Archiv für den Monat: August 2022

U-Haft III: Der Erlass eines neuen BGH-Haftbefehls, oder: Gegenstandslose Haftbeschwerde

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Und zum Tagesschluss noch etwas Verfahrensrechtliches zur U-Haft, und zwar der BGH, Beschl. v. 19.07.2022 – StB 30/22.

Der Beschuldigte ist in dieser Sache am 07.02.2022 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 08.02.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Amtsgerichts Lörrach vom selben Tag. Am 13.07.2022 hat der Ermittlungsrichter des BGH unter Aufhebung dieser Entscheidung einen neuen Haftbefehl erlassen und verkündet, der seither vollzogen wird.

Gegenstand des aktuellen Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte, der im Sinne der sog. Reichsbürger-Bewegung die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Staatsorgane in Abrede stelle, habe am 07.02.2022 bei W. aus niedrigen Beweggründen versucht, durch den gezielten Zusammenstoß mit dem von ihm geführten PKW einen Polizisten zu töten, um sich einer von ihm als rechtswidrig erachteten Verkehrskontrolle zu entziehen, wobei er dem Beamten schwere Kopf- und Gesichtsverletzungen zugefügt habe, strafbar unter anderem als versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Eingriff in den Straßenverkehr zur Herbeiführung eines Unglücksfalls.

Nachdem das AG Karlsruhe die Haftkontrolle vom AG Lörrach übernommen hatte, hat es sie – nach Übernahme des Ermittlungsverfahrens durch den GBA – mit Beschluss vom 23. 06.2022 auf den Ermittlungsrichter des BGH übertragen. Dieser hat am 28.06.2022 darauf erkannt, dass mit dem vorbenannten Beschluss die Zuständigkeit für die weiteren Haftentscheidungen gemäß § 126 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO auf ihn übergegangen ist.

Gegen den Haftbefehl des AG Lörrach hatte der Beschuldigte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 24.06.2022 beim AG Karlsruhe Beschwerde eingelegt. Über den GBA ist sie am 28.06.2022 dem Ermittlungsrichter des BGH übersandt worden, der ihr nicht abgeholfen und sie am Folgetag dem BGH-Senat vorgelegt hat. Der hat nun die Beschwerde als gegenstandslos angesehen:

„Die Beschwerde gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Amtsgerichts Lörrach vom 8. Februar 2022 ist gegenstandlos.

Die Untersuchungshaft wird nicht mehr aufgrund dieses Haftbefehls vollzogen, sondern auf der Grundlage des neuen erweiterten Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 13. Juli 2022. Dies führt infolge prozessualer Überholung zur Unstatthaftigkeit der gegen den ursprünglichen Haftbefehl erhobenen Beschwerde. Da die Untersuchungshaft weiter vollzogen wird und der Beschuldigte den neuen Haftbefehl vollumfänglich angreifen kann, besteht für die Beschwerde gegen die erstmalige Haftanordnung auch unter dem Gesichtspunkt eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses kein Rechtsschutzbedürfnis. Weil die Unzulässigkeit des Rechtsmittels erst nach seiner Einlegung eingetreten ist, ist es infolge Erledigung für gegenstandslos zu erklären (s. BGH, Beschluss vom 4. Januar 2013 – StB 10/12, juris Rn. 4; OLG Koblenz, Beschluss vom 23. Dezember 2015 – 2 Ws 664/15, juris Rn. 3 ff.; BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed., § 117 Rn. 7).“

U-Haft II: Schwerkriminalität und Fluchtgefahr, oder: Ohne Haftgrund gibt es keinen Haftbefehl

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den LG Stuttgart, Beschl. v. 05.08.2022 – 14 Qs 21/22 -, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Am 19.04.2022 erhob die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den zum damaligen Zeitpunkt auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten u.a. wegen der Vorwürfe der Vergewaltigung und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern Anklage beim AG Esslingen – Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht-. Nachdem der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts gegenüber der Staatsanwaltschaft Bedenken hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts geäußert hatte, nahm die Staatsanwaltschaft am 23.06.2022 die Anklage zurück und erhob nunmehr Anklage beim AG – Schöffengericht – Esslingen. Zugleich beantragte sie nun erstmals den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten. Am 11.07.2022 hat das AG im Umfang der Anklageschrift einen auf die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität gestützten Haftbefehl erlassen. Der Beschuldigte habe im Falle einer Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe im nicht bewährungsfähigen Bereich zu rechnen. Soziale Bindungen oder andere Faktoren, welche dem in Ansehung der zu erwartenden Strafe bestehenden Fluchtanreiz entgegenwirken könnten, seien derzeit nicht bekannt. Ebenfalls sei in den dem Beschuldigten zur Last liegenden Taten ein hohes Maß an krimineller Energie zu erkennen, da er über einen längeren Zeitraum hinweg verschiedene minderjährige Geschädigte über soziale Netzwerke kontaktiert und diese gezielt zur Ermöglichung sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen manipuliert haben solle. Ebenso lägen die Voraussetzungen von § 112 Abs. 3 StPO vor.

Nach der Festnahme des Angeschuldigten wird der Haftbefehl seit dem 19.7.2022 vollzogen. Die Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte Erfolg:

„Zwar ist der Beschwerdeführer der im angegriffenen Haftbefehl bezeichneten Taten dringend verdächtig. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund im Sinne des § 112 Abs. 2 und Abs. 3 StPO.

Soweit sich die Anordnung der Untersuchungshaft auf den Haftgrund der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO stützt, geht dies fehl, da bereits die formellen Voraussetzungen der Vorschrift nicht gegeben sind. In Abs. 3 findet sich dem Wortlaut nach eine atypische Ermächtigung zur Anordnung der Untersuchungshaft in den dort abschließend aufgeführten Fällen von Katalogtaten der Schwerkriminalität ohne Hinzutreten eines Haftgrundes im Sinne von § 112 Abs. 2 StPO. Aufgrund des vom Gesetzgeber gewählten Enumerationsprinzips findet die Vorschrift hingegen keine Anwendung, wenn die Norm nicht ausdrücklich im Katalog des Abs. 3 enthalten ist (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, 1. Aufl. 2014, StPO § 112 Rn. 88). So liegen die Dinge hier. Anknüpfungspunkt für die Charakterisierung als Katalogtat ist damit deren Bezeichnung nach Paragraph, Absatz, Nummer usw.. Nachdem die Vorschrift des § 176a Abs. 1 StGB in dieser abschließenden Aufzählung nicht enthalten ist, liegen bereits die formellen Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO nicht vor, so dass auch die Frage nach der Identität des Regelungsgehalts von § 176a StGB a.F. und § 176c Abs. 1 StGB keiner Beantwortung mehr bedarf.

Ebenfalls besteht ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO – auch unter Berücksichtigung der erheblichen Straferwartung – nicht. Denn allein die hohe Straferwartung vermag die Fluchtgefahr nicht begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 112 Rn. 24 m.w.N,). Daher ist die Straferwartung nur der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Beschwerdeführer werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, ob bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, ein Beschuldigter werde dem in der Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben (OLG Hamm, Beschluss vom 19. Februar 2013 — 5 Ws 59/13). Die danach vorzunehmende Gesamtwürdigung ergibt, dass hier der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht anzunehmen ist: Der Beschwerdeführer verfügt über einen festen Wohnsitz und ist aufgrund seiner ausgeübten Erwerbstätigkeit sozial eingebunden. Er ist selbstständig und habe Haus und Hof. Beides sind Umstände, die mit einer längeren Abwesenheit des Beschwerdeführers nicht verträglich sind. Überdies würde er im Fall seiner Flucht oder seines Untertauchens seinen krebskranken Vater zurücklassen. Ferner hat er bereits seit Anfang Juli 2021 Kenntnis von den Tatvorwürfen im Raum Ulm (l. A. des Haftbefehls), wobei Vorkehrungen, die darauf schließen ließen, er werde sich dem Verfahren durch Flucht entziehen, nicht getroffen wurden. Auch ist davon auszugehen, dass der anwaltlich beratene Beschwerdeführer eine grobe Vorstellung über die Höhe der zu erwartenden Rechtsfolgen hat. Nach alledem überwiegt nach Auffassung der Kammer die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeschuldigte sich dem Verfahren stellen wird. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist mithin nicht gegeben.

Schließlich ist die Anordnung der Untersuchungshaft auch nicht aufgrund von Wiederholungsgefahr gern. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO geboten. Die Wiederholungsgefahr muss durch bestimmte Tatsachen begründet sein, die eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die Gefahr besteht, er werde gleichartige Taten wie die Anlasstaten bis zur rechtskräftigen Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache begehen (KK-StPO/Graf, 8. Aufl, 2019, StPO § 112a Rn. 19). Erforderlich ist eine innere Neigung oder wenigstens Bereitschaft der Begehung von Straftaten, auf welche vor allem aus äußeren Tatsachen geschlossen werden kann. Insoweit sind auch Indiztatsachen zu berücksichtigen und zu würdigen, wie etwa die Vorstrafen des Beschuldigten und die zeitlichen Abstände zwischen ihnen sowie die Persönlichkeitsstruktur und die aktuellen Lebensumstände des Beschuldigten (BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed. 1.4.2022, StPO § 112a Rn. 13). Solche Indiz-tatsachen, die die erforderliche Wiederholungsgefahr zu begründen geeignet wären, sind vorliegend nicht vorhanden. Der Beschwerdeführer ist bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Ebenfalls liegen keine Hinweise auf weitere sexualstrafrechtliche Verfehlungen des Beschwerdeführers vor. Daher besteht die erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens nicht.“

Eine „schöne“ Entscheidung. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Ausführungen zur „Schwerkriminalität“. Denn es wird oft übersehen, dass auf diesen Haftgrund nur in den in § 112 Abs. 3 StPO enumerativ aufgezählten Fällen abgestellt werden kann/darf. Zudem ist die Regelung darüber hinaus verfassungskonform auszulegen. Denn der Haftgrund der Schwerkriminalität ist (nur) dann gegeben, wenn der Beschuldigte einer in § 112 Abs. 3 genannten Straftat – ungeachtet des im Einzelfall zu erwartenden Strafmaßes – dringend verdächtig ist und Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne seine Festnahme die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte; ausreichend ist dabei schon die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunklungsgefahr (BVerfGE 19, 342, 350 f.; zuletzt BGH, Beschl. v. 13.7.2022 – StB 28/22 – m.w.N.).

U-Haft I: Meldeauflage erfüllt, keine Fluchtgefahr mehr, oder: Wenn die Vertreterin keinen Bock hat

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Heute dann mal wieder ein Hafttag. Den beginne ich mit einer Entscheidung des LG Paderborn, den mir der Kollege Urbanek auf Bielefeld geschickt hat.

Der Angeklagten wird Raub in Tateinheit mit Körperverletzung vorgeworfen. Die Anklage wurde erhoben vor dem AG Lippstadt – Schöffengericht. Gegen die Angeklagte ist Haftbefehl erlassen worden, mit Beschluss vom 08.04.2022 den das LG unter Auflagen außer Vollzug gesetzt hat. U.a. wurde eine Meldeauflage gemacht.

Hauptverhandlungstermin war auf den 07.06.2022 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 08.05.2022 beantragte der Verteidiger beim AG Lippstadt nach Rücklauf der Akten vom LG Paderborn Akteneinsicht. Gewährt wurde eine Akteneinsicht in der Folge nicht. Mit Schriftsatz vom 31.05.2022 beantragte der Verteidiger der daraufhin die Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 Abs. 1 StPO. Mit Verfügung vom 02.00.2022 wurde daraufhin der Hauptverhandlungstermin durch das AG aufgehoben. In der Folge wurde den Verteidigern Akteneinsicht gewahrt. Ein erneuter Hauptverhandlungstermin wurde nicht bestimmt.

Mit Eingang beim AG am 06.06.2022 beantragte die Angeklagte eine Aufhebung des Haftbefehls vom 03.03.2022, da mittlerweile von keiner Fluchtgefahr mehr auszugehen und zudem die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls unverhältnismäßig sei. Eine Entscheidung über den Antrag erging sodann zunächst nicht. Mit Schriftsatz eingegangen am 22.06.2022 erinnerte der Verteidiger an den Antrag vom 06.06.2022. Hierzu wurde durch das AG mitgeteilt, dass die Akte derzeit versendet sei.

Am 27.06.2022 erkundigte sich der Verteidiger zudem telefonisch nach dem Stand der Sache. Auf die Mitteilung, dass sich der zuständige Dezernent in Urlaub befände, bat er um eine Entscheidung im Vertretungswege. Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung. Nach Rückkehr des Dezernenten wurde der Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls mit Beschluss vom 08.07.2022 zurückgewiesen.

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss hatte beim LG Erfolg. Das hat im LG Paderborn, Beschl. v. 19.07.2022 – 08 Qs-43 Js 301/21-32/22 – den Haftbefehl aufgehoben.

Das LG verneint Fluchtgefahr und begründet das u.a. damit, dass die Angeklagte längere Zeit die gemachten Meldeauflagen erfüllt hat. Insoweit bitte selbst lesen.

Hier stelle ich die Ausführungen des LG zur Verhältnismäßigkeit vor:

„2. Darüber hinaus war der Haftbefehl auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aufzuheben.

Aus rechtsstaatlichen Granden besteht auch bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen die Pflicht zu einer möglichst zügigen Bearbeitung. Die mit den Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO verbundenen Beschränkungen sind auch in Ansehung der Belange einer funktionierenden Strafrechtspflege nur für einen angemessenen Zeitraum hinzunehmen (vgl. BVerfGE 53, 152 = NJW 1980, 1448).

Die an eine zügige Bearbeitung der Sache zu setzenden Maßstäbe sind durch das Amtsgericht Lippstadt – Schöffengericht – in einem solchen Umfang verletzt worden, dass eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr verhältnismäßig erscheint.

Hierfür dürfte bereits ausreichend sein, dass nach Aufhebung des für den 07.06.2022 bestimmten Hauptverhandlungstermins am 02.06.2022 bis zum Zeitpunkt dieser Kammerentscheidung kein erneuter Hauptverhandlungstermin bestimmt wurde und auch keine Bemühungen zur Bestimmung eines Hauptverhandlungstermins – wie etwa die Anfrage bezüglich einer Terminsabsprache mit den Verteidigern der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten – aus der Akte zu entnehmen sind. Außer der Gewährung von Akteneinsichten und der – ebenfalls nur verzögert erfolgten – Bearbeitung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Haftaufhebung vom 06.06.2022, finden sich insoweit keinerlei Hinweise auf verfahrensfördernde Bemühungen des Amtsgerichts.

Darüber hinaus beruht auch die Notwendigkeit der Aufhebung des Termins vom 07.06.2022 in vollem Umfang auf der fehlenden Verfahrensförderung durch das Amtsgericht Lippstadt – Schöffengericht -. Nachdem nämlich zuvor in berechtigter Weise beantragte Akteneinsichtsgesuche mehrerer Verteidiger nicht beschieden wurden, wurde eine Aufhebung des Termins notwendig, da eine Vorbereitung der Verteidiger in einer für die angemessene Vertretung der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten ohne vorherige Akteneinsicht nicht möglich war. Die hierdurch verursachte Notwendigkeit zur Aufhebung des Hauptverhandlungstermins wiegt umso schwerer, nachdem sich aus der Akte ergibt, dass mit Verfügung vom 02.05.2022 eine digitale Kopie der vollständigen Verfahrensakte durch die Staatsanwaltschaft P. gefertigt wurde, durch welche den Verteidigern zeitnah und parallel Akteneinsicht hätte gewährt werden können.

Schlussendlich konnte im Zusammenhang mit der zügigen Bearbeitung dieser Haftsache auch nicht außer Acht gelassen werden, dass auch der Antrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung des Haftbefehls vom 06.06.2022 zunächst ohne erkennbaren Grund durch den zuständigen Dezernenten am 08.06.2022 auf den Zeitpunkt seiner Rückkehr aus dem anstehenden Urlaub verfristet wurde und durch seine Vertreterin auf entsprechende Nachfrage des Verteidigers der Beschwerdeführerin gemäß Vermerk vom 29.06.2022 als nicht eil- bzw. entscheidungsbedürftig angesehen wurde und ebenfalls auf die Rückkehr des zuständigen Dezernenten verfristet wurde.

Angesichts der hierdurch insgesamt für die Beschwerdeführerin eingetretenen Belastungen – auch unter Berücksichtigung, dass ihr gegenüber zuvor in der Zeit vom 04.03.2022 bis zum 08.04.2022 Untersuchungshaft vollzogen wurde – ist, nachdem insbesondere ein Hauptverhandlungstermin weiterhin nicht in Aussicht ist, eine weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls selbst nach Außervollzugsetzung nicht mehr verhältnismäßig.“

Spätestens an der Stelle: „Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung.“ schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen und ist schon erstaunt, wie man beim AG Lippstadt mit Haftsachen umgeht.

StPO III: Ende der Pflichti-Bestellung nach § 408b StPO?, oder: Nicht mit dem Einspruch gegen Strafbefehl

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Und im letzten Posting dann zwei Entscheidungen, die ich auch an einem Pflichti-Tag hätte bringen können. In beiden geht es nämlich um die Frage, wie lange eine nach § 408b StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung dauert. Nur bis zur Einlegung des Einspruchs oder ggf. auch darüber hinaus? Dazu gibt es ja bereits den LG Oldenburg, Beschl. v. 26.10.2021 – 4 Qs 424/21 -, über den ich hier auch berichtet habe.

Die Frage war nach altem Recht streitig, war aber schon „damals“ zutreffend dahin zu beantworten, dass die Bestellung über die Einlegung des Einspruchs hinaus andauert. Das gilt nach neuem Recht der Pflichtverteidigung erst recht – so hat es auch das LG Oldenburg gesehen. Und so sehen es auch die beiden Entscheidungen, die ich hier vorstelle, nämlich der LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.07.2022 – 16 Qs 59/22 – und der LG Stade, Beschl. v. 05.08.2022 – 102 Qs 2575 Js 37782/21 (26/22).

Ich stelle hier dann mal die Begründung aus dem LG Karlsruhe, Beschluss ein, die des LG Stade (a.a.O.) ist ähnlich:

„Das als sofortige Beschwerde (§ 143 Abs. 3 StPO) zu behandelnde Rechtsmittel des Angeklagten ist zulässig und begründet.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 408b StPO ist nicht auf das schriftliche Verfahren bis zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl beschränkt, sondern gilt bis zur Einlegung des Rechtsmittels gegen das auf den Einspruch hin ergangene amtsgerichtliche Urteil fort (OLG Oldenburg StV 2018, 152; OLG Köln NStZ-RR 2010, 30; OLG Celle StraFo 2011, 291; LR-Gössel, StPO, § 408b Rn 12, 13; KK-StPO-Maur, StPO, § 408b Rn 8; a.A. OLG Düsseldorf NStZ 2002, 390; KG Berlin, Beschluss v. 29.05.2012, 1 Ws 30/12, bei juris; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 17.09.2014, 1 Ws 126/14, bei juris).

Der Wortlaut des § 408b StPO enthält keine Beschränkung auf das schriftliche Strafbefehlsverfahren. Die besondere prozessuale Situation, die durch die Beiordnung nach § 408b StPO kompensiert werden soll, besteht zudem in veränderter Form auch nach Erlass des Strafbefehls fort.

Nach § 411 Abs. 2 S. 2 StPO gelten für das weitere Verfahren die Regeln des § 420 StPO. Im beschleunigten Verfahren werden diese erleichterten Regeln der Beweisaufnahme dadurch ausgeglichen, dass nach § 418 Abs. 4 StPO dem Angeklagten, der eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten hat, ein Verteidiger beizuordnen ist. Die Parallele spricht in systematischer Hinsicht für eine Geltung der Pflichtverteidigerbeiordnung nach § 408b StPO auch für das Hauptverfahren (OLG Celle StraFo 2011, 291 m.w.N.).

Wie sich aus § 143 Abs. 2 S. 1 StPO ergibt, kann die Beiordnung allerdings aufgehoben werden. Das ist vorliegend geschehen.

Die Aufhebungsmöglichkeit steht im Ermessen des Gerichts. Allerdings sind insoweit Vertrauensgrundsätze zu beachten. Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes grundsätzlich, hieran weiter festzuhalten (BeckOK StPO/Krawczyk StPO § 143 Rn. 7, 8 m.w.N.). eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung kommt dann in Betracht, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat oder sich die für die Bestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben (BeckOK StPO/Krawczyk a.a.O.).

Zwar weicht das Urteil hinsichtlich rechtlicher Würdigung und Rechtsfolgen von dem ursprünglichen Strafbefehl erheblich ab, es lässt sich aber weder den Urteilsgründen noch dem Hauptverhandlungsprotokoll entnehmen, dass bereits zum Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Beschlusses eine solche wesentliche Änderung der Umstände vorlag.

Der Übergang vom Strafbefehlsverfahren in das Hauptverfahren als solcher ist nach obigen Ausführungen kein solcher Umstand.“

Da die Frage, wie man an den Entscheidungen sieht, aber immer noch nicht einhellig gesehen wird, sollte man als Verteidiger – wegen der gebührenrechtlichen Auswirkungen – auf Klarstellung beim AG drängen und Bestätigung der Bestellung beantragen. Kostet ja nichts.

StPO II: AG lehnt Strafbefehlsantrag zunächst ab, oder: Wenn der Angeklagte dann in der HV ausbleibt

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Die zweite Konstellation tritt in der Praxis auch immer wieder auf.

Die Staatsanwaltschaft stellt einen Strafbefehlsantrag, dem das AG nicht nachkommt, sondern Hauptverhandlungstermin bestimmt. In der Hauptverhandlung erscheint der Angeklagte dan nicht. Frage: Kann dann noch ein Strafbefehl nach § 408a StPO erlassen werden?

Das AG Landstuhl hat die Frage im AG Landstuhl, Beschl. v. 27.05.2022 – 2 Cs 4231 Js 9469/21 – bejaht:

„Die Voraussetzungen von § 408a StPO liegen vor. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass das Gericht dem ursprünglichen Strafbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft vom 12.08.2021 nicht entsprochen, sondern gem. § 408 Abs. 3 S. 2 StPO Termin zur Hauptverhandlung bestimmt hat.

Gegen die Anwendbarkeit von § 408a StPO auf diese Fallkonstellation werden zwar in der Literatur (im Wesentlichen historische und grammatikalische) Bedenken erhoben. Zur Begründung wird regelmäßig darauf abgestellt, die Vorschrift setze den Erlass eines Eröffnungsbeschlusses voraus, an dem es im Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO jedoch fehle (vgl. etwa Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 408a Rn. 3; BeckOK-StPO/Temming, 43. Ed. 2022, § 408a Rn. 3). Zudem sei der Gesetzgeber, wie die Gesetzesbegründung zeige (BT-Drucks. 10/1313, S. 36), selbst davon ausgegangen, der Übergang ins Strafbefehlsverfahren nach § 408a StPO sei bei Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO nicht sachgerecht (kritisch hierzu zurecht Zähres, NStZ 2002, 296 f.).

Diese Argumente überzeugen jedoch nicht (ebenso MüKo-StPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, § 408a Rn. 6; i.E. ebenso AK-StPO/Loos, 1996, § 408a Rn. 4, der indes für eine analoge Anwendung von § 408a StPO auf diese Fallkonstellation plädiert).

Dass der Gesetzgeber selbst von einer Unanwendbarkeit der Regelung des § 408a StPO auf das Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO ausgegangen ist, steht einer hiervon abweichenden Auslegung der Vorschrift nicht entgegen. Wenngleich der Gesetzesbegründung bei der Auslegung von Gesetzen regelmäßig erhebliche Bedeutung zukommt, ist es in der Rechtswissenschaft anerkannt, dass eine strenge Bindung an den historischen Willen des Gesetzgebers nicht existiert; eine Rechtsnorm kann „klüger“ sein als ihre Verfasser (vgl. etwa Hirsch, JZ 2007, 853 (855); instruktiv Kausch, in: FS-Gerhard Otte, 2005, S. 165 (166)). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Gesetzgeber eine Begründung für seine Annahme, der Übergang ins Strafbefehlsverfahren nach vorangegangener Terminierung nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO sei „nicht sachgerecht“, schuldig bleibt.

Auf einen nach § 407 Abs. 1 S. 2 StPO gestellten Strafbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft, der gem. § 407 Abs. 1 S. 4 StPO die Anklageschrift ersetzt, kann das Gericht reagieren, indem es diesen erlässt (§ 408 Abs. 3 S. 1 StPO), Termin zur Hauptverhandlung bestimmt (§ 408 Abs. 3 S. 2 StPO) oder den Erlass ablehnt (§ 408 Abs. 2 S. 1 StPO). Die Ablehnung des Strafbefehlsantrags hat, da hierdurch das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts verneint wird, die Wirkung eines Nichteröffnungsbeschlusses (§ 408 Abs. 2 S. 2 StPO). Ein Vorgehen nach § 408 Abs. 3 S. 1 oder 2 StPO bedeutet demnach, da anderenfalls nach § 408 Abs. 2 S. 2 StPO zu verfahren wäre, dass der hinreichende Tatverdacht vom Gericht bejaht wird. Dies gilt nicht nur für den Erlass des Strafbefehls, sondern auch für die Anberaumung einer Hauptverhandlung. Mit Erlass der Terminsverfügung erhält der Angeschuldigte den Status des Angeklagten (MüKo-StPO/ Teßmer, 1. Aufl. 2016, § 157 Rn. 10; LR-StPO/Mavany, 27. Aufl. 2020, § 157 Rn. 4). Da ein Vorgehen nach § 408 Abs. 3 S. 1 oder 2 StPO die Prüfung und Bejahung eines hinreichenden Tatverdachts impliziert, hat die auf den Strafbefehlsantrag ergehende Terminsverfügung im Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO deshalb die Wirkung eines Eröffnungsbeschlusses (Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 408 Rn. 14; KK-StPO/Maur, 8. Aufl. 2019, § 408 Rn. 25; MüKo-StPO/Teßmer, 1. Aufl. 2016, § 157 Rn. 10; BeckOK-StPO/Temming, 43. Ed. 2022, § 408 Rn. 10; a.A. ohne nähere Begründung AG Eggenfelden, NStZ-RR 2009, 339 (140)), sodass das Wortlautargument jedenfalls im Ergebnis nicht verfangen kann.

Aber auch in teleologischer und systematischer Hinsicht sprechen die besseren Argumente für eine Anwendbarkeit von § 408a StPO auch auf das Verfahren nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO. Bleibt ein Angeklagter ? wie vorliegend ? zur Hauptverhandlung aus, so verbliebe anderenfalls als einzige Möglichkeit die Ergreifung von Zwangsmitteln nach § 230 StPO. Dies begegnet vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes insbesondere in denjenigen Fällen Bedenken, in denen ? wie vorliegend ? lediglich eine Geldstrafe im unteren Bereich des Strafrahmens zu erwarten ist. Dafür, dass die für einen Angeklagten deutlich weniger eingriffsintensive Möglichkeit des Vorgehens nach § 408a StPO, mit der aufgrund der Einspruchsmöglichkeit auch keine Verkürzung seiner Rechte einhergeht, in dieser Fallkonstellation nicht zur Verfügung stehen soll, sodass lediglich der Rückgriff auf die Zwangsmittel des § 230 StPO verbleibt, besteht kein einleuchtender Grund. Die Versagung der Möglichkeit des Erlasses eines Strafbefehls nach § 408a StPO würde der Sache nach einen bloßen Formalismus darstellen, für den es keine prozessuale Rechtfertigung gibt. Insbesondere steht der Angeklagte nach Erlass eines Strafbefehls nach § 408a StPO prozessual nicht besser oder schlechter, als er gestanden hätte, wenn das Gericht bereits dem ursprünglichen Strafbefehlsantrag Folge gegeben hätte. Nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers hat § 408a StPO den Zweck, „steckengebliebene“ Verfahren in hierfür geeigneten Fällen „rationell“ zu beenden (BT-Drucks. 10/1313, S. 35 sowie 10/6592, S. 21). Bleibt ein Angeklagter ? wie vorliegend ? nach der Anberaumung der Hauptverhandlung gem. § 408 Abs. 3 S. 2 StPO unentschuldigt aus, bleibt das Verfahren stecken; ihm könnte nur durch die Ergreifung invasiver Zwangsmittel Fortgang gegeben werden, wenn der Weg des § 408a StPO versperrt wäre. Dessen Anwendung auf diese Fallkonstellation steht somit nicht nur in Einklang mit dem Gesetzeszweck, sondern entspricht auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und wahrt die Freiheitsrechte des Angeklagten.

Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung einen gegenüber dem ursprünglichen Strafbefehlsantrag modifizierten neuen Antrag gestellt, der den vom Gericht geäußerten ursprünglichen Bedenken Rechnung trägt, sodass die Voraussetzungen des § 408 Abs. 3 S. 1 StPO nunmehr vorliegen und dem Antrag gem. § 408a Abs. 2 S. 1 StPO zu entsprechen war.“