Archiv für den Monat: Mai 2021

OWi III: Verwerfungsurteil und Verfahrensrüge, oder: Ätsch-Effekt bzw. „Schaut her, wie schlau wir sind.“

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Und dann noch die dritte Entscheidung, der OLG Koblenz, Beschl. v. 27.04.2021 – 3 OWi 6 SsBs 59/21. Gegenstand der Entscheidung ist eine Rechtsbeschwerde gegen ein gemäß § 74 Abs. 2 OWiG ergangenes Verwerfungsurteil. Das AG hat den Einspruch verworfen, da der nicht entbundene Betroffene in der Hauptverhandlung nicht erschienen war. Das AG hatte aber dabei nicht dazu Stellung genommen, dass der Verteidiger noch am Tag der Hauptverhandlung, die für 13.00 Uhr terminiert war, mit um 10:07 Uhr eingegangenem Schreiben durch eine Büroangestellte des Verteidigers in dessen Auftrag um Aufhebung des Termins ersucht hatte, weil der Verteidiger erkrankt sei. Das Schreiben hatte den zuständigen Richter erst im Nachgang zur Hauptverhandlung erreicht.

Das OLG sieht die Rechtsbeschwerde als unbegründet an, weil die Verfahrensrüge nicht ausreichend begründet sei. Dazu führt es aus:

„Gleichwohl dringt der Betroffene mit diesem Einwand nicht durch. Denn eine gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig erhobene Verfahrensrüge setzt voraus, dass der zugrundeliegende Tatsachenvorgang vollständig und lückenlos vorgetragen wird (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urt. 5 StR 98/94 v. 26.07.1994 – Rn. 103 n. juris).

Hierzu gehört auch, dass keine dem Beschwerdeführer nachteilige Sachen verschwiegen werden dürfen (BGH, Beschl. 4 StR 234/13 v. 27.08.2013 – juris). Ferner ist die Darlegung der Tatsachen erforderlich, aufgrund derer die Beruhensfrage vom Rechtsbeschwerdegericht geprüft werden kann (BGH, Urt. 4 StR 604/05 v. 20.04.2006 – NStZ-RR 2007, 52 <53>).

Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft wie folgt ausgeführt:

„Es fehlen jedoch jegliche Ausführungen dazu, warum der Betroffene trotz der ausdrücklichen Anordnung seines persönlichen Erscheinens dem Termin ferngeblieben ist. Ein Betroffener hat gem. § 228 Abs. 2 StPO i. V. m. § 71 Abs. 1 OWiG keinen Anspruch darauf, im Falle der Verhinderung des Verteidigers die Aussetzung der Verhandlung zu verlangen. Das Ausbleiben des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin könnte zwar gem. § 74 Abs. 2 StPO dann als entschuldigt anzusehen sein, wenn es auf einer Information des Verteidigers beruhte, dass ein Termin nicht stattfinde (vgl. KG, Beschluss vom 09.05.2012 – 3 Ws (B) 260/12162 Ss 81/12 m.w.N.). Dies ist aber nicht vorgetragen. Insofern ist der konkrete Fall nicht mit der bisherigen Senatsrechtsprechung vergleichbar, in der das Ausbleiben des Betroffenen auf einer Mitteilung seines Verteidigers gründete und daher zu Unrecht der Einspruch als unzulässig verworfen worden war (OLG Koblenz, Beschluss vom 10. September 2009 – 2 SsRs 54/09 –, juris). Es fehlt vielmehr jeglicher Sachvortrag dazu, warum der Betroffene dem Termin unentschuldigt fernblieb und ob es zur Frage der etwaigen Aufhebung des Termins eine irgendwie geartete Kommunikation zwischen dem Betroffenen, dem Verteidiger oder dessen Büro gab. Dies aufzuklären, ist dem Rechtsbeschwerdegericht verwehrt.“

Dem tritt die Einzelrichterin des Senats nach eigener Prüfung im Ergebnis bei, wobei ergänzend wie folgt ausgeführt wird: Die Verwerfung erfolgte wegen der Abwesenheit des Betroffenen, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war. Die Beschwerdebegründung geht indes nur auf die Verhinderung des Verteidigers ein (mag diese auch nach dem Vorgesagten einen Grund für ein entschuldigtes Ausbleiben des Betroffenen bilden können), unterschlägt jedoch den Grund für das Ausbleiben des Betroffenen selbst, dem vielfache Ursachen wie beispielsweise ein Versäumnis, Unlust oder auch Zweifel an den Erfolgsaussichten und der Sinnhaftigkeit des Verfahrens zugrunde liegen können. Das Vorbringen verhält sich insofern auch nicht zur Ursächlichkeit der Verhinderung des Verteidigers für das Ausbleiben des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin. Es ist danach nicht einmal ersichtlich, ob dem Betroffenen die Verhinderung des Verteidigers überhaupt bekannt war. Der Beschwerdebegründung lässt sich nicht entnehmen, dass der Betroffene tatsächlich aufgrund der Verhinderung des Verteidigers der Hauptverhandlung fernblieb. Hierzu hätte aber vorgetragen werden müssen, andernfalls ist dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung der Beruhensfrage nicht ermöglicht. Es hätte vorgetragen werden müssen, dass sich die zur Entschuldigung des Verteidigers vorgetragenen Gesichtspunkte auf das Nichterscheinen des Betroffenen ausgewirkt haben (vgl. KG Berlin, Beschl. 3 Ws (B) 324/11 2 Ss 171/11 v. 27.06.2011). Allein auf Grundlage des Beschwerdevorbringens verbleiben vorliegend Fallkonstellationen als denkbar, in denen das Ausbleiben des Betroffenen (selbst)verschuldet war, ihm billigerweise deshalb ein Vorwurf zu machen ist, seine Verteidigungsinteressen nicht überwiegen und ein Beruhen denklogisch ausgeschlossen ist. Die Rüge ist daher nicht zulässig erhoben.

Davon zu trennen ist die Frage, ob der Betroffene bei kurzfristiger Verhinderung des Verteidigers eine eigene Entschuldigung vorbringen muss, bevor er im Termin der Hauptverhandlung ausbleibt. Soweit dies vom Brandenburgischen Oberlandesgericht verneint und daraus gefolgert wurde, dass das Verwerfungsurteil (zwingend) aufzuheben sei (Beschl. 1 Ss (OWi) 82 B/05 v. 30.05.2005 – Rn. 16 n. juris m.w.N.), lag indes der Fall zugrunde, dass der Betroffene um die kurzfristige Verhinderung des Verteidigers wusste und hierzu in der Rechtsbeschwerde ausreichend vorgetragen hat. Fehlt es dagegen, wie in der hiesigen Rechtsbeschwerde, an Informationen zur Kenntnis des Betroffenen von den Umständen, die sein Ausbleiben entschuldigen (können), bleibt im Raum stehen, dass er (subjektiv) nicht entschuldigt war. Dass in letzterem Fall trotz der Verhinderung des Verteidigers ein Verwerfungsurteil ergehen kann und der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt ist, liegt auf der Hand. Der Umfang des erforderlichen – vollständigen – Vorbringens in der Rechtsbeschwerde ist insofern gegenüber den Tatsachen, die bereits genügen, um dem Tatrichter im Bußgeldverfahren zu einer weitergehenden Prüfung im Rahmen des Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG zu veranlassen, erhöht, was bereits daraus folgt, dass im Rahmen der Prüfung einer genügenden Entschuldigung i.S.d. § 74 Abs. 2 OWiG ein bloßer „Anhalt“ genügt, in der Rechtsbeschwerde aber vollständig vorzutragen ist.“

In meinen Augen eine dieser „Herr Lehrer, „Ich weiß was“-Entscheidungen“ oder: Schaut her, wie schlau wir sind. Denn warum muss man im Einzelnen darlegen und ausführen, was das AG alles bei der Begründung seiner Verwerfung falsch oder nicht gemacht hat, wenn es darauf nicht ankommt? Das erweckt bei mir immer auch den Eindruck eines Ätsch-Effekts. Muss m.E. nicht sein. Denn die Fragen kann man ja getrost dahinstehen lassen. Es sei denn …..

OWI II: Abstandsverstoß, oder: Länge der Messtrecke und Vorsatz

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Die zweite Entscheidung, das AG Landstuhl, Urt. v. 20.04.2021 – 2 OWi 1233/21 – hat einen Abstandsverstoß zum Gegenstand. Das AG geht von einenm Abstand von weniger als 3/10 des halben Tachowerts aus. Es nimmt zu zwei Fragen Stellung:

„Soweit der Betroffene die Kürze der gemessenen Strecke bemängelt hat, ist dies rechtlich irrelevant. Ein in der obergerichtlichen Rechtsprechung tatsächlich über einen gewissen Zeitraum diskutierter Streitpunkt war die Frage, über welchen Beobachtungszeitraum und welche gefahrene Strecke die Abstandsunterschreitung festzustellen war. Mal wurde bei einer Dauer von drei Sekunden eine Messstrecke von 150m für ausreichend erachtet (OLG Hamm NZV 2013, 203), mal von nur 140m (OLG Hamm NStZ-RR 2013, 318). Allerdings erfolgte dies stets unter der Einschränkung, dass es auf das Vorliegen einer „nicht nur ganz vorübergehenden“ Abstandsunterschreitung nur dann ankomme, wenn Verkehrssituationen in Frage stünden, wie etwa das plötzliche Abbremsen des Vorausfahrenden oder der abstandsverkürzende Spurwechsel eines dritten Fahrzeugs, die kurzzeitig zu einem sehr geringen Abstand führen, ohne dass dem Nachfahrenden allein deshalb eine schuldhafte Pflichtverletzung angelastet werden könne. Die Einschränkung der „nicht nur ganz vorübergehenden Abstandsunterschreitung“ ist dem Gesetz jedoch nicht zu entnehmen und auch die Rechtsprechung des BGH stellt bzgl. dieser Formulierung auf die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ab (BGHSt 22, 341; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, § 4 StVO, Rn. 22). Deshalb wurde schon vor einigen Jahren entschieden bzw. bekräftigt, dass tatbestandsmäßig im Sinne einer vorwerfbaren Abstandsunterschreitung gem. §§ 4 Abs. 1 S. 1, 49 Abs. 1 Nr. 4 StVO; § 24 StVG bereits handelt, wer zu irgendeinem  Zeitpunkt seiner Fahrt objektiv pflichtwidrig und subjektiv vorwerfbar den im einschlägigen Bußgeld-Tatbestand gewährten Abstand unterschreitet (OLG Hamm BeckRS 2015, 02211; OLG Koblenz ZfS 2016, 652; OLG Karlsruhe ZfS 2016, 531; OLG Oldenburg NZV 2018, 45). Der Tatrichter muss zwar den Betroffenen entlastende Umstände auch konkret ausschließen (OLG Hamm NZV 2013, 203; OLG Rostock NZV 2015, 405; OLG Karlsruhe ZfS 2016, 531). Denn ein plötzliches Abbremsen oder ein plötzlicher Spurwechsel würde die Pflichtwidrigkeit des Verstoßes entfallen lassen (OLG Stuttgart NZV 2008, 40). Ein solcher Ausschluss entlastender Umstände ist hier jedoch eindeutig gegeben. Die Feststellungen zu Verstoß und Ausnahmesituation können anhand der Videoprints für den Nahbereich sowie mittels des Messvideos für den Fernbereich erfolgen (OLG Hamm NZV 1994, 120). Die hier erfolgte Inaugenscheinnahme insbesondere des Messvideos hat keinerlei Sondersituation im Verkehrsgeschehen offenbart, sondern nur den beharrlich hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug fahrenden Betroffenen.“

Und dann zum Vorsatz:

„Eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Nichteinhaltung des Mindestabstandes kann zwar in der Regel nicht allein mit dem Ausmaß der Abstandsunterschreitung begründet werden (OLG Bamberg BeckRS 2017, 127422). Ohne Vorliegen konkreter dagegen sprechender Anhaltspunkte muss jedoch – wie hier – davon ausgegangen werden, dass einem Fahrzeugführer das Unterschreiten des Sicherheitsabstandes jedenfalls dann bewusst gewesen ist und er dies zumindest billigend in Kauf genommen hat, wenn er über einen Zeitraum, in dem er den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug bei gehöriger Aufmerksamkeit wahrnehmen, mittels der in der Fahrschülerausbildung üblicherweise gelehrten Methoden (2-Sekunden-Test für Außerortsverkehr, Anzahl der Fahrzeuglängen oder Anzahl der zwischen den Fahrzeugen befindlichen Leitpfosten) überprüfen und korrigieren konnte, bei nicht abnehmender Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs lediglich einen Abstand von weniger als 3/10 des Tachowertes einhält, so dass ein Schätzfehler fernliegt und die Begründung von Fahrlässigkeit gleichsam rechtsfehlerfrei nicht mehr möglich wäre (OLG Karlsruhe BeckRS 2019, 24494; AG Helmstedt Urt. v. 17.12.2019 – 15 OWi 912 Js 57459/19). So liegt der Fall hier. Der Betroffene hat über einen Zeitraum von mehr als zwei Sekunden, denn auch insoweit ist der Fernbereich des Messvideos in die Würdigung mit einzubeziehen, mit nicht bemerkenswert variierendem Abstand zum Vorderfahrzeug ein Fahrverhalten an den Tag gelegt, das nur als bedingt vorsätzlich eingestuft werden kann. Er hätte hier problemlos und sei es nur durch moderate Verringerung der eigenen Geschwindigkeit, den gebotenen Abstand herbeiführen können, hat dies jedoch vorwerfbar unterlassen und dies auch billigend in Kauf genommen. Auch die vorhandene und zeitnah begangene Voreintragung zeigt, dass der Betroffene entgegen des Vortrags des Verteidigers sehr wohl zum Zwecke des schnelleren Fortkommens Verkehrsregeln missachtet, was wiederum eine indizielle Bestätigung für die Einschätzung des Fahrverhaltens als vorsätzlich erlaubt.“

OWi I: Einsicht in die Lebensakte, Geräteakte und in sonstige Unterlagen, oder: BVerfG 2 BvR 1616/18 gilt

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Heute mal wieder ein OWi-Tag. Dazu habe ich länger keine Entscheidungen vorgestellt. Ist derzeit aber auch recht ruhig „an der Front“ :-).

Zunächst stellt ich den OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.04.2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20 -, über den ja auch schon der Kollege Gratz im VerkehrsrechtsBlog berichtet hat. Er nimmt noch einmal zu den Auswirkungen der BVerfG-Entscheidung vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – Stellung. Das OLG Zweibrücken erstreckt diese Rechtsprechung des BVerfG auch auf die sog. Lebensakten usw.:

„2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich. Das Amtsgericht hätte auf den Hinweis der Verteidigung, zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung immer noch keine Einsicht in vorhandene Wartungs- und Instandsetzungsnachweise zum verwendeten Messgerät (mit Lebensakte/Garantiekarte, falls vorhanden) erhalten zu haben, dem gleichzeitig gestellten Aussetzungsantrag stattgeben müssen. Der Senat schließt sich insoweit der einheitlichen obergerichtlieben Rechtsprechung an, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Absatz 1 Satz 1 MRK dem Betroffenen das Recht zuspricht, dass auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung zu stellen sind (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020- 2 BvR 1616/18, Rn 51; OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Mai 2020 – 2 OWi 6 SsRs118/19, juris Rn 9 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12. Januar 2020-2 Rb 8 Ss 837/17, juris Rn 13; OLG Naumburg, Beschluss vom 5. November2012- 2 Ss (Bz) 100/12, DAR 2013, 37; KG, Beschluss vom 7. Januar 2013- 3 Ws (b) 596-12/162 Ss 178/12, DAR 2013, 211). Hierzu gehören in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen auch die vorhandenen Wartungs- und Instandsetzungsnachweise im Eichzeitraum (sog. “Lebensakte”, “Reparaturbuch”, “Gerätebuch” oder “Gerätebegleitkarte”, vgl. Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09. Dezember 2015 – 2 Ws 221/15, juris Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris Rn. 31; LG Trier, Beschluss vom 14. September 2017 – 1 Qs 46/17, juris Rn. 38). Denn bei einem standardisierten Messverfahren – die Messmethode des verwendeten Messgeräts ES 3.0 ist als solches anerkannt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 16. Oktober 2009- 1 SsRs 71/09, juris Rn. 2) – sind an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte geringere Anforderungen zu stellen. Das Tatgericht ist nur dann gehalten, dass Messergebnis zu überprüfen, und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind (vgl. BVerfG a.a.O. Rn 42 f. m.w.N.). Dem Betroffenen ist durch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und entsprechende Beweisanträge, Beweisermittlungsanträge oder Beweisanregungen stellen, in prozessual ausreichender Weise Gelegenheit gegeben, weiterhin auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983, 2 BvR 864/81, juris Rn 68; BGH, 4 StR 627/92. a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 13. Juni 2018, 3 Ss OWi 626/18, juris Rn 12). Um jedoch, wie gefordert, konkrete Anhaltspunkte vortragen zu können, muss der Betroffene die Möglichkeit haben, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlungen entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (vgl. BVerfG, 2 BvR 1616/19, Rn. 51). Der Beiziehungs- und Aussetzungsantrag des Betroffenen war insoweit so zu verstehen, dass es dem Betroffenen ausschließlich um die Zugänglichmachung der nicht bei der Akten befindlichen Informationen ging, um die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messergebnisses zu haben. Die prozessualen Möglichkeiten des Betroffenen wurden somit vorliegend eingeschränkt, da erst durch Zugänglichmachung der begehrten Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen der Betroffene auch, in der Lage gewesen wäre, Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messgeräts zu erkennen und zu benennen. § 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz normiert eine Verpflichtung, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät herzustellen und aufzubewahren. Unabhängig von der Frage, welche Bezeichnung diese Unterlagen haben (Lebensakte, Reparaturbuch, Gerätebuch oder Gerätebegleitkarte o.ä.) ist zu erwarten, dass entsprechende Vorgänge dokumentiert sind und jedenfalls in dem in§ 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz angegebenen Mindestzeitraum aufbewahrt werden. Daher wäre das Amtsgericht angehalten gewesen, sich um die Herausgabe entsprechender Unterlagen, zumindest sich aber darum zu bemühen, eine Aussage darüber zu erhalten, ob Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für das verwendete Messgerät vorliegen. Der tatsächlichen Nichtübersendung der angeforderten Unterlagen durch die Verwaltungsbehörde ohne weitere Begründung kann eine solche Erklärung nicht entnommen werden. Dem Ansinnen des Betroffenen war deutlich zu entnehmen, dass die Verteidigung die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen begehrte, um die ordnungsgemäße Messung überprüfen zu können. Diese Unterlagen hat die Verteidigung trotz mehrfachen Bemühens und Herbeiführens einer gerichtlichen Entscheidung zu ihren Gunsten weder seitens der Verwaltungsbehörde noch seitens des Amtsgerichts überlassen bekommen. Spätestens auf den entsprechenden Antrag der Verteidigung hin wäre das Tatgericht gehalten gewesen, die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für das verwendete Messgerät bei der Bußgeldstelle anzufordern und der Verteidigung zur Verfügung zu stellen.“

 

Pflichti III: Mehrere „gesamtstrafenfähige Verfahren“, oder: Mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten?

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Und dann zum Schluss des Tages noch der LG Erfurt, Beschl. v. 27.04.2021 – 7 Qs 89/21. Thema: Noch einmal Beiordung in einem Gesamtstrafenfall:

„Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Zutreffend hat der Beschwerdeführer eingewandt, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen. Demnach liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung dann vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Dabei beurteilt sich die Schwere der Tat vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolge. Eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe ist in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers (Meyer – Goßner/ Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 140 Abs. 2 StPO ).

Das im vorliegenden Verfahren gegenständliche Delikt des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, rechtfertigt vor dem Hintergrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge keine Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Allerdings darf das vorliegende Verfahrens nicht isoliert betrachtet werden. Die Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie „nur“ wegen einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung erreicht wird (OLG Naumburg, Beschluss vom 22.05.2013, Az.: 2 Ss 65/13; OLG Halle, Beschluss vom 23.11.2018, Az.: 10a Qs 132/18; LG Magdeburg, Beschluss vom 30.04.2020, Az.: 25 Qs 802 Js 70719/20; alle veröffentlicht in juris ).

Gegen den Beschwerdeführer sind mehrere Verfahren anhängig, darunter zwei vor großen Straf-kammern der Landgerichte und eines vor dem Schöffengericht (s. unter I. ). In dem vor der großen Strafkammer des Landgerichts Erfurt anhängigen Verfahrens (a.a.O.) wird dem Beschwerdeführer und seinen 6 Mitangeklagten u.a. schwerer Bandendiebstahl in 4 Fällen zur Last gelegt. Allein für den schweren Bandendiebstahl sieht das Gesetz eine Mindestfreiheitsstrafe von 1 Jahr vor, § 244 a Abs. 1 StGB. Der mutmaßliche Tatzeitraum erstreckt sich von September bis Oktober 2019. Ein Hauptverhandlungstermin wurde noch nicht bestimmt. In sämtlichen Parallelverfahren wurde Rechtsanwältin Pp. dem Beschwerdeführer als Pflichtverteidigerin beigeordnet. Es besteht demnach die Erwartung, dass die dem Beschwerdeführer in den Parallelverfahren drohende Strafe mit der in dem vorliegenden Verfahren drohenden Strafe gesamtstrafenfähig ist und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche ein Jahr Freiheitsstrafe übersteigt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass im vorliegenden Verfahren derzeit keine Gesamtstrafenbildung mit den Strafen aus den Parallelverfahren ansteht, ausreichend ist, wenn diese Möglichkeit nachträglich in Betracht kommt ( OLG Halle, Beschluss vom 23.11.2018 a.a.O.). Es war somit in jedem Verfahren eine Pflichtverteidigerin zu bestellen, anderenfalls hinge es von der bloßen Zufälligkeit ab, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, ob einem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist oder nicht ( LG Magdeburg, Beschluss vom 30.04.2020 a.a.O.).“

Pflichti II: Auslieferungshaft im Ausland, oder: Dann ist im Inland ein Pflichtverteidiger zu bestellen

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Das zweite Posting befasst sich dann noch einmal mit einer Entscheidung vom LG Nürnberg-Fürth. Im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.05.2021 – 12 Qs 20/21 –, hat das LG die Frage entschieden, ob die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch dann vorliegen, wenn gegen den Beschuldigten Auslieferungshaft in anderer Sache im Ausland zum Zwecke der Überstellung ins Inland vollzogen wird. Das LG hat das bejaht:

„2. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt D. als Pflichtverteidiger beizuordnen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorliegt.

a) Nach der genannten Vorschrift ist ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben, wenn sich der Angeklagte auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Der Begriff der „Anstaltsunterbringung“ ist weit auszulegen und umfasst neben der Straf- und Untersuchungshaft auch die Auslieferungshaft (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 140 Rn. 16).

aa) Unerheblich ist, ob die Pflichtverteidigerbestellung für die Sache, in der die Freiheitsentziehung vollzogen wird, oder für ein anderes Strafverfahren erfolgen soll. Denn die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten sind durch die vollzogene Freiheitsentziehung in beiden Fällen gleichermaßen eingeschränkt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 1999 – 1 Ws 411/99, juris Rn. 11; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, juris Rn. 3).

Soweit aufgrund systematischer Erwägungen zu früherer Rechtslage im Hinblick auf das Verhältnis von § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO a.F. vertreten wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erfasse nicht den Fall einer in anderer Sache vollzogenen Freiheitsentziehung (dazu etwa LG Dresden, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 14 Qs 16/18; LG Osnabrück, Beschluss vom 6. Juni 2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), je in juris), ist diese Auffassung durch die Änderung des § 140 StPO aufgrund des Gesetzes zur Regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. 2019 Teil I, 2128) überholt.

bb) Nichts anderes gilt, wenn sich der Angeklagte im Ausland in Haft befindet (OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Mai 1984 – 1 Ws 411/84, NStZ 1984, 522; SSW/Beulke, StPO, 4. Aufl., § 140 Rn. 25; vgl. auch den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016, ABl. L 297/1 vom 4. November 2016 für den Fall eines EuHB). So liegen die Dinge hier: Der Angeklagte befindet sich zur Überzeugung der Kammer derzeit in serbischer Auslieferungshaft. Das ergibt sich aus der Mitteilung des Bayerischen LKA vom 12. Februar 2021, wonach der Angeklagte aufgrund der internationalen Fahndung in Serbien festgenommen worden sei und einer dies bestätigenden weitergeleiteten Mail von Interpol Belgrad. Zwar verfügte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 29. April 2021 auf Nachfrage der Kammer über keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass sich der Angeklagte in Serbien (weiterhin) in Auslieferungshaft befindet; das Auslieferungsersuchen an die serbischen Behörden sei gestellt worden. Diese tatsächliche Unsicherheit steht nach Auffassung der Kammer einer Pflichtverteidigerbeiordnung aber nicht entgegen, weil es jedenfalls keine Erkenntnisse gibt, die der gesicherten Festnahme des Angeklagten am 12. Februar 2021 widersprechen oder eine Beendigung der Auslieferungshaft belegen.

Eine Bewertung dahin, auf eine im Ausland vollzogene Freiheitsentziehung käme es nicht an, wäre mit dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nicht zu vereinbaren. Diese Vorschrift enthält keine räumliche Einschränkung im Hinblick auf den Ort der Anstaltsunterbringung. Auch nach Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der zitierten Richtlinie (EU) 2016/1919, deren Umsetzung § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. dient (BT-Drs. 19/13829, 34), ist es für die Gewährung von Prozesskostenhilfe in jedem Fall ausreichend, dass sich der Angeklagte in Haft befindet, ohne dass diese Voraussetzung nach Ort oder Anlass des Vollzugs der Freiheitsentziehung näher eingegrenzt würde (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 37).

b) Da § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO dem Gericht kein Ermessen einräumt, war beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Beiordnung des Pflichtverteidigers anzuordnen.

Der Beiordnung steht nicht entgegen, dass Rechtsanwalt D. vom Beschwerdeführer bereits als Wahlverteidiger mandatiert worden ist. Der Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers enthält nämlich die implizite Erklärung, die Wahlverteidigung werde mit der Beiordnung enden (OLG München, Beschluss vom 6. März 1992 – 1 Ws 161/92, wistra 1992, 237; KG, Beschluss vom 19. September 2011 – (2) 1 Ss 361/11 (53/11), juris Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 40).

Der beantragten Beiordnung steht ebenso wenig entgegen, dass der Beschwerdeführer keinen ortsansässigen Rechtsanwalt beigeordnet sehen will. Denn das ist nach allgemeiner Ansicht kein wichtiger Grund im Sinne des § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO, der einer Bestellung entgegenstünde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 51 f. m.w.N.).“