen Versäumung dieser Hauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30.09.2022 bewilligt wurde, beseitigte die Ablaufhemmung nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = BeckRS 2008, 18098; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 OLGSt OWiG § 74 Nr 24; 09.07.2002 – 1 Ss 74/02 = BeckRS 2002, 31129484; KG, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 Ws [B] 304/21 = BeckRS 2021, 45818).“

Aber dann zur Einspruchsveewerfung:

„3. Die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht hinreichendes Entschuldigungsvorbringen vor der Hauptverhandlung rechtsfehlerhaft übergangen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, dass das Amtsgericht in unzulässiger Weise die Gründe des Urteils, die bereits vollständig im Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen waren, in einer weiteren Urteilsurkunde ergänzt hat. Die Urteilsgründe rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht, weil der Betroffene hinreichend entschuldigt im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG war. Denn hierfür ist es ausreichend, dass er schlüssig Umstände vorträgt, die ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 = OLGSt OWiG § 74 Nr 26 m.w.N.). Die mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 13.12.2022 vor der Hauptverhandlung dem Amtsgericht mitgeteilten Gründe stellten bei vernünftiger Betrachtung ohne weiteres einen Entschuldigungsgrund in diesem Sinne dar, weil dort – neben dem Hinweis auf einen positiven Covid-19-Test – explizit vom „hohem Fieber, Erbrechen, Durchfall und schweren Erkältungssymptomen“ gesprochen wurde, was eine Unzumutbarkeit der Anreise und der Teilnahme des Betroffenen an der Hauptverhandlung bei verständiger Würdigung zweifelsfrei begründete. Über diesen Vortrag hat sich das Amtsgericht mit neben der Sache liegenden Erwägungen, nämlich unter Rekurs auf den fehlenden Nachweis der geltend gemachten Erkrankungssymptome und auf die nicht mehr bestehende Isolationspflicht in Bayern bei einer Infektion mit dem Corona-Virus, hinweggesetzt. Es hat dabei dem Vortrag des Betroffenen, dem es nicht darum ging, sich zu isolieren, sondern der geltend machen wollte, aufgrund krankheitsbedingter Beschwerden nicht zur Hauptverhandlung anreisen und an ihr teilnehmen zu können, kein Gehör geschenkt und zudem verkannt, dass den Betroffenen keine Nachweispflicht trifft.“

Haft III: Zulässige Dauer von sog. Organisationshaft, oder: Umstände des Einzelfalls maßgebend

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Und als dritte Entscheidung dann ein weiterer Beschluss zur Organisationshaft, und zwar der LG Wuppertal, Beschl. v. 17.07.2023 -21 StVK 736/23 (10 Js 421/22).  Das LG führt zur zulässigen Dauer von Organisationshaft aus:

„Die Organisationshaft stellt grundsätzlich einen Verstoß gegen die richterlich angeordnete Vollstreckungsreihenfolge dar und ist als regelwidriges Institut der Freiheitsentziehung anzusehen; weil indes aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen eine zeitliche Verzögerung bei der Vollstreckung einer durch Strafurteil angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB in der Regel unvermeidbar ist, liegt dann noch keine — gesetzeswidrige und dem zu vollstreckenden Urteil widersprechende — Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge vor, wenn eine verurteilte Person sich für diejenige kurze Zeitspanne in Organisationshaft befindet, welche die Vollstreckungsbehörde nach Rechtskraft der erfolgten Anordnung unter Berücksichtigung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebotes benötigt, um einen vorhandenen Maßregelvollzugsplatz gegebenenfalls auch in einem anderen Bundesland — zu lokalisieren und den Verurteilten dorthin zu überführen (OLG Braunschweig, Beschl. v. 04.09.2020, 1 Ws 205/20, juris Rn. 21 f. m.w.N.). Welche Zeitspanne für diesen verwaltungstechnischen Vollzug der Überstellung des Verurteilten in die Maßregeleinrichtung als (noch) zulässig anzusehen ist, lässt sich nicht generell bestimmen, sondern hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab (OLG Braunschweig a.a.O., juris Rn. 23 m.w.N.; für eine solche Einzelfallbetrachtung auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.02.2023, 1 Ws 97/22, juris Rn. 8 m.w.N.).

Nach diesen Grundsätzen ist die Vollstreckung von Organisationshaft im Verfahren zum Az. 10 Js 3098/19 der Staatsanwaltschaft Wuppertal im jetzigen Zeitpunkt nicht mehr zulässig.

Die Organisationshaft in diesem Verfahren dauert seit Rechtskraft des zugrunde liegenden Urteils bereits über 16 Wochen. Zwar ist der Staatsanwaltschaft zuzugeben, dass sie sich nach Eintritt der Rechtskraft zeitnah durch wiederholte Anfragen bei der Maßregelvollzugsbehörde um die Bereitstellung eines Unterbringungsplatzes bemüht hat. Jedoch hängt die Zulässigkeit der Organisationshaft nicht allein davon ab, ob die Vollstreckungsbehörde alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um auf eine zeitnahe Überführung in den Maßregelvollzug hinzuwirken.

So ist die Organisationshaft nach den vorerwähnten Maßstäben von dem Zeitpunkt an unzulässig, bis zu dem die Vollstreckungsbehörde bei dem gebotenen beschleunigten Vorgehen klären kann oder hätte klären können, ob für den Verurteilten ein Unterbringungsplatz zur Verfügung steht oder nicht (OLG Celle, Beschl. v. 19.08.2002, 1 Ws 203/02, NStZ-RR 2002, 349 [350]). Auch ist eine weitere Organisationshaft nicht mehr zulässig, sobald sich im Rahmen der entfalteten Bemühungen ergibt, dass ein solcher Platz nicht zur Verfügung steht (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 25.1 1.2003, 4Ws 537/03 u. 4Ws 569/03, NStZ-RR 2004, 381 [3821 m.w.N.). Die Zeit, während derer die Vollstreckungsbehörde lediglich noch in erzwungener Untätigkeit auf das Freiwerden eines — auch nur vage in Aussicht gestellten — Vollzugsplatzes wartet, fällt nicht unter die zur Organisation der Überstellung in die gerichtlich angeordnete Maßregelunterbringung unerlässliche Zeitspanne (OLG Braunschweig, Beschl. v. 04.09.2020, 1 Ws 205/20, juris Rn. 23 m.w.N., ähnlich OLG Hamm, Beschl. v. 07.05.2019, 111-1 Ws 209/19, juris Rn. 15). so lag es im vorliegenden Fall allerspätestens am 11.07.2023. Denn die Maßregelvollzugsbehörde hatte bereits am 31.03.2023 mitgeteilt, dass derzeit kein Unterbringungsplatz zur Verfügung stehe, ohne das Freiwerden eines Platzes in überschaubarem Zeitraum auch nur vage in Aussicht zu stellen. Hieran änderte sich bis zum 10.07.2023 nichts, sodass spätestens zu diesem Zeitpunkt — ob bereits früher und ggf. zu welchem konkreten Zeitpunkt, bedarf hier keiner Entscheidung — eine Situation vorlag, in der mit dem Freiwerden eines Platzes im Maßregelvollzug nicht konkret gerechnet werden konnte und die weitere Wartezeit völlig ungewiss war. Das gilt auch unter Berücksichtigung der laut Staatsanwaltschaft — möglicherweise gezwungenermaßen, freilich etwas umständlich — im Berichtswege über Ministerialebenen entfalteten Bemühungen um eine Unterbringung in anderen Bundesländern, zumal auf den Erlass vom 05.04.2023 bis zum 10.07.2023 keine Reaktionen der Stellen, die so letztlich wohl erreicht werden sollten, im Vollstreckungsheft aktenkundig oder sonst bekannt geworden sind.

Soweit der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Bedenken gegen die Bewertung „bloßen Zuwartens“ auf einen freiwerdenden Therapieplatz als unzulässig vollzogene Untersuchungshaft geäußert hat, betrifft dies ausdrücklich Fälle einer noch „angemessene[n] Zeit des Zuwartens“ (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.03.2021, 2 Ws 37/21, juris Rn. 14). Hiernach soll es, soweit für die Kammer ersichtlich, nur nicht dazu kommen, dass ein Verurteilter, der sich erst seit wenigen Tagen in Organisationshaft befindet, aus dieser entlassen werden müsste, wenn sich unmittelbar herausstellt, dass ein Unterbringungsplatz derzeit nicht, wohl aber kurzfristig verfügbar ist. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Es sind seit Rechtskraft des Urteils bereits mehrere Monate vergangen, ohne dass ein Platz im Maßregelvollzug verfügbar wurde oder konkret in Aussicht gestellt werden konnte. Selbst wenn es — insbesondere verfassungsrechtlich – nicht geboten sein sollte, Behandlungsplätze im Maßregelvollzug jederzeit und auch kurzfristig verfügbar zu halten, besteht im Grundsatz die seit Langem bekannte Rechtspflicht der Verwaltung und der Haushaltsgesetzgeber in den Bundesländern, die praktische Vollstreckbarkeit der Bundesrecht konkretisierenden Strafurteile sicherzustellen, und zwar, soweit dies vom Vorhandensein finanzieller Mittel abhängt, unter Hintansetzung anderer, politisch zwar erwünschter, aber nicht in diesem Sinne unerlässlicher Vorhaben (OLG Braunschweig a.a.O., juris Rn. 23; OLG Hamm, Beschl. v. 25.1 1.2003, 4 Ws 537/03 u. 4 569/03, NStZ-RR 2004, 381 [382]). Dass hier über mehr als 15 Wochen nach Rechtskrafteintritt nicht einmal ein voraussichtliches künftiges Freiwerden von Kapazitäten in Nordrhein-Westfalen oder einem anderen Bundesland terminlich konkretisiert werden konnte, erscheint als Folge einer unzureichenden Umsetzung dieser Rechtspflicht, die nicht zulasten des betroffenen Verurteilten gehen darf.

Nichts Anderes ergibt sich unter zusätzlicher Berücksichtigung der Gefährlichkeit des Verurteilten und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit im Rahmen der Einzelfallabwägung. Eine hangbedingte Gefahr neuer Straftaten ist bei Verurteilten, deren Unterbringung nach S 64 StGB angeordnet wurde, naturgemäß gegeben, da unter anderem dies Voraussetzung der Unterbringungsanordnung ist, und kann daher nicht schlechthin den (weiteren) Vollzug einer ansonsten unzulässigen oder unzulässig gewordenen Organisationshaft rechtfertigen. Umstände, die eine (weitere) Freiheitsentziehung hier erforderlich machen, sind nicht ersichtlich.

An der somit spätestens am 10.07.2023 eingetretenen Unzulässigkeit des weiteren Vollzugs der Organisationshaft änderte die am 11.07.2023 unerwartet entstandene Perspektive der Überführung des Verurteilten in den Maßregelvollzug am 18.07.2023 nichts.“

Haft II: Rechtmäßigkeit der sog. Organisationshaft, oder: Zeitnahe Unterbringung im Maßregelvollzug

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Und als zweite Entscheidung dann der schon etwas ältere OLG Bamberg, Beschl. v. 07.11.2022 – 1 Ws 629/22 – mir allerdings erst vor kurzem zugegangen. Er nimmt Stellung zur Rechtmäßigkeit der sog. Organisationshaft und zum Anspruch auf zeitnahe Unterbringung im Maßregelvollzug.

Folgender Sachverhalt: Mit Urteil des LG vom 30.03.2022, rechtskräftig seit 07.04.2022, wurde der Verurteilte, der am 09.07.2021 festgenommen worden war und sich seit 10.07.2021 in Untersuchungshaft befand, wegen Beihilfe zum bewaffneten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten verurteilt. Daneben wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Mit Verfügung vom 06.05.2022 wurde die Vollstreckung des vorgenannten Urteils eingeleitet.

Das verschlief „schleppend“; der Verurteilte befand sich zunächst in sog. Organisationshaft. Am 12.09.2022 beantragte der Verurteilte die Feststellung, dass die weitere Vollstreckung der Organisationshaft unzulässig ist, die Unterbrechung der Organisationshaft sowie die sofortige Entlassung des Verurteilten aus der Haft. Mit Beschluss vom 23.09.2022 stellte die Strafvollstreckungskammer des LG fest, dass die gegen den Verurteilten vollstreckte Organisationshaft mit Ablauf des 12.07.2022 rechtswidrig ist, ordnete die Unterbrechung der Organisationshaft an und erklärte, dass mit Aufnahme des Verurteilten in den Maßregelvollzug vor Rechtskraft des Beschlusses das Verfahren erledigt ist. Dagegen die sofortige Beschwerde der StA, die keinen Erfolg hatte.

Ich stelle auch hier nur die Leitsätze ein und verweise wegen der Einzelheiten auf die recht umfangreiche Begründung des OLG im verlinkten Volltext:

1. Die Maßregelvollstreckung nach § 64 StGB ist unverzüglich nach Rechtskrafteintritt einer hierauf lautenden Entscheidung einzuleiten.

2. Wird ein Therapieplatz erst mittelfristig frei, ist die Vollstreckungsbehörde gehalten, sich um einen (zeitlich früher) verfügbaren Behandlungsplatz, notfalls auch außerhalb des zuständigen Landschaftsverbands zu bemühen und, sofern dies erfolglos ist, ggf. auch um einen solchen außerhalb des jeweiligen Bundeslandes.

3. In der Regel darf die Organisationshaft über 3 Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der auf Unterbringung nach § 64 StGB lautenden Entscheidung und 2 Monate nach der Mitteilung der Maßregelvollzugseinrichtung, dass ein Therapieplatz erst mittelfristig frei wird, nicht aufrechterhalten werden.

4. Die Frage, ob die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Organisationshaft einer Abwägung zwischen dem Gewicht der Verletzung des Interesses des Verurteilten an der unverzüglichen Umsetzung der konkret angeordneten Vollstreckungsreihenfolge einerseits und dem Schutz der Allgemeinheit andererseits zugänglich ist, bleibt offen.

Haft I: Nochmals Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Kein Mittel der Verfahrenssicherung

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Und heute dann ein Tag mit Haftentscheidungen.

Ich beginne hier mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 26.05.2023 – 1 Ws 40/23. Ergangen ist der Beschluss in einem Haftbeschwerdeverfahren gegen einen Haftbefehl u.a. wegen des Tatvorwurfes der bandenmäßigen Beitragsvorenthaltung, des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges sowie der Steuerhinterziehung jeweils in einer Vielzahl von Fällen. Das OLG macht in der Entscheidung interessante Ausführungen zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) und auch zu den Fragen der §§ 121, 122 StPO.

Ich stelle hier wegen des Umfangs der Entscheidung nur die Leitsätze vor und verweise im Übrigen auf den verlinkten Volltext zum Selbststudium. Die Leitsätze luten:

1. Die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr ist kein Mittel der Verfahrenssicherung, sondern eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten. Es sind daher aus verfassungsrechtlichen Gründen strenge Anforderungen an den Haftgrund und die Qualität des Anlassdeliktes zu stellen.

2. Als die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Taten nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO kommen nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrades und Unrechtsgehaltes in Betracht bzw. solche, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen, wobei jede einzelne Tat ihrem konkreten Erscheinungsbild nach den erforderlichen Schweregrad aufweisen muss.

3. Die Wiederholungsgefahr muss durch bestimmte Tatsachen begründet sein, die eine so starke Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die naheliegende Gefahr besteht, er werde noch vor rechtskräftiger Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache weitere gleichartige Taten begehen. Diese Gefahrenprognose erfordert eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens, wobei auch Indiztatsachen zu berücksichtigen sind.

4. Betrugstaten nach § 263 StGB können auch dann taugliche Anlasstaten nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO darstellen, wenn lediglich aufgrund der in der Baubranche geltenden Beitragspflicht zur Sozialkasse Bau der § 263 StGB hier nicht von dem nicht im Katalog der Anlasstaten genannten spezielleren § 266a StGB verdrängt wird.

5. Die Ruhensvorschrift des § 121 Abs. 3 StPO findet Anwendung auch auf die Frist nach § 122a StPO für den Vollzug einer auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Untersuchungshaft.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Gilt die Rückwirkung der Beiordnung auch beim Nebenkläger?

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Und dann noch die Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Gilt die Rückwirkung der Beiordnung auch beim Nebenkläger?. Das war die Frage hier im Blog vom vergangenen Freitag.

Geantwortet habe ich wie folgt:

„OLG Koblenz ist richtig.

Celle hat nen Knall ?. Die Entscheidung überzeugt nicht. Das OLG stellt zwar die allgemeinen Grundsätze der PKH-Bewilligung zutreffend da, übersieht dann aber, dass im Strafverfahren die Sonderregelung des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG gilt, die in Verbindung mit der Vorbemerkung 4 Abs. 1 VV RVG auch für den Nebenklagevertreter, der in Vorbem. 4 Abs. 1 VV RVG ausdrücklich genannt ist, die PKH-Bewilligung auch auf die Tätigkeiten erstreckt, die vor der Bewilligung erbracht worden sind. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck dieser Regelung.

Durchfechten.“