Archiv für den Monat: Mai 2022

OWI III: Die Einlassung gehört auch ins Bußgeldurteil, oder: Mal wieder die Dauerbrennerproblematik

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Und als dritte Entscheidung dann der (auch schon etwas ältere) KG, Beschl. v. 12.01.2022 – 3 Ws (B) 8/22 – mit einer Dauerbrennerproblematik, nämlich: Die im Bußgeldurteil fehlende Einlassung des Betroffenen.

Die OLG sind in den Fällen streng/rigoros: Sie heben die tatrichterlichen Entscheidungen auf. So auch das KG. Ich frage mich immer: Wenn man das als Amtsrichter weiß, warum achtet man dann nicht auf das Erfordernis.

Hier dann die Begründung des KG:

„Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer an den Senat gerichteten Zuschrift Folgendes ausgeführt:

„Das angefochtene Urteil leidet jedoch an einem sachlich-rechtlichen Mangel der Beweiswürdigung: Diese genügt nicht den Mindestanforderungen des § 71 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit §§ 261, 267 StPO.

Zwar sind im Bußgeldverfahren an die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen. Sie müssen aber so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen. Im Einzelnen bedeutet dies, dass die schriftlichen Urteilsgründe nicht nur die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben müssen, in denen die gesetzlichen Merkmale der ordnungswidrigen Handlung gefunden werden. Vielmehr  müssen hinsichtlich der Beweiswürdigung die Urteilsgründe regelmäßig auch erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine Überzeugung gestützt hat, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob der Richter der Einlassung folgt oder ob und inwieweit er die Einlassung für widerlegt ansieht (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 9. Juli 2009 – 3 Ss OWi 290/09; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Oktober 2006 – 1 Ss 55/06; OLG Rostock, Beschluss vom 1. April 2005 – 2 Ss (OWi) 389/04 1 246/04 –, jeweils bei juris, sowie Senge in KK-OWiG, 5. Aufl., § 71 Rdnr. 107 und Krenberger in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl., § 71 Rdnr. 15, alle mit weiteren Nachweisen).

Dem angefochtenen Urteil ist demgegenüber nichts dahingehend zu entnehmen, ob und gegebenenfalls wie sich der Betroffene in der Hauptverhandlung geäußert oder von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Es bleibt zudem unklar, ob das Tatgericht eine etwaige bestreitende Einlassung des Betroffenen aufgrund der benannten Beweismittel, insbesondere der verlesenen Unterlagen und der zeugenschaftlichen Vernehmung des Bruders des Betroffenen, als widerlegt erachtet oder wie es sich sonst im Rahmen der Beweiswürdigung mit einer eventuellen Äußerung auseinandergesetzt hat.

Das Fehlen einer Darstellung der Einlassung in den Urteilsgründen begründet auch im Bußgeldverfahren regelmäßig (vgl. OLG Bamberg und OLG Rostock a.a.O.) bzw. jedenfalls dann einen sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils, wenn – wie hier – die Möglichkeit besteht, dass sich der Betroffene in eine bestimmte Richtung verteidigt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Tatrichter die Bedeutung der Erklärung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.).“

Diesen zutreffenden Ausführungen folgt der Senat, so dass das Urteil ungeachtet ansonsten nachvollziehbarer Ausführungen und einer – jedenfalls auf der Grundlage des Schuldspruchs – moderat erscheinenden Rechtsfolgenbemessung aufzuheben ist.

OWi II: Messunterlagen/Speicherung Rohmessdaten, oder: Begründung der Rechtsbeschwerde

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Die zweite Entscheidung stammt vom OLG Brandenburg. Es handelt sich um den OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.05.2022 – 2 OLG 53 Ss-OWi 167/22 – zur (wieder mal) (verneinten) Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen Versagung des rechtlichen Gehörs.

„Die Beanstandung der Versagung des rechtlichen Gehörs dringt nicht durch. Das Tatgericht hat sich ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 4-6) mit den Einwänden der Verteidigung zur Geschwindigkeitsmessung auseinandergesetzt, so dass in der beanstandeten Ablehnung einer Erweiterung der Beweiserhebung keine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt (Art. 103 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Dies wäre nur der Fall, wenn die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes im Prozessrecht keine Stütze hat (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17, zitiert nach Juris) oder die Ablehnung gegen das Willkürverbot verstößt (vgl. Cierniak/Niehaus DAR 2018, 181, 185). Dafür ist Durchgreifendes nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung der Verteidigung sind konkrete Anhaltspunkte für die vielmehr lediglich allgemein und „ins Blaue hinein“ behaupteten Messfehler bezüglich einer etwaigen Nichtübereinstimmung der öffentlichen Schlüssel zwischen Falldatensatz und Messgerät aufgrund eines Programmierungsfehlers nicht dargelegt, so dass sich das Amtsgericht zu einer Erweiterung der Beweisaufnahme durch Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht gedrängt sehen musste. Soweit der Betroffene geltend macht, er habe der Verwertung des Messergebnisses „auch mit der Begründung“ widersprochen, dass das Fahrzeug „die Fotolinie deutlich überfahren“ habe, genügt das Rügevorbringen bereits nicht den Begründungsanforderungen, weil schon nicht dargetan ist, welche Relevanz sich für die Beurteilung der Messung daraus konkret ergeben soll (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

Sofern die Verteidigung der Sache nach auch eine Verletzung des fairen Verfahrens beanstanden will – was im Hinblick auf die Höhe der verhängten Geldbuße ohnehin nur unter dem Gesichtspunkt einer hier nicht ersichtlichen Verletzung rechtlichen Gehörs zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde führen könnte –, weil zur Prüfung des Messverfahrens weitere nicht bei der Akte befindlichen amtlichen Messunterlagen nicht zur Verfügung gestellt worden seien (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 338 Nr. 8 StPO; vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 8. September 2016 – [2 Z] 53 Ss-OWi 343/16 [163/16], BeckRS 2016, 20683; BVerfG DAR 2021, 385; Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, DAR 2019, 582; Niehaus DAR 2021, 377ff.), wäre mit der Antragsbegründung konkret darzulegen gewesen, dass die Verteidigung die Beiziehung konkreter Messunterlagen gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend gemacht und dieses Begehren gegebenenfalls im Verfahren nach § 62 OWiG weiterverfolgt hat (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschl. v. 17. März 2021 – 1 OLG 332 SsBs 23/20; BVerfG, Beschl. v. 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18, zit. nach Juris mwN). Hierzu jedoch ist hinreichend Konkretes nicht vorgetragen.

Die vom Betroffenen thematisierte Frage, inwieweit Rohmessdaten gespeichert werden müssen, berührt bereits nicht den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 23. März 2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 82/22). Im Übrigen ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass der Messvorgang nicht rekonstruierbar sein muss und die Verwertbarkeit des Messergebnisses nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit anhand gespeicherter Messdaten abhängt (vgl. zuletzt OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14. März 2022 – 2 RBs 31/22, zit. nach Juris mit Rechtsprechungsnachweisen). Letztlich kommt es auch darauf nicht an, weil weder dargetan, noch sonst ersichtlich ist, dass der Betroffene sich um die Zurverfügungstellung vorhandener (Roh-)Messdaten bemüht hat.“

Wenn der Zulassungsantrag überhaupt eine Chance haben soll, dann muss man als Verteidiger schon die Begründungsanforderungen beachten und vor allem. Erfüllen 🙂 .

OWi I: Selbstbelastungsfreiheit im OWi-Verfahren, oder: Das BVerfG und das Auskunftsverweigerungsrecht

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Ich stelle dann heute mal wieder drei OWi-Entscheidungen vor. Derzeit ist es im (straßenverkehrsrechtlichen) Bußgeldverfahren recht ruhig. Hoffentlich nicht die Ruhe vor dem Sturm 🙂 .

Ich beginne mit dem schon etwas älteren BVerG, Beschl. v. 25.01.2022 – 2 BvR 2462/18. Das BVerfG nimmt in ihm zur Selbstbelastungsfreiheit im Bußgeldverfahren Stellung. Folgender Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist geschäftsführender Inhaber eines Speditionsunternehmens. Die Polizei kontrollierte ein Lastfahrzeug seines Unternehmens und stellte dabei fest, dass das Fahrzeug nicht mit Feuerlöschgeräten ausgerüstet war und seit mehr als zwei Jahren keine Nachprüfung eines Kontrollgerätes stattgefunden hatte. Das Unternehmen des Beschwerdeführers wurde „zur Ermittlung des für den Sachverhalt Verantwortlichen“ zur Mitteilung aufgefordert, wer im Sinne des § 9 Abs. 1, Abs. 2 OWiG die für die Einhaltung der gefahrgutrechtlichen Vorschriften im Betrieb verantwortliche und beauftragte Person sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Unternehmer oder Inhaber des Betriebs gemäß § 9 Abs. 2, Abs. 5 GGBefG zur vollständigen und unverzüglichen Auskunftserteilung verpflichtet sei und die Verletzung dieser Auskunftspflicht gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 GGBefG mit einer Geldbuße geahndet werden könne.

Daraufhin teilte eine Fahrzeugführer N mit, er sei die für den Verstoß verantwortliche Person. Hierauf erwiderte die Polizei mit einem an das Unternehmen gerichteten Schreiben, der Fahrzeugführer könne rechtlich nicht der verantwortliche Beförderer sein und habe keine Unternehmenspflichten. Da offensichtlich im Betrieb keine verantwortliche beauftragte Person bestellt sei, sei der Beschwerdeführer als eingetragener Geschäftsführer selbst verantwortlich und werde aufgefordert, seine vollständigen Personalien in den beiliegenden Anhörungsbogen einzutragen und diesen unverzüglich zurückzusenden. Der Beschwerdeführer teilte seine Personalien mit. Zudem gab er an, dass im Betrieb eine verantwortlich beauftragte Person bestellt sei. Da er aber weder sich selbst noch einen Familienangehörigen belasten müsse oder wolle, mache er von seinem „Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 9 GGBefG“ Gebrauch.

Gegen den Beschwerdeführer wurde vom AG wegen vorsätzlich nicht erteilter Auskunft gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 5, § 10 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 GGBefG in Verbindung mit § 9 Abs. 2, § 17 OWiG zu einer Geldbuße verurteitl. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde hatte beim OLG Bamberg keinen Erfolg. Das BVerfG hat es dann aber „gerichtet“:

„1. Die in Bezug auf die fachgerichtlichen Entscheidungen zulässige und annahmefähige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 14. Juli 2017 (Ziffern 1 und 4 des Tenors) und der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. Juni 2018 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Selbstbelastungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung. Denn durch rechtlich vorgeschriebene Auskunftspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage gegebenenfalls ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden (vgl. BVerfGE 56, 37 <41>). Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist zum einen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie zum anderen im Rechtsstaatsprinzip verankert und wird von dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG umfasst (vgl. BVerfGE 38, 105 <113 f.>; 55, 144 <150 f.>; 56, 37 <41 ff.>; 80, 109 <119 ff.>; 95, 220 <241>; 109, 279 <324>; 110, 1 <31>; 133, 168 <201 Rn. 60>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 34 m.w.N.). Ein Zwang, durch selbstbelastendes Verhalten zur eigenen strafrechtlichen Verurteilung beitragen zu müssen, wäre mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar (vgl. BVerfGE 80, 109 <121>; 95, 220 <241 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 190).

Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren. Dazu gehört, dass im Rahmen des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen. Der Beschuldigte beziehungsweise Betroffene muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er mitwirkt (vgl. BVerfGE 38, 105 <113>; 56, 37 <43>; 133, 168 <201 Rn. 60>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 35).

Aus der Verfassung ergibt sich zwar kein ausnahmsloses Gebot, dass niemand zu Auskünften oder zu sonstigen Handlungen gezwungen werden darf, durch die er eine von ihm begangene strafbare Handlung offenbart (vgl. BVerfGE 56, 37 <42, 49>; BVerfGK 4, 105 <108>; 18, 144 <150>). Handelt es sich um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung ist aber nur dann zulässig, wenn sie mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot einhergeht (vgl. BVerfGE 56, 37 <49 f.>; BVerfGK 4, 105 <108>). Auch bloße Mitwirkungspflichten verletzen das Verbot der Selbstbelastung nicht, wenn durch sie Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte im Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren nicht berührt werden (vgl. BVerfGE 55, 144 <150 f.>; BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. Dezember 1981 – 2 BvR 1172/81 -, juris, Rn. 7; Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 310). Daher schützt das Verbot der Selbstbelastung nicht davor, dass Erkenntnismöglichkeiten, die den Bereich der Aussagefreiheit nicht berühren, genutzt werden und insoweit die Freiheit des Betroffenen eingeschränkt wird (vgl. BVerfGE 55, 144 <151>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 310). So betreffen gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten nicht den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit, sondern können zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 81, 70 <97>; BVerfGK 17, 253 <264>).

Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist aber ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen (vgl. BVerfGE 56, 37 <49>; BVerfGK 1, 156 <157>; 15, 457 <471>; 17, 253 <264>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 35). Die in den jeweiligen Prozessordnungen und sonstigen Gesetzen vorgesehenen Aussageverweigerungsrechte dienen der Verwirklichung des rechtsstaatlichen Grundsatzes, dass niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen (vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2).

Dies gilt sowohl für die strafprozessuale Aussagefreiheit gemäß §§ 136, 163a, 243 Abs. 5 Satz 1 StPO (vgl. BVerfGE 56, 37 <43>), die gemäß § 46 Abs. 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung findet (vgl. Lutz, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 55 Rn. 15), als auch für das in § 9 Abs. 4 GGBefG normierte Auskunftsverweigerungsrecht (vgl. Begründung des Bundesrates zum Ergänzungsvorschlag zu § 9 <Absatz 4> des Gesetzes vom 6. August 1975, zitiert aus Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 95; zur ähnlich konzipierten Regelung in § 4 Abs. 4 FPersG vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2). Die in § 9 GGBefG angeordnete behördliche Überwachungsbefugnis und die entsprechenden Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Verantwortlichen dienen dem Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von der Beförderung gefährlicher Güter ausgehen (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 96 Rn. 1; vgl. auch § 1, S. 29 Rn. 30). Um die Wirksamkeit der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten und damit der Überwachungsmaßnahmen sicherzustellen, ist eine Verweigerung der Auskunftserteilung und Mitwirkung grundsätzlich bußgeldbewehrt (vgl. Begründung des Bundesrates zum Ergänzungsvorschlag zu § 10 <neuer Absatz 1 Nr. 5>, zitiert aus: Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 10, S. 116). Jedoch darf der zur Auskunft Verpflichtete nach § 9 Abs. 4 GGBefG die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn oder einen nahen Angehörigen der Gefahr straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verfolgung aussetzen würde. Damit überträgt die Norm die allgemeinen prozessualen Grundsätze der Zeugenvernehmung auf das Überwachungsverfahren in Bezug auf den an sich auskunftsverpflichteten Verantwortlichen nach § 9 GGBefG (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 102 Rn. 15). Die Einschränkung der Auskunftspflicht bezieht sich auf Verfahren wegen möglicher Verstöße bei der Beförderung gefährlicher Güter. Deshalb kann der Auskunftspflichtige eine Antwort verweigern, wenn er sich dadurch der Gefahr eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens nach § 10 Abs. 1 GGBefG aussetzen würde (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 103 Rn. 16, 18).

Nichts anderes ergibt sich aus der von den Fachgerichten herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1984 (vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2). Zum einen betraf das damals festgesetzte Bußgeld eine verweigerte Herausgabe von Unterlagen und nicht eine verweigerte Auskunft. Gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten betreffen den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit auch dann nicht, wenn die zu erstellenden oder vorzulegenden Unterlagen auch zur Ahndung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten verwendet werden dürfen. Vielmehr können solche anderweitigen Mitwirkungspflichten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts namentlich zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGK 17, 253 <264>). Zum anderen bestätigt die Entscheidung das nach § 4 Abs. 4 Fahrpersonalgesetz (entspricht § 9 Abs. 4 GGBefG) bestehende Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung den Betroffenen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde. Die weiteren Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts bezogen sich auf solche Fragen, mit deren Beantwortung sich der Betroffene nicht selbst belastet.

b) Im vorliegenden Verfahren verstößt die Verurteilung wegen Nichterteilung einer Auskunft gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit.

Der Beschwerdeführer war aufgrund der Gefahr einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfolgung wegen eines vorherigen gefahrgutrechtlichen Verstoßes nicht zur Auskunft über seine Verantwortlichkeit verpflichtet. Denn das polizeiliche Auskunftsersuchen diente nicht der allgemeinen Überwachung von gefahrgutbefördernden Transportunternehmen und war damit nicht präventiv auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerichtet. Vielmehr verfolgte die Polizeiinspektion bereits mit dem ersten Anhörungsschreiben ersichtlich repressive Ziele, namentlich die Verfolgung von zwei zuvor begangenen Ordnungswidrigkeiten. Dies zeigt sich bereits darin, dass schon das erste Anhörungsschreiben vom 15. Dezember 2014 eine Anlage namens „Anhörung wegen einer Ordnungswidrigkeit“ enthielt, das Schreiben den Vorwurf begangener Ordnungswidrigkeiten erhob und eine Belehrung nach § 55 OWiG beigefügt war. Dieses Ordnungswidrigkeitenverfahren richtete sich spätestens mit Schreiben vom 13. Juli 2015 gegen den Beschwerdeführer persönlich, als diesem ein nicht an sein Unternehmen, sondern an ihn persönlich adressiertes Schreiben zur „Anhörung des Betroffenen wegen einer Ordnungswidrigkeit“ bekanntgegeben wurde, wobei die Belehrung nun mit der Belehrung zu § 55 OWiG begann. Im letzten Anhörungsschreiben vom 21. September 2015 teilte die Polizeiinspektion dem Beschwerdeführer mit, dass er selbst als eingetragener Geschäftsführer für die Verstöße nach dem Gefahrgutrecht angezeigt werde, sollte er nicht die Personalien der beauftragten Person mitteilen. Die Polizeiinspektion zog den Beschwerdeführer folglich nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG ernstlich als Täter der verfahrensgegenständlichen Ordnungswidrigkeiten in Betracht. Darüber hinaus zeigt sich der Verfolgungswille der Polizeiinspektion deutlich in der späteren Realisierung dieser Verfolgungsgefahr, als der Beschwerdeführer zeitgleich nicht nur einen Bußgeldbescheid wegen der verweigerten Auskunft, sondern auch wegen der gefahrgutrechtlichen Verstöße in Bezug auf den Feuerlöscher und das Kontrollgerät erhielt. Durch den Erlass dieses Bußgeldbescheids gab die Polizeiinspektion eindeutig zu erkennen, dass sie den Beschwerdeführer als Verantwortlichen für die gefahrgutrechtlichen Verstöße ansah. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer war daher von Beginn an repressiv auf die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit gerichtet, sodass der Beschwerdeführer nicht verpflichtet war, sich im laufenden Ordnungswidrigkeitenverfahren durch das Eingeständnis seiner Verantwortlichkeit für die bußgeldbewehrten Verstöße gegen das Gefahrgutbeförderungsgesetz selbst zu bezichtigen. Darüber hinaus war sein Auskunftsverweigerungsrecht in § 9 Abs. 4 GGBefG gesetzlich verankert.

Die Ausübung dieses Rechts darf nicht – wie hier geschehen – mit einer Geldbuße sanktioniert werden, weil hiervon eine nötigende Wirkung ausgeht und der Betroffene andernfalls gezwungen wäre, zur Vermeidung einer (weiteren) Geldbuße auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu verzichten.

Soweit die Generalstaatsanwaltschaft meint, der Beschwerdeführer habe sich „nur“ im gefahrgutrechtlichen Verfahren in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät, nicht aber im auskunftsrechtlichen Verfahren ausdrücklich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen, greift dieser Einwand nicht durch. Die eindeutige Erklärung des Beschwerdeführers mit E-Mail vom 25. August 2015, von nun an im Hinblick auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu schweigen und keine weiteren Auskünfte mehr zu erteilen, brauchte nicht bei jedem neuen Anhörungsschreiben „aktualisiert“ zu werden. Darüber hinaus bezog sich das Auskunftsverweigerungsrecht auf den gefahrgutrechtlichen Verstoß in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät. In diesem Verfahren hat der Beschwerdeführer berechtigterweise sein Auskunftsverweigerungsrecht ausgeübt.“

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Gibt es nach gescheiterter Einstellung noch einmal eine Verfahrensgebühr?

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Am Freitag hatte ich gefragt: Ich habe da mal eine Frage: Gibt es nach gescheiterter Einstellung noch einmal eine Verfahrensgebühr?

Darauf hatte ich dem Kollegen, der die Antwort auf seine Frage vergeblich im RVG-Kommentar gesucht hatte, geantwortet:

„Moin, warum schauen Sie denn nicht bei Rn. 117? Die Rechtpflegerin hat Recht.“

Tja, und was steht da nun? Ich könnte ja jetzt einfach auf <<Werbemodus an>> Bestellmöglichkeit auf meiner HP verweisen – vgl. hier – <<Werbemodus aus>>. Das wäre aber vielleicht ein wenig sehr knapp.

Daher hier die Ausführungen bei der Rn. 117:

„6.   Wiederaufnahme des Verfahrens nach gescheiterer Einstellung gem. §§ 153a, 154 StPO, § 37 BtMG

Wird das Verfahren bei Erfüllung von Auflagen oder Weisungen nach § 153a StPO (vorläufig) eingestellt und, nachdem der Beschuldigte die ihm gemachten Auflagen oder Weisungen nicht erfüllt hat, wiederaufgenommen, handelt es sich bei dem „wiederaufgenommenen“ Verfahren nicht um eine neue Angelegenheit mit der Folge, dass ggf. Verfahrensgebühren noch einmal entstehen würden (§ 15 Abs. 2). Das Verfahren bleibt vielmehr dieselbe gebührenrechtliche Angelegenheit (Burhoff, RVGreport 2014, 2, 3). Der ggf. für den Verteidiger entstehende Mehraufwand ist gem. § 14 Abs. 1 S. 1 bei der Bemessung der Rahmengebühr geltend zu machen (vgl. Teil A: Rahmengebühren [§ 14], Rdn 1769; zur Einstellung nach § 153a StPO eingehend Burhoff/Schneider, EV, Rn 2085 ff.).

Entsprechendes gilt für die Wiederaufnahme nach § 154 Abs. 2 StPO (zur Einstellung nach § 154 StPO eingehend Burhoff/Schneider, EV, Rn 2136 ff.).

Hinweis:

Etwas anderes folgt nicht aus § 17 Nr. 13. Gemeint ist mit „wiederaufgenommene Verfahren“ dort das Verfahren nach einer Wiederaufnahme i.S.d. §§ 359 ff. StPO bzw. § 85 OWiG (vgl. unten Rdn 141).“

Corona II: Masketragen und Abstand in der HV, oder: Die Sicherungsverfügung des Vorsitzenden

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Und als zweite Entscheidung dann noch einmal eine Sicherungsverfügung für die Hauptverhandlung. Dazu hat das OLG München im OLG München, Beschl. v. 17.05.2022 – 4d Ws 166/22 – Stellung genommen.

Folgender Sachverhalt: Die Vorsitzende der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II hat am 22.06.2021 für eine am 23.08.2021 im Sitzungssaal in der S.straße 10 in M. beginnende Hauptverhandlung eine Sicherungsverfügung erlassen, in der unter Ziffer III. besondere Regelungen zur Vermeidung von Infektionen mit dem Erreger SARS-CoV-2 enthalten sind.

Unter Ziffer III.1. wird ausgeführt, dass nach dem aktuellen Hygieneplan (Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin M. vom 31.08.2020 bzw. 02.03.2021) im Zuschauerbereich des Sitzungssaals insgesamt 23 Sitzplätze für die Saalöffentlichkeit zur Verfügung stünden, von denen 11 Sitzplätze für Journalisten reserviert seien. Weiter enthält die Verfügung den Hinweis, dass ausschließlich die als solche gekennzeichneten Sitzplätze benutzt werden dürften. Die dazwischenliegenden Plätze hätten zur Einhaltung des Sicherheitsabstandes von 1,5 m frei zu bleiben; ihre Benutzung sei untersagt.

In Ziffer III.2. wird im Zuhörerbereich des Sitzungssaals wie auch im Sicherheitsbereich um den Sitzungssaal für das Sicherheitspersonal sowie für alle Zuhörer und Pressevertreter das stetige Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes (Maske der Schutzklasse FFP 2/KN 95 ohne Ausatemventil oder vergleichbar) vor Beginn, während und nach Ende der Sitzung angeordnet.

Ziffer II.3. regelt für alle Verfahrensbeteiligten (Gericht, Protokollführer, Staatsanwaltschaft, Nebenkläger, Nebenklägervertreter, Sachverständige, Verteidiger und Angeklagte) das Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes, und zwar entweder das Tragen einer OP-Maske oder einer Maske der Schutzklasse FFP 2/KN 95 ohne Ausatemventil, im Sitzungssaal. Ausgenommen von dieser Pflicht sind diejenigen Verfahrensbeteiligten, denen während der Hauptverhandlung das Wort zu mündlichen Ausführungen erteilt ist.

Weiter behält sich die Vorsitzende vor, im Einzelfall unter bestimmten näher dargelegten Umständen die Maskentragungspflicht für einzelne Verfahrensabschnitte und/oder einzelne Verfahrensbeteiligte aufzuheben. Zudem wird geregelt, dass Zeugen und Sachverständige ihre Zeugenaussage/Gutachtenserstattung ohne Mund-Nasen-Bedeckung abzugeben hätten.

Mit Verfügung vom 03.05.2022 hat die Vorsitzende der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II die Verpflichtung zur stetigen Maskentragungspflicht für das Sicherungspersonal, die Zuhörer und Pressevertreter in Ziffer III.2. der Sicherungsverfügung vom 22.06.2021 dahingehend modifiziert, dass nunmehr auch für sie und damit nunmehr für alle im Sitzungssaal anwesenden Personen das Tragen einer medizinischen Maske im Sinne einer sogenannten OP-Maske ausreichend sei.

Dagegen die Beschwerde des Angeklagten und der Verteidiger, die beim OLG keinen Erfolg hatte.

Das OLG sieht das Rechtsmittel als zulässig, aber unbegründet an:

„Die Anordnung, zum Schutz vor einer COVID-19-Infektion in der Hauptverhandlung eine medizinische Maske zu tragen, ist vorliegend von der Ermächtigung der Vorsitzenden zur Ausübung der Sitzungspolizei gemäß § 176 Abs. 1 GVG gedeckt und beruht auch auf einer fehlerfreien Ausübung des Ermessens der Vorsitzenden. Die Regelung des § 176 Abs. 1 GVG ermächtigt zu allen Maßnahmen, die für den ungestörten und gesetzesmäßigen Ablauf der Sitzung nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich sind (KK-Diemer, StPO, § 176 GVG Rdn.1).

Dazu zählen auch Maßnahmen zum Schutz der Verfahrensbeteiligten, sodass sich die Ermächtigung auch auf Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem Coronavirus bezieht (OLG Celle, aaO; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28.09.2020 – 1 BvR 1948/20 -, juris).

Der Vorsitzenden kommt dabei ein weiter Ermessensspielraum zu, wobei sich das Ermessen darauf bezieht, ob überhaupt eingeschritten wird und in welcher Weise auf eine drohende Störung unter Abwägung der betroffenen Rechtsgüter bei Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu reagieren ist (OLG Celle aaO).

Die dabei ergangene Entscheidung unterliegt im Beschwerdeverfahren nur der Prüfung, ob die Vorsitzende ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt und den Zweck sowie die Grenzen des Ermessens beachtet hat. Verwehrt ist dem Beschwerdegericht die Überprüfung der Zweckmäßigkeit sitzungspolizeilicher Maßnahmen (OLG Celle aaO; OLG Stuttgart aaO).

Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Sicherungsverfügung vom 22.06.2021 und ihre Abänderung in Ziffer III. 2. mit Verfügung vom 03.05.2022 der Nachprüfung stand.

Es begegnet keinen Bedenken, dass die Vorsitzende das Tragen einer medizinischen Maske in der Hauptverhandlung zum Schutz vor einer Coronainfektion für geeignet hält, das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus während der Sitzung zu reduzieren. Dies entspricht der Einschätzung des Robert-Koch-Instituts, wonach das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung das Infektionsrisiko verringern könne (vergleiche Robert-Koch-Institut, Risikobewertung zu COVID-19 vom 05.05.2022). Somit ist die Anordnung geeignet, mögliche Infektionen im Gerichtssaal zu verhindern oder die Wahrscheinlichkeit dafür zu reduzieren.

Es ist auch die Annahme der Vorsitzenden nicht zu beanstanden, dass in geschlossenen Räumen neben der durch die Gerichtsverwaltung bereits festgelegten Mindestabstandsregelung und der Höchstzahlbestimmung anwesender Personen keine Maßnahmen zur Verfügung stehen, die ergänzend zu den Anordnungen der Verwaltung das Ansteckungsrisiko ebenso wirksam wie das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung reduzieren könnten.

Eine Mund- und Nasenbedeckung wird in geschlossenen Räumen einen höheren Schutz vor Infektionen bieten als das bloße Einhalten eines Abstands und das Lüften der Räumlichkeiten bei gleichzeitiger Beschränkung der Anzahl der anwesenden Personen.

Dies entspricht auch den Ausführungen des Robert-Koch-Instituts in seiner Risikobewertung zu COVID-19 vom 05.05.2022, wonach angesichts der weiterhin hohen Zahl von Neuinfektionen die konsequente kumulative Einhaltung von Hygiene, Lüften, Abstandhalten, Kontakteinschränkung und Maskentragung zur Reduktion des Infektionsrisikos erforderlich sind. Die Maßnahmen weisen nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts die höchste Effektivität auf, wenn sie bei einem Zusammentreffen von allen anwesenden Personen eingehalten werden.

Da danach mehrere in Betracht kommende aber noch nicht ausreichende Maßnahmen bereits durch die vorgegebenen Regelungen der Gerichtsverwaltung ausgeschöpft sind, bleibt zur weiteren Reduzierung des Risikos die Anordnung der Mund- und Nasenbedeckung. Die kumulative Anwendung dieser Maßnahmen entspricht den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts.

Die Vorsitzende ist im Rahmen ihrer Ermessensausübung rechtsfehlerfrei auch davon ausgegangen, dass die Anordnung der Mund- und Nasenbedeckung verhältnismäßig im engeren Sinne und damit angemessen ist.

Die Anordnung enthält eine geringfügige Belastung für die Beschwerdeführer und die Sitzungsteilnehmer. Das Tragen einer Maske ist grundsätzlich weder gesundheitsgefährdend noch ruft es körperliche Schmerzen oder gleichwertige nichtkörperliche Beeinträchtigungen hervor. Für den Einzelfall sieht die Anordnung Befreiungsmöglichkeiten vor. Dieser eher geringen Belastung der Sitzungsteilnehmer hat die Vorsitzende die Gefahr einer COVID-19-Infektion gegenübergestellt und dabei das Infektionsschutzinteresse für überwiegend gehalten. Dabei hat die Vorsitzende nicht verkannt, dass mittlerweile insgesamt das Infektionsgeschehen rückläufig ist, die bayerische Staatsregierung im öffentlichen Leben insbesondere hinsichtlich der Maskenpflicht die Coronamaßnahmen gelockert hat und die weiteren Hygienemaßnahmen während der Sitzungen ebenfalls einen Schutz bieten. Es begegnet rechtlich jedoch keinen Bedenken, dass die Vorsitzende diesen Umständen bei ihrer Abwägung letztlich weniger Gewicht beigemessen hat als den Risiko erhöhenden, sich nach wie vor in einer hohen Infektionsgefahr manifestierenden Gesichtspunkten.

Diese Umstände rechtfertigen es, die Anordnung der Vorsitzenden als angemessen anzusehen. Die Hauptverhandlung ist das Zusammentreffen einer Vielzahl von Personen in einem geschlossenen Raum mit einem vergleichsweise hohen Infektionsrisiko. Auch der Umstand, dass alle Verfahrensbeteiligten zur Teilnahme an der Hauptverhandlung verpflichtet sind, ohne selbst die Hygienemaßnahmen im Saal wesentlich beeinflussen zu können, spricht für die Schaffung eines hohen Schutzes. Somit war die Vorsitzende berechtigt, unter Ausübung ihres Ermessens, die angefochtene Anordnung gemäß § 176 Abs. 1 GVG zu verfügen.

Der Anordnung steht auch nicht die Regelung in § 176 Abs. 2 GVG entgegen, deren Satz 1 bestimmt, dass an der Verhandlung beteiligte Personen ihr Gesicht während der Sitzung weder ganz noch teilweise verhüllen dürfen.

Denn § 176 Abs. 2 Satz 2 GVG sieht weiter vor, dass die Vorsitzende Ausnahmen vom Verbot des Verhüllens gestatten kann, wenn und soweit die Kenntlichmachung des Gesichts weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung notwendig ist. In Ausübung pflichtgemäßen Ermessens kann die Vorsitzende daher Ausnahmen von § 176 Abs. 2 Satz 1 GVG bestimmen.

§ 176 Abs. 2 Satz 1 GVG bezweckt keineswegs eine Beschränkung der Befugnisse des Vorsitzenden zur Aufrechterhaltung der Ordnung (BayObLG, Beschluss vom 09.08.2021, BeckRS 2021, 25633). Vielmehr ging es dem Gesetzgeber um eine Entlastung des Vorsitzenden, der nicht mehr verpflichtet sein sollte, ein Verbot der Gesichtsverhüllung im Interesse der Sachaufklärung aussprechen und gegebenenfalls begründen zu müssen (Bay ObLG aaO).

Der sitzungspolizeilichen Anordnung der Vorsitzenden stehen auch nicht die Vorschriften der Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2 Satz 3, Art. 15 Satz 3 BayRiStAG i.V.m. Art. 75 BayBG entgegen, die vorsehen, dass Richter, Staatsanwälte und ehrenamtliche Richter bei Ausübung des Dienstes ihr Gesicht nicht verhüllen dürfen, es sei denn dienstliche Gründe erforderten dies. Eine sitzungspolizeiliche Anordnung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Sitzungssaal, die sich auf vernünftige Gründe des Gemeinwohls stützt, um die Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Infektion zu senken, stellt einen dienstlichen Grund im Sinne dieser Vorschriften zur teilweisen Verhüllung des Gesichts dar.

Die Befugnis zu sitzungspolizeilichen Anordnungen der Vorsitzenden bezieht sich auch auf die am Strafverfahren beteiligten Verteidiger (Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 176 Rdn.10).

Bei Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen der Vorsitzenden kommen bei Ihnen jedoch Zwangsmaßnahmen gemäß § 177 GVG regelmäßig nicht zur Anwendung, da der Gesetzgeber erwartet, dass sich Verteidiger – wie alle am Verfahren beteiligten Organe der Rechtspflege – an rechtmäßige sitzungspolizeiliche Anordnungen halten.

Es begegnet im Hinblick auf die angeordneten Maßnahmen der Sicherungsverfügung keinen rechtlichen Bedenken, dass die Sechzehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 01.04.2022 und das Infektionsschutzgesetz vom 20.03.2022 für eine Hauptverhandlung vor Gericht weder eine Verpflichtung zum Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske noch die weiteren angeordneten Maßnahmen vorsehen. Die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung enthält dazu lediglich allgemeine Verhaltensempfehlungen.

Die Sicherungsverfügung beruht auf § 176 Abs. 1 GVG und nicht auf dem Infektionsschutzgesetz und auch nicht auf der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Letztere haben für ihren Regelungsbereich die schützenswerten wirtschaftlichen Interessen von Einrichtungen und Veranstaltern an einem möglichst ungehinderten Besucher- und Kundenverkehr zu berücksichtigen und gegen den Infektionsschutz abzuwägen (OLG Celle NStZ-RR 2022, 58). Bei sitzungspolizeilichen Anordnungen sind ökonomische Interessen nicht berührt. Maßgeblich sind dafür die Umstände der jeweiligen Hauptverhandlung und Gesichtspunkte des Infektionsschutzes.

Soweit die Beschwerdeführer sich gegen das Hygienekonzept für den Sitzungssaal in der S.straße 10 und damit zusammenhängend gegen die maximal zugelassene Anzahl der anwesenden Personen sowie das Mindestabstandsgebot wenden, handelt es sich nicht um eine von der Vorsitzenden der Strafkammer in der Sicherungsverfügung getroffene Regelung.

Das Abstandsgebot und die einzuhaltende Kapazitätsgrenze wurden im Rahmen des vom Präsidenten des Oberlandesgerichts M. festgelegten Hygienekonzepts durch die Gerichtsverwaltung für den Sitzungssaal bestimmt. Auch die Auswahl und Zuweisung des Sitzungssaals durch die Gerichtsverwaltung wird nicht durch die Sicherungsverfügung der Vorsitzenden geregelt.