Archiv für den Monat: Juli 2023

StGB II: Versuchte Nötigung in Form der Drohung, oder: Antippen des Gaspedals = Androhung des Anfahrens

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Und als zweite Entscheidung stelle ich das BGH, Urt. v. 10.11.2022 – 4 StR 91/22. Schon etwas älter, aber jetzt erst auf der Homepage des BGH veröffentlicht.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort verurteilt. Dagegen die Revision der StA, die Erfolge hatte:

„Das Landgericht hat zu den Fällen II.2 und II.3 der Urteilsgründe folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Zwischen dem Angeklagten und seiner Freundin kam es am Tattag in ihrer Wohnung zu einem Gespräch, das die Zeugin u. a. auf die Herkunft des Angeklagten und die „Taliban“ brachte. Der Angeklagte, dem die Fragen der Zeugin seltsam vorkamen, bemerkte deren Smartphone, das zwischen der Kante und der Matratze des Bettes eingeklemmt war und mit dem die Zeugin das Gespräch aufzeichnete. Nachdem der Angeklagte das Smartphone an sich genommen hatte, versuchte er, die Sprachaufnahme zu stoppen und zu löschen. Die Zeugin wollte dies verhindern und dem Angeklagten das Smartphone entreißen. Es entwickelte sich eine Rangelei, in deren Verlauf der Angeklagte aus Verärgerung über die heimliche Aufnahme der Zeugin mit der flachen Hand in das Gesicht schlug und ihr dadurch Schmerzen verursachte.

Als der Angeklagte versuchte, die Wohnung zu verlassen, um die Aufnahme auf dem Smartphone zu löschen, kündigte ihm die Zeugin an, mit einem älteren Handy wegen des Schlages die Polizei zu rufen. Um dies zu verhindern, riss ihr der Angeklagte dieses Handy aus der Hand, wobei die „übertölpelte“ Zeugin keinen Widerstand leistete (Fall II.2 der Urteilsgründe).

Die Strafkammer hat den Schlag als Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB gewürdigt und das Verhalten des Angeklagten hinsichtlich der beiden Mobiltelefone als straflos bewertet, weil er insoweit keine Gewalt angewendet und nicht in Zueignungsabsicht gehandelt habe.

2. Als der Angeklagte im Anschluss an die Rangelei mit seinem Pkw wegfahren wollte, um das Smartphone in Sicherheit zu bringen, stellte sich die Zeugin in den Bereich des Frontscheinwerfers auf der Fahrerseite, stützte sich mit den Händen auf der Kühlerhaube ab und forderte die Herausgabe ihrer beiden Mobiltelefone. Der Angeklagte tippte zwei- oder dreimal kurz das Gaspedal an, trat aber jeweils sofort wieder auf die Bremse, weil die Zeugin weiterhin im Weg stand. Als diese eine kurze Bewegung weg vom Fahrzeug machte, fuhr der Angeklagte geradeaus nach vorne an, um das Smartphone mit der Sprachaufzeichnung in Sicherheit zu bringen. Dabei vertraute er darauf, dass die Zeugin nicht verletzt würde. Entgegen der Erwartung des Angeklagten kam diese ins Straucheln und erlitt durch den Sturz auf die Straße eine Beckenprellung.

Der Angeklagte, der den Sturz der Zeugin bemerkte und es für möglich hielt, dass sie sich dabei eine Verletzung zugezogen hatte, fuhr ohne Unterbrechung zügig weiter (Fall II.3 der Urteilsgründe).

Das Landgericht hat dieses Geschehen als fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB) gewürdigt.

II.

Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Generalstaatsanwaltschaft ist wirksam auf die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II.2 und II.3 der Urteilsgründe beschränkt. Sie führt zur Aufhebung der Verurteilung im Fall II.3 der Urteilsgründe. Dies zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs und der Anordnung des Fahrverbots nach sich. Im Übrigen bleibt die Revision erfolglos.

1. Die Verurteilung des Angeklagten lediglich wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort im Fall II.3 der Urteilsgründe kann schon deshalb nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht die Annahme einer versuchten Nötigung gemäß § 240 Abs. 3, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB mit rechtsfehlerhaften Erwägungen verneint hat.

a) Die Strafkammer hat keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass der Angeklagte durch das mehrfache kurze Antippen des Gaspedals der Zeugin konkludent drohen wollte, sie anzufahren, falls sie den Weg nicht freigebe. Vielmehr habe er sofort gebremst, als er bemerkte, dass die Zeugin stehen blieb. Auch habe die Zeugin das Verhalten des Angeklagten nicht als Drohung verstanden, sondern sei fest davon ausgegangen, dass dieser nicht losfahren werde, solange sie direkt vor der Kühlerhaube stehe.

b) Diese Erwägungen tragen die Verneinung eines auf die Begehung einer Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB gerichteten Tatentschlusses nicht.

aa) Der Tatbestand eines versuchten Delikts verlangt in subjektiver Hinsicht (Tatentschluss) das Vorliegen einer vorsatzgleichen Vorstellung, die sich auf alle Umstände des äußeren Tatbestands bezieht (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2020 – 4 StR 324/19, NStZ 2020, 402 Rn. 17; Urteil vom 10. September 2015 – 4 StR 151/15, NJW 2015, 3732 Rn. 13). Die Annahme einer versuchten Nötigung gemäß § 240 Abs. 3 StGB in der Variante der Drohung mit einem empfindlichen Übel setzt daher in subjektiver Hinsicht voraus, dass der Täter zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz; vgl. dazu BGH, Urteil vom 2. Oktober 1953 – 3 StR 153/53, BGHSt 5, 245, 246), dass sein Verhalten von dem Tatopfer als ein Inaussichtstellen eines erheblichen Nachteils (hier eines Anfahrens mit dem Pkw) verstanden wird. Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände.

bb) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht. Die Erwägungen des Landgerichts zum Bremsen nach dem Ausbleiben einer Reaktion der Zeugin legen gerade nahe, dass der Angeklagte beim Antippen des Gaspedals damit rechnete, die Zeugin werde sein Verhalten als die Androhung eines Anfahrens verstehen und deshalb den Weg freigeben. Dass der Angeklagte tatsächlich vom Gas ging, zeigt für sich genommen lediglich, dass er die angekündigte Handlung bei Erfolglosigkeit seiner Drohung nicht in die Tat umsetzen wollte. Der Umstand, dass die Zeugin das Verhalten des Angeklagten nicht als eine Drohung verstand, steht dem nicht entgegen, da es insoweit auf das Vorstellungsbild des Angeklagten ankommt.

c) Um dem neuen Tatrichter widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen, hebt der Senat die Verurteilung im Fall II.3 der Urteilsgründe insgesamt auf. Dies zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe und der Anordnung des Fahrverbots nach sich.“

StGB I: Verhältnis von Betrug zur Unterschlagung, oder: Alter Hut – Zweimal Zueignung derselben Sache?

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Ich stelle heute dann drei Entscheidungen zum StGB vor. Alle drei Beschlüsse kommen vom BGH.

Zunächst dann hier der BGH, Beschl. v. 16.03.2023 – 2 StR 381/22 . Er hat noch einmal u.a. einen „alten Hut“ zum Gegenstand. Nämlich die Entscheidung BGHSt 14, 38. Für mich ein alter Hut, weil ich über die dort vom BGH entschiedene Problematik nämlich mal im Studium eine Hausarbeit geschrieben habe. Das war die Entscheidung, die aus dem Jahr 1959 stammt, noch einigermaßen „frisch“. Jedenfalls sollte man sie heute kennen, wenn man Zueignungs-/Vermögensdelikt macht. 🙂

Folgender Sachverhalt:

Das LG hat die beiden Angeklagten in einem der Fälle des Urteils wegen gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung in Tateinheit mit Unterschlagung verurteilt. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen mieteten die beiden Angeklagten unter Mitwirkung eines anderen Angeklagten, der sich gegenüber der Vermieterin mit einem gefälschten Pass auswies und unter Einbindung des minderjährigen Sohnes des Angeklagten S. am 11.06.2021 ein Wohnmobil für einen angeblichen Vater-Sohn-Urlaub. Das Wohnmobil im Wert von 54.000 EUR hatte die Vermieterin kurz zuvor geleast. Die zu zahlende Kaution sowie den im Voraus zu zahlenden Mietzins finanzierten die beiden Angeklagten gemeinsam. Tatsächlich beabsichtigte die Gruppierung von Anfang an, das Fahrzeug mit gefälschten Fahrzeugpapieren und Dublettenkennzeichen, mithin solchen, die für ein baugleiches anderes Fahrzeug ausgegeben waren, zu präparieren und dieses sodann über ein Internetportal an Dritte zu veräußern.

Sie fuhren mit dem Fahrzeug von I. nach K. . Tatplangemäß versah der Angeklagte T. das Fahrzeug mit Dublettenkennzeichen und beauftragte eine unbekannte Person mit der Herstellung der gefälschten Fahrzeugpapiere auf einen vorgegebenen Namen, für den die Gruppierung über einen zuvor beschafften falschen Pass verfügte. Er inserierte das Fahrzeug am selben Tag für 42.000 EUR über ein Internetportal und vereinbarte kurz darauf mit einem Interessenten einen Besichtigungstermin für den 13.06.2021 in K. . An diesem  Tag fuhren der Angeklagte S. gemeinsam mit dem weiteren Bandenmitglied H. zum verabredeten Treffpunkt, wo H. das Fahrzeug unter Vorlage der gefälschten Fahrzeugpapiere und des gefälschten Passes für 41.000 EUR an den Interessenten verkaufte. Er übergab das Fahrzeug gegen Zahlung von 40.000 EUR in bar. Die Zahlung der verbliebenen 1.000 EUR sollte nach Übersendung des Zweitschlüssels und des Servicehefts erfolgen. Bei dem Versuch, das Fahrzeug anzumelden, fielen die falschen Kennzeichen auf. Das Fahrzeug wurde zunächst sichergestellt, später aber an den Erwerber als letzten Gewahrsamsinhaber herausgegeben. Er streitet zivilrechtlich mit der Vermieterin über die Eigentümerstellung.

Die Strafkammer hat die beiden Angeklagten deswegen u.a. wegen gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung in Tateinheit mit Unterschlagung schuldig gesprochen. Das hatte beim BGH keinen Bestand:

„b) Die Verurteilung wegen tateinheitlicher Unterschlagung im Fall II. 10 der Urteilsgründe hat keinen Bestand.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann sich ein Täter, der sich eine fremde Sache bereits durch eine strafbare Handlung zugeeignet hat, sich diese zu einem späteren Zeitpunkt nicht noch einmal im Sinne des § 246 Abs. 1 StGB zum Nachteil des gleichen Rechtsgutsträgers zueignen, ohne zuvor seine Sacheigentümerposition wieder aufgegeben zu haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Dezember 1959 – GSSt 1/59, BGHSt 14, 38, 46 f.; vom 13. Juli 1995 – 1 StR 309/95, juris Rn. 11; vom 13. Januar 2022 – 1 StR 292/21, wistra 2022, 379 f.; vgl. auch BGH, Urteil vom 17. Oktober 1961 – 1 StR 382/61, BGHSt 16, 280 ff.; ebenso SSW-StGB/Kudlich, 5. Aufl., § 246 Rn. 20; LK-StGB/Vogel, 13. Aufl., § 246 Rn. 50 f.; a.A. Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 246 Rn. 19; Mitsch, ZStW 111, 92 f.; derselbe, Strafrecht Besonderer Teil 2, 3. Aufl., S. 179 f.).

bb) So liegt der Fall hier. Die Angeklagten haben sich bereits aufgrund des Betrugs zum Nachteil der Vermieterin den wirtschaftlichen Wert des Fahrzeugs verschafft (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Dezember 1959 – GSSt 1/59, BGHSt 14, 38, 47; vom 13. Juli 1995 – 1 StR 309/95, juris Rn. 11; Urteil vom 5. Mai 1983 – 4 StR 121/83, NJW 1983, 2827). Sie haben mit der Übernahme des Fahrzeugs bei fehlendem Rückgabewillen die Vermieterin von der Sachherrschaft dauerhaft ausgeschlossen und den Eigenbesitz an diesem begründet; sie beabsichtigten von Anfang an, deren Rechtsposition zu missachten. Damit waren sowohl der Vermögensvorteil auf ihrer Seite wie im Übrigen auch der Schaden auf Seiten der Vermieterin eingetreten und der Betrug beendet.

Angesichts des damit bereits bestehenden Herrschaftsverhältnisses über das Fahrzeug stellen die weiteren Manifestationen ihres Zueignungswillens durch das Anbringen der Dublettenkennzeichen am Fahrzeug, dessen Angebot zum Verkauf über das Internetportal wie auch der anschließende Abschluss eines Kaufvertrages und die auf dieser Rechtsgrundlage erfolgende Eigentumsübertragung an den gutgläubigen Fahrzeugerwerber gegen Überführung des Kaufpreises als Substrat des Fahrzeugs in ihr Vermögen (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2022 – 1 StR 292/21, wistra 2022, 379 f.) bereits tatbestandlich keine Unterschlagung in Form der Selbstzueignung dar (vgl. zum Verhältnis der Selbst- zu einer etwaigen Drittzueigung MK-StGB/Hohmann, 4. Aufl., § 246 Rn. 45; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 246 Rn. 11; NK-StGB/Kindhäuser, 5. Aufl., § 242 Rn. 105; LK-StGB/Brodowski, 13. Aufl., § 242 Rn. 184; Rengier, StrafR BT I, 25. Aufl., § 2 Rn. 155 f.).

cc) Die tateinheitliche Verurteilung wegen Unterschlagung muss daher entfallen. Der Senat änderte die Schuldsprüche im Fall II. 10 der Urteilsgründe hinsichtlich beider Angeklagten entsprechend.“

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Verfahrensgebühr aus dem Rahmen des AG oder des Schwurgerichts?

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Am Freitag hatte ich die Frage: Ich habe da mal eine Frage: Verfahrensgebühr aus dem Rahmen des AG oder des Schwurgerichts? –zur Diskussion gestellt.

Und ich habe dem Kollegen wie folgt geantwortet:

„Moin,

sorry. Hat etwas gedauert.

Ich meine, Sie haben Recht. Die Verfahrensgebühr entsteht immer aus dem Rahmen des höchsten jeweils mit der Sache befassten Gericht. Und das ist/war hier das Schwurgericht. Schauen Sie bitte mal in LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 02.09.2010 – 2 Qs 72/10 und in den RVG-Kommentar bei Vorbem. 4 VV Rn 54. Die VG aus dem Rahmen des Schwurgerichts ist mit „Vorlage“ entstanden, auf eine förmliche Übernahme kommt es nicht an. Die Gebühr würde im Übrigen auch aus dem Rahmen des Schwurgerichts entstehen, wenn das LG nicht übernimmt.

Erstreckungsfragen pp. stellen sich offensichtlich nicht.

Ich würde es durchfechten. Das Ergebnis interessiert mich natürlich.“

Und nein, ich weise heute nicht auf die Bestellmöglichkeit für den Kommentar hin. Wer das tun will, weiß wo das geht.

Schadensersatz II: Missbrauch im Erzbistum Köln, oder: Missbrauchsopfer erhält 300.000 EUR Schmerzensgeld

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem LG Köln, Urt. v. 13.06.2023 – 5 O 197/22 – geht es um die finanziellen Aufarbeitung eines sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, und zwar im Erzbistum Köln.

Der Sachverhalt (in Kruzform): Der Kläger wurde von 1972 bis 1979 insgesamt 320 Mal von einem zwischenzeitlich verstorbenen Pfarrer, dessen Dienstherr das beklagte Erzbistum Köln war, sexuell missbraucht. Wegen der Einzelheiten bitte den verlinkten Volltext lesen.

Wegen des Missbrauchs macht der Kläger nun Schmerzensgeld gegenüber dem Erzbistum geltend, und zwar 750.000 EUR.

Das LG sagt: Das Erzbistum haftet. Insoweit beschränke ich mich auf den Leitsatz, der lautet.

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche haftet die Anstellungskörperschaft in entsprechender Anwendung von § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i. V. m. Art. 34 GG.

Zugesprochen hat das LG dann 300.000 EUR. Auch insoweit verweise ich auf den Volltext. Das LG stellt die Grudnsätze der Berechnung/Bemessung dar und führt dann zum konkreten Fall aus:

„e) Ausgehend von den unter c) dargestellten Grundsätzen und unter Berücksichtigung der unter d) angeführten Entscheidungen hält die Kammer im vorliegenden Fall ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000,– € für angemessen.

Dabei hat sich die Kammer insbesondere von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Der Kläger stand unter psychischem Druck und befand sich aufgrund der autoritären Stellung des Pfarrers, aber auch dessen Rolle als „Ersatzvater“ in einer Zwangslage. Sowohl wegen seiner Gläubigkeit als auch aufgrund der ihm eingeräumten engen Vertrauensstellung war der Kläger von dem Pfarrer abhängig.

Die über einen langen Zeitraum und in großer Zahl erfolgten vorsätzlich begangenen Missbräuche, die regelmäßig mit Vergewaltigungen einhergingen, verursachten dem Kläger nicht nur körperliche Schmerzen, sondern er fühlte auch Scham, Erniedrigung, Hilflosigkeit und Angst.

Der Kläger benötigt seit über 30 Jahren ständig therapeutische Hilfe; neben zahlreichen ambulanten Sitzungen nahm er zwischen 2005 und 2019 an insgesamt fünf mehrwöchigen Rehabilitationsmaßnahmen teil. Er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und mehreren chronischen Krankheiten (Neurodermitis, Migräne, Hypertonie).

Daneben bestehen mannigfaltige psychische Beeinträchtigungen, die auch aus der Belastung der Beziehungen zu den Geschwistern des Klägers herrühren. Das eigene Familienleben des Klägers wurde ebenfalls stark negativ beeinflusst.

Dagegen sieht die Kammer keinen Anlass, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auch das Regulierungsverhalten des beklagten Erzbistums zu berücksichtigen.

Der generelle Umgang der Kirche mit den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen kann in diesem Rahmen keine Berücksichtigung finden.

Den hier streitgegenständlichen Schmerzensgeldanspruch hat der Kläger erstmals Ende 2021 geltend gemacht. Substantiierten Vortrag zu konkret erhobenen Ansprüchen vor diesem Zeitpunkt leistet er nicht mit Ausnahme des Jahres 2012, in dem ihm aber auch eine – zu geringe – Entschädigung zugebilligt wurde.

Dass das beklagte Bistum im Rahmen der vorgerichtlichen Gespräche zunächst einen Amtshaftungsanspruch abgelehnt und auf die von ihm eingerichtete Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen verwiesen hat, woraufhin ein weiterer Betrag an den Kläger gezahlt wurde, war zumindest vertretbar.

Im Rahmen des anschließenden Klageverfahrens hat das beklagte Erzbistum dann die Missbrauchstaten nicht bestritten und die Einrede der Verjährung zurückgenommen, wodurch zeitnah die gerichtliche Entscheidung möglich wurde. Dass das beklagte Erzbistum sowohl zur Klageerwiderung als auch zur Duplik jeweils um Fristverlängerungen nachgesucht hat, fällt ebenso wenig maßgeblich ins Gewicht wie der geringe äußere Umfang dieser Schriftsätze.

Entgegen der Ansicht des Klägers ist das Schmerzensgeld vorliegend schließlich nicht aus Gründen der Prävention oder Bestrafung zu erhöhen. Da ausschließlich auf die Pflichtverletzungen des Pfarrers abzustellen ist, ist für eine Abschreckung oder Pönalisierung gegenüber dem lediglich nach Art. 34 GG haftenden Erzbistum kein Raum.

Auf die Frage, ob und inwieweit aufgrund der Entwicklungen der vergangenen Jahre davon ausgegangen werden kann, dass dem beklagten Erzbistum die Missbrauchsproblematik nunmehr hinreichend deutlich bewusst ist und deshalb eine Wiederholung von Taten, wie sie dem Kläger widerfahren sind, ausgeschlossen ist, kam es daher nicht an.“

Das Urteil ist (wahrscheinlich) noch nicht rechtskräftig. Ich denke, wir werden dazu noch etwas vom OLG Köln und auch vom BGh hören/lesen.

Schadensersatz I: „Du warst Mitglied der Stasi“, oder: Da das wahrheitswidrig war, gibt es Schadensersatz

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Und in die 27. KW starte ich dann heute mit zwei etwas außergewöhnlichen Entscheidungen. Kein BVerfG, kein Klima, keine Corona, sondern mal Schadensersatz, und zwar als Folge von Straftaten bwz. von wahrheitswidrigen Behauptungen. Wäre an sich etwas für den Kessel Buntes, aber da gehen die Entscheidungen an einem Samstag vielleicht unter. Daher heute hier.

Ich beginne mit dem LG Flensbugr, Urt. v. 14.06.2023 – 7 O 140/20. Gegenstand des Verfahrens ist die wahrheitswidirge Behauptung – inzwischen wahrrechtskräftig festgestellt – der Kläger „sei Mitglied der Staatssicherheit (Stasi)“ gewesen. Darüber gibt es ein Teil-/Grundurteil. Gestritten worden ist jetzt noch um den Schadensersatz. Den hat das LG mit 10.000 EUR bemessen und das wie folgt begründet:

„a) Grundsätzlich hängt die Schmerzensgeldhöhe entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder mit ihnen zu diesem Zeitpunkt als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere der Belastungen wird dabei vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen zu (Leitsatz OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617).

Die Überzeugung des Richters erfordert in dem Zusammenhang keine – ohnehin nicht erreichbare – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ im Hinblick auf die Folgen, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617 m.w.N.). Nach der im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität anwendbaren Vorschrift des § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt je nach Lage des Einzelfalls eine überwiegende (höhere) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung.

b) Die Qualität des Eingriffs dürfte vorliegend – wenn auch subjektiv auf Klägerseite anders empfunden – eher als mittelschwer zu qualifizieren sein.

Bei der Beurteilung der Qualität des Eingriffs ist einerseits die Art der Behauptung aber auch die Reichweite dieser zu berücksichtigen.

Zweifelsohne ist die vorliegende Art der Behauptung, der Kläger sei Mitglied (sogar „bis 1989 Offizier“) der Stasi gewesen und habe hierbei „viele Werftarbeiter persönlich über die Klinge springen [lassen] durch seine Spitzeltätigkeit“ schwerwiegend und in hohem Maße ehrverletzend. Derartige Behauptungen sind zudem geeignet, das soziale und ggf. politische Ansehen des Klägers zu mindern. Schließlich herrscht heute innerhalb der Bundesrepublik Deutschland allgemeiner Konsens darüber, dass die Stasi für zahlreiche Verbrechen an Menschen verantwortlich ist, die nach damaliger Beurteilung innerhalb der DDR nicht ins dortige System passten. Dass Menschen im Auftrag der Stasi verfolgt, verhaftet, gefoltert und gar getötet worden sind, dürfte heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden.

Indes geht das Gericht basierend auf den Angaben der Parteien von einer eher überschaubaren Reichweite der Äußerungen des Beklagten zu 1 aus. Zwar ist es unstreitig sehr wohl möglich gewesen, auf den Blog des Beklagten zu 1 sowie auf sein Buch aufmerksam zu werden, wenn man den Namen des Klägers zusammen mit anderen „Schlagwörtern“ bei der Suchmaschine „google“ eingegeben hat. Indes dürfte der Blog des Beklagten zu 1 mit der Domain „http://…“ ansonsten eher einen geringen „fraffic“ (Anzahl der Besucher auf der Homepage innerhalb eines bestimmten Zeitraums) gehabt haben. Zudem dürfte sich nur eine bestimmte Klientel mit dem Inhalt des Blogs auseinandergesetzt haben. Auch die Auflage des Buches beziehungsweise die bislang (geschätzte) Anzahl der Verkäufe (rund 25-30 mal) bei Amazon („www.amazon.de“) ist im Vergleich zu anderen Fällen verhältnismäßig gering. Hinzu kommt, dass der Kläger in dem Buch nur an vereinzelten Stellen genannt wird, sich das Buch also nicht ausschließlich um seine Person dreht.

c) Die persönlichen Folgen bzw. Beeinträchtigungen auf Seiten des Klägers stuft das Gericht indes als schwerwiegend ein.

Nach der Überzeugung des Gerichts haben die falschen ehrverletzenden Behauptungen des Beklagten zu 1 erhebliche negative psychische Auswirkungen auf den Kläger gehabt mit der Folge, dass dieser in eine schwere emotionale Krise gestürzt ist.

aa) Zum einen hat das Gericht die medizinischen Befunde und Berichte (Anlage K 27 – K 29, Bl. 266 – 269 und Bl. 417 d.A.) berücksichtigt. Auf deren Inhalt wird an dieser Stelle vollumfänglich Bezug genommen.

bb) Vor allem aber stützt das Gericht seine Beurteilung auf den eigenen persönlich vom Kläger gewonnenen Eindruck, dessen glaubhafte Darstellung seiner Situation sowie auf die glaubhaften Angaben des Zeugen … .

(1) In der mündlichen Verhandlung vom 22.7.2021, in welcher der Kläger das erste mal informatorisch zur Sache angehört wurde, hat das Gericht bereits den Eindruck gewonnen, dass der Kläger von dem Verfahren und der Situation schwer gezeichnet war. Mit hängenden Schultern und sorgenvoller Mine hat der Kläger damals berichtet, dass ihn die falschen Behauptungen sehr belasten würden. Er sehe seinen guten Ruf in Gefahr und wolle nicht, dass seine ehemaligen Kollegen und Schüler ein derartiges (falsches) Bild von ihm gezeichnet bekämen.

(2) Auch in der mündlichen Verhandlung vom 17.2.2022 wirkte der Kläger auf das Gericht sehr angeschlagen. Es fiel ihm merklich schwer, über die Auswirkungen der Vorwürfe zu sprechen. Dennoch gab er glaubhaft zu Protokoll, dass er sich vor ca. 10 Jahren in psychische Behandlung habe begeben müssen. Damals habe er mit den Folgen eines sog. „Burnout“ zu tun gehabt. Nachdem er diese Krise überwunden hatte, sei die Thematik – aufgrund der Behauptungen des Beklagten zu 1 und dieses Prozesses – jetzt allerdings wieder hochgekommen. Er habe sich im Zusammenhang mit den Anschuldigungen sogar in stationäre Behandlung begeben müssen.

(3) Diese Angaben hat der Zeuge … in der mündlichen Verhandlung vom 25.5.2023 glaubhaft bestätigt.

Dieser hat ausgesagt, den Kläger schon seit dem Jahr 2011 zu kennen. Damals sei er bei ihm wegen Depressionen und Angststörungen sowie Schmerzen in Behandlung gewesen. Diese damalige Behandlung habe zu tun gehabt mit der beruflichen Belastung des Klägers.

Im Jahr 2020, als er auf die Behauptungen über sich im Internet aufmerksam wurde, sei er dann erneut in eine schwere Krise gekommen. Er sei seit damals wieder verstärkt angespannt gewesen und habe nicht schlafen können. Er habe die Situation als „sehr bedrohlich“ wahrgenommen. Besonders belastet habe ihn, dass er dieser Situation so hilflos gegenüber stand.

Er sei damals auch sehr impulsiv gewesen und habe versucht, sich mit Alkohol zu beruhigen. Zuvor habe er lange Zeit gar keinen Alkohol mehr zu sich genommen.

Ein weiteres Thema sei gewesen, dass die Ehefrau des Klägers ebenfalls sehr besorgt gewesen sei. Dies habe letztlich auch zu einer Ehekrise geführt, da der Kläger seine Ehe in Gefahr gesehen habe. Dies insbesondere aufgrund des Umstandes, dass die Ehefrau des Klägers bei dem Konsum von Alkohol katastrophale Wirkungen bzw. Gedanken hervorgebracht habe. Die Ehefrau des Klägers dahingehend wieder einzufangen und sie davon zu überzeugen, dass die Probleme des Klägers gelöst werden müssten, sei für den Kläger und den Zeugen … ein enormer Kraftakt gewesen.

Zusammengefasst habe der Kläger zwischen 2020 und 2022 in einer erheblichen psychischen Krise gesteckt hat, die kausal durch die Behauptungen des Beklagten zu 1 hervorgerufen worden sei (Protokoll vom 25.5.2023, S. 2-4). Ob er diese Krise je überwinden werde, sei ungewiss. Der Zeuge … sehe allerdings gute Chancen, wenn dieser Prozess beendet sei.

Die Angaben des Zeugen waren insgesamt glaubhaft. Hinweise auf eine einseitige Belastungs- oder Begünstigungstendenz haben sich nicht ergeben. Bei dem Zeugen … handelt es sich um einen seit Jahren praktizierenden Nervenarzt, der seine fachkundigen Wahrnehmungen wertungsfrei wiedergegeben hat. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen haben sich ebenfalls nicht ergeben.

d) Das Maß an Verschulden bzw. Vorwerfbarkeit des Beklagten zu 1 sieht das Gericht als hoch an (mit Einschränkung).

Das Gericht geht zwar – ohne Zweifel – davon aus, dass der Beklagte zu 1 die Behauptungen über den Kläger in der Absicht öffentlich aufgestellt hat, um diesem zu schaden. Auch geht das Gericht davon aus, dass der Beklagte zu 1 seinen Fehler (Behauptungen sind tatsächlich unwahr) bei objektiver Betrachtung hätte erkennen müssen und können, wenn er sich mit der Aktenlage intensiver beschäftigt hätte. Der Fehler wäre also vermeidbar gewesen. Dies, wie auch die Qualität der Behauptung, muss sich der Beklagte zu 1 vorwerfen lassen.

Indes hat das Gericht im Laufe des Prozesses auch den Eindruck gewonnen, dass der Beklagte zu 1 aufgrund seiner eigenen Vergangenheit (als Opfer der Stasi) womöglich psychisch und emotional derart geprägt worden ist, dass ihm die Unterscheidung zwischen Realität (objektiv beweisbarem) und Vorstellung nicht mehr ohne Einschränkung gelingt. Mit Verweis auf die zahlreichen aus Sicht des Gerichts nicht nachvollziehbaren – teils persönlichen – Einlassungen des Beklagten zu 1 (vgl. dazu auch Grund- und Teilurteil, S. 13 ff.) sowie seine mangelnde Einsicht (trotz zweier Instanzen) schließt das Gericht nicht aus, dass der Beklagten zu 1 womöglich die Tragweite seiner Handlungen gar nicht erkennt. Jedenfalls scheint er unter einem erheblichen psychischen Trauma zu leiden, welches er durch Benennung der „Täter“ aufzuarbeiten versucht. Dass er hierbei einen Falschen als „Täter“ benannt hat, ist für ihn emotional womöglich nicht nachvollziehbar. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Verschleierung, Verdunkelung und Täuschung in der ehemaligen DDR, insbesondere bei der Stasi, an der Tagesordnung waren. Irgendwann mag bei jedem Menschen, der von einer solchen Welt geprägt worden ist, der Punkt erreicht sein, ab dem er nichts mehr glaubt, sondern sich seine eigene Wahrheit schafft.

e) Bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe hat das erkennende Gericht insbesondere die folgenden, in der Schmerzensgeldtabelle exemplarisch aufgeführten Entscheidungen anderer Gerichte berücksichtigt und sich hieran orientiert:

  • Ehrverletzung durch unzutreffende Berichterstattung ohne Namensnennung. Dennoch erfuhren mindestens 217 Bekannte, Verwandte oder Kollegen von der Behauptung, der Kläger habe als „Stasi-Scherge“ einen Mord begangen: OLG Hamm, Urteil vom 1.6.1992, Az. 3 U 25/92, BeckRS 9998, 11842.
  • Ehrverletzung durch Ausstrahlung von Fernsehaufnahmen („Brandenburg aktuell“), in denen der Kläger als „Neonazi“ mit einschlägiger Vergangenheit dargestellt wurde: LG Berlin, Urteil vom 9.10.1997, Az. 27 O 349/97, BeckRS 9998, 16109.
  • Bezeichnung des im Kommunalwahlkampf stehenden Klägers als „kulturloser Bonze“ und  „Wendehals“. Zudem wurde der Kläger einer tatsächlich nicht bestehenden SED Vergangenheit beschuldigt: LG Frankfurt, Urteil vom 29.7.2004, Az. 17 O 540/03, BeckRS 2004, 17904.
  • Ehrverletzung wegen eines „herabwürdigenden Artikels“ mit der Folge psychischer Beeinträchtigungen: LG München, Urteil vom 11.6.2008, Az. 9 O 15086/06, BeckOK zum Schmerzensgeld Nr. 3782.
  • Unzutreffende Bezeichnung als „Perspektiv-Agent des KGB“. Es stelle eine schwere Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar, in einer Buchveröffentlichung eine andere Person mit dem kommunistischen Geheimdienst KGB in Verbindung zu bringen, weil so zu Lasten des Betroffenen ein zwielichtiger Eindruck erweckt werde: OLG Bremen, Urteil vom 1.11.1995, Az. 1 U 51/95, BeckRS 9998, 2560.

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