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Heute mache ich dann schon wieder einen Pflichtverteidigungstag. Dieses Mal aber nicht, weil sich so viele Entscheidungen angesammelt haben, sondern um eine Entscheidung vorstellen zu können, über die ich dann doch sehr erstaunt war.
Die Entscheidung kommt vom OLG Bamberg. Der ein oder andere wird sich jetzt vielleicht sagen: Das kann dann nichts Gutes sein. Dieses Mal hate er sich dann aber getäuscht, denn es ist etwas „Gutes“ und – zumindest für mich – auch eine überraschende Entscheidung aus dem Problemkreis: Rückwirkende Bestellung, nämlich:
Das OLG Bamberg hat im OLG Bamberg, Beschl. v. 29.04.2021 – 1 Ws 260/21– „rückwirkend bestellt. Der Angeklagte war vom Tatvorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge freigesprochen worden. Gegen das Urteil hatte die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Die Akten wurden der Berufungskammer am 06.10.2020 vorgelegt. Mit Schriftsatz vom 13.10.2020 zeigte sich Rechtsanwalt Dr. F. unter Vorlage einer Vollmacht als Verteidiger an und beantragte, seinem Mandanten als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Die bisherige Wahlverteidigerin erklärte gleichzeitig die Mandatsniederlegung. Mit Verfügung vom 15.10.2020, beim Landgericht eingegangen am 21.10.2020, erklärte die Staatsanwaltschaft dann die Rücknahme ihrer der Berufung. Das LG hat den Beiordnungsantrag zurückgewiesen. Das OLG Bamberg sieht das anders:
“ ….c) Teilweise wird die Ansicht vertreten, die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers sei jedenfalls dann zulässig, wenn die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung über den Beiordnungsantrag wesentlich verzögert wurde (OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020 – Ws 962/20 m.w.N. bei juris; s. auch Meyer-Goßner/Schmitta.O. § 142 Rn. 20).
d) Der Senat schließt sich unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (OLG Bamberg, Beschl. v. 15.10.2007 – 1 Ws 675/07 = NJW 2007, 3796 = VRS 113 Nr 121 = VRS 113, 344) der letztgenannten Ansicht auch für den hier vorliegenden Fall an, dass das Verfahren bereits seinen rechtskräftigen Abschluss gefunden hat, der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aber ordnungsgemäß vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde.
aa) Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU ist die Annahme eines Rückwirkungsverbotes nicht mehr tragfähig. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers dient nun nicht mehr ausschließlich dazu, ihm für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, sondern mittelbar auch den Interessen eines Angeklagten oder Verurteilten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung.
Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/1919/EU haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Über den rechtzeitigen und praktisch wirksamen Zugang zur Wahrnehmung der Verteidigerrechte hinaus (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU) regelt die Richtlinie 2016/1919/EU nunmehr also auch die finanziellen Grundlagen und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden soll (OLG Nürnberg a.a.O.). Die effektive Absicherung der Verfahrensbeteiligten würde unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber zu einem Zeitpunkt getroffen wurde, an dem die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers obsolet geworden war und zwar unabhängig davon ob die Entscheidung verzögert getroffen wurde (OLG Nürnberg a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 142 StPO Rn. 20) oder nicht, wie im vorliegenden Fall. Durch die Schaffung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass es seine Absicht war, jedem Beschuldigten ab der Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit der Einholung kompetenten, d.h. anwaltlichen Rats zwecks bestmöglicher Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung zu stellen. Auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers ist, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, so liegt doch die Befürchtung nicht fern, dass einzelne Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Antragsstellung bis zu Ihrer Bestellung nicht im gleichen Maße für ihren Mandanten tätig werden, wie dies bei einem Wahlverteidiger mit einem solventen Mandanten der Fall wäre, wenn sie befürchten müssten, letztlich keine Vergütung zu erhalten. Die Möglichkeit der rückwirkenden Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellt sich somit als Instrument dar, um dem oder auch nur dem Verdacht eines solchen Verhaltens entgegenzuwirken.
bb) Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Warum für deren rückwirkende Bewilligung andere Voraussetzungen gelten sollten als für die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers, ist nicht ersichtlich.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kommt die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe beispielsweise nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO grundsätzlich nicht in Betracht. Begründet wird dies damit, dass die Förderung eines noch nicht abgeschlossenen Verfahrens in Rede stehen muss. Aufgabe der Prozesskostenhilfe ist es nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten oder dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz kommt demgemäß die Bewilligung von Prozesskostenhilfe grundsätzlich nicht mehr in Betracht, was im Übrigen im Einklang mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 20.07.2009 (a.a.O.) steht. Etwas anderes gilt aber ausnahmsweise für den Fall, dass (1.) vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt wurde, der aber (2.) nicht bzw. nicht vorab verbeschieden wurde und (3.) der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (st.Rspr: vgl. zuletzt BGH Beschl. v. 18.03.2021 – 5 StR 222/20 m.w.N. [bei juris]). Der vorgenannten Rechtsprechung liegt die Überlegung zugrunde, dass nach dem Abschluss einer Instanz die ordnungsgemäße Vertretung eines Mandanten nicht mehr nachgeholt werden kann und eine nachträgliche Verpflichtung der Staatskasse daher regelmäßig ausscheidet. Der Rechtsprechung liegt weiter die Überlegung zugrunde, dass, sofern der Betroffene einen Antrag rechtzeitig gestellt hat und alle formalen Voraussetzungen für dessen Bewilligung erfüllt sind, es ihm und indirekt dem von ihm beauftragten Anwalt finanziell nicht zum Nachteil gereichen soll, dass aus von ihnen nicht zu vertretenden und einzig im Verantwortungsbereich der Justiz liegenden Umständen mit einer Entscheidung hierüber bis zum Abschluss der Instanz zugewartet worden war.
Die skizzierte Interessenlage ist im Falle der Bestellung eines Pflichtverteidigers die gleiche. Sachliche Gründe, die die unterschiedliche Behandlung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und eines Antrags auf Beiordnung eines Verteidigers rechtfertigen könnten, sind – auch vor dem Hintergrund, dass die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Bestellung eines Pflichtverteidigers gleichwertige Alternativen darstellen, soweit es um die Verschaffung des Zugangs eines mittellosen Angeklagten zu professioneller Verteidigung geht – nicht ersichtlich.“
Tja, wer hätte damit gerechnet? Aber wie hat Ktja Ebstein in den 70-iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon (so schön?) gesungen: „Wunder gibt es immer wieder.