Archiv für den Monat: Januar 2020

Prüfung der Haftfähigkeit des Verurteilten, oder: Der Verurteilte muss die Kosten tragen

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Es ist „Gebührenfreitag“, also geht es heute ums Geld 🙂 . Und da stelle ich als erstes den (kostenrechtlichen) OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.10.2019 – 1 Ws 178/19 – vor, der die Frage beantwortet: Wer zahlt die Kosten der Prüfung der Haftfähigkeit eines Verurteilten?

Im vom OLG Karlsruhe entschiedenen Fall war der Verurteilte im Dezember 2017 rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden, die auch seit Dezember 2017 vollstreckt wird. Ihm wurden im Urteil die Kosten des Verfahrens auferlegt. Am 12.9.2018 beantragte der Verteidiger des Verurteilten die Unterbrechung des Vollzugs der Freiheitsstrafe, weil der Verurteilte gesundheitsbedingt haftunfähig sei. Daraufhin beauftragte die Staatsanwaltschaft das Gesundheitsamt mit der Begutachtung des Verurteilten, die im Ergebnis zur Bejahung der Haftfähigkeit und zur Ablehnung der Haftverschonung führte. Mit Kostenmitteilung vom 23.11.2018 rechnete das Gesundheitsamt dann ein Sachverständigenhonorar von rund 500 EUR ab, das die Staatsanwaltschaft dem Verurteilten in Rechnung stellte. Dagegen hat der Verurteilte Erinnerung eingelegt, die das LG als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten hatte beim OLG keinen Erfolg. Das OLG sagt: Der Verurteilte haftet:

1. Die durch das von der Staatsanwaltschaft Mosbach in Auftrag gegebene Gutachten zur Prüfung der Haftfähigkeit des Verurteilten entstandenen Kosten sind Verfahrenskosten im Sinne des § 464a Abs. 1 StPO, die gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 GKG von der Staatsanwaltschaft anzusetzen und beim Verurteilten, der die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, zu erheben sind.

a) Das OLG Koblenz vertritt zwar in einem Beschluss vom 08.01.1997 (NStZ 1997, 256) die – offenbar in einem späteren, unveröffentlichten Beschluss desselben Senats vom 16.07.2001 (2 Ws 576/01, wiedergegeben im Beschluss dieses Senats vom 04. Mai 2005 – 2 Ws 274/05 –, Rpfleger 2005, 627) bestätigte – auch in der Literatur verbreitete Ansicht (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 464a Rn. 3; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, StPO § 464a Rn. 5; BeckOK StPO/Niesler, 34. Ed. 1.7.2019, StPO § 464a Rn. 15; Temming/Schmidt in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019, § 464a Rn. 6; SK-StPO/Degener, 4. Aufl. 2013, § 464a Rn. 9; zwar nicht ausdrücklich, aber wohl im Ergebnis, Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 464a Rn. 18; differenzierend danach, ob das Gutachten von der Staatsanwaltschaft oder von einem Gericht in Auftrag gegeben wurde, Peglau, NJW 2003, 870), dass es sich bei der Einholung eines Gutachtens durch die Staatsanwaltschaft zur Überprüfung der Vollzugstauglichkeit um eine Amtshandlung der Justizverwaltung im Sinne des – die Kostenfreiheit anordnenden – § 9 Nr. 1 JVKostO handele, die durch den Antrag des zum Haftantritt geladenen Verurteilten, seine Vollzugstauglichkeit begutachten zu lassen, veranlasst worden sei, weshalb die dadurch verursachten Kosten keine Verfahrenskosten im Sinne des § 464 Abs. 1 StPO seien und dem Verurteilten nicht auferlegt werden könnten.

b) Dem vermag sich der Senat sich jedoch nicht anzuschließen.

(1) Amtshandlungen im Sinne des § 3 Nr. 1 JVKostG – der den § 9 Nr. 1 JVKostO mit Wirkung zum 01.08.2013 inhaltsgleich (Bundestagsdrucksache 17/11471 vom 14.11.2012, Seite 239) ersetzt hat – sind solche, die nicht von Amts wegen vorgenommen werden können oder müssen, sondern einen Antrag voraussetzen. Dies ist bei der Einholung eines Gutachtens zur Frage der Haftfähigkeit im Rahmen der Haftverschonung nach § 455 StPO nicht der Fall. Die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde hat nämlich nicht nur auf Antrag, sondern auch von Amts wegen zu prüfen, ob die Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 455 StPO aufzuschieben oder zu unterbrechen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 455 Rn. 15; BeckOK StPO/Coen, 34. Ed. 1.7.2019, StPO § 455 Rn. 11; MüKoStPO/Nestler, 1. Aufl. 2019, StPO § 455 Rn. 4). Eine – formale – Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Einholung eines Gutachtens sieht das Gesetz – auch bei einem dahingehenden Antrag des Verurteilten – nicht vor. Die Einholung eines Gutachtens steht im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft. Sie wird sich nur dann sachverständiger Hilfe bedienen, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Vollzugsuntauglichkeit bestehen und eine Entscheidung ohne Gutachten nicht möglich erscheint. Wie diese konkreten Anhaltspunkte zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft gelangen – etwa durch einen Bericht der Justizvollzugsanstalt oder eben durch einen Antrag des Verurteilten auf Haftverschonung – ist dabei unerheblich. Der Antrag eines Verurteilten auf Aufschub oder Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 455 StPO hat also nur zur – unmittelbaren – Folge, dass die Staatsanwaltschaft den Antrag prüft und bescheidet. Im Ergebnis kann es deshalb für die Frage, wer die Kosten für das Gutachten zu tragen hat, keine Rolle spielen, ob die Prüfung der Haftfähigkeit durch einen Antrag des Verurteilten initiiert wurde.

(2) Die Kosten für ein Gutachten zur Überprüfung der Haftfähigkeit als Kosten des Verfahrens im Sinne des § 464a Abs. 1 StPO anzusehen, entspricht dem im strafrechtlichen Kostenrecht verankerten Verursacherprinzip, dessen Kern die Ursächlichkeit des verurteilten Angeklagten für die Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens und damit auch für die Entstehung der hiermit verbundenen Kosten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2005 – 4 StR 143/05 –, NStZ-RR 2006, 32; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28. Juni 2006 – 2 BvR 1596/01 –, Rpfleger 2007, 107). Wie § 464a Abs. 1 Satz 2 StPO ausdrücklich anführt, gehören dazu auch die „Kosten der Vollstreckung der Rechtsfolge einer Tat“. Damit hat der Verurteilte im Grundsatz auch für alle Verfahrenskosten einzustehen, die nach Erlass des Urteils entstanden sind, und zwar unabhängig davon, ob er im Einzelfall in einem gerichtlichen Verfahren obsiegt oder unterliegt (Senat, Beschluss vom 17. April 2003 – 1 Ws 229/02 –, NStZ-RR 2003, 350; OLG Koblenz, Beschluss vom 29. April 2017 – 2 Ws 140/17 –, juris). Die Kosten der Überprüfung der Haftfähigkeit des Verurteilten nach § 455 StPO sind in diesem Sinne durch seine Verurteilung verursacht, weil die Haftfähigkeit – unter Berücksichtigung des § 455 Abs. 4 Satz 2 StPO, wonach die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nicht unterbrochen werden darf, wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen – grundsätzlich Voraussetzung für den Vollzug einer Freiheitsstrafe ist. Insoweit ist die Sachlage mit der des § 454 Abs. 2 StPO vergleichbar, wonach ein Gutachten einzuholen ist, wenn die Strafaussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen bestimmter Gewalt- und Sexualdelikten (§ 66 Abs. 3 Satz 1 StGB) bezeichneten Art zu prüfen ist. Die Auslagen für ein solches Gutachten sind Vollstreckungskosten im Sinne des § 464a Abs. 1 Satz 2 StPO (Senat a.a.O.; OLG Koblenz, Beschluss vom 29. April 2017 – 2 Ws 140/17 –, juris; KK-StPO/Appl, 8. Aufl. 2019, StPO § 454 Rn. 13; a.A. OLG Hamm, Beschluss vom 04. September 2000 – 2 Ws 189/00 –, NStZ 2001, 167).

(3) Schließlich ist zu sehen, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über den Strafaufschub der gerichtlichen Überprüfung nach § 458 Abs. 2 StPO unterliegt. Eine Kostenentscheidung des Gerichts ist dabei aber nicht veranlasst, weil auch hier die Kostengrundentscheidung des verurteilenden Urteils fortwirkt; die im gerichtlichen Verfahren nach § 458 Abs. 2 StPO entstandenen Kosten sind Verfahrenskosten im Sinne des § 464a Abs. 1 StPO (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 15. Oktober 2014 – 1 Ws 267/14 –, juris; BeckOK StPO/Coen, 34. Ed. 1.7.2019, StPO § 458 Rn. 8). Die Kosten eines vom Gericht eingeholten Gutachtens sind damit ohne Weiteres von einem Verurteilten zu tragen, dem gemäß § 465 StPO die Kosten des Verfahrens auferlegt wurden (so auch Peglau a.a.O.). Davon ausgehend kann es aber nicht darauf ankommen, ob bereits die Staatsanwaltschaft für ihre Entscheidung nach § 455 StPO ein Gutachten in Auftrag gibt oder erst – aufgrund der Einwendung des Verurteilten gegen die staatsanwaltschaftliche Entschließung – das Gericht.

c) Aufgrund der fortwirkenden Kostengrundentscheidung des Urteils des Landgerichts Mosbach vom 11.12.2017 bedurfte es im Übrigen auch keiner weiteren – gerichtlichen – Entscheidung, dass der Verurteilte die Kosten eines zur Vorbereitung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 455 StPO eingeholten Gutachtens zu tragen hat (vgl. Senat a.a.O.), so dass die Staatsanwaltschaft diese Kosten gemäß § 19 GKG in Verbindung mit der Kostengrundentscheidung des Urteils des Landgerichts Mosbach vom 11.12.2017 zulasten des Verurteilten festsetzen konnte.

2. Es besteht kein Anlass, wegen unrichtiger Sachbehandlung gemäß § 21 GKG von der Erhebung der Kosten abzusehen.

a) Eine unrichtige Sachbehandlung im Sinne des § 21 GKG kann nur dann angenommen werden, wenn der Handlungs-, Bewertungs- und Entscheidungsspielraum der Staatsanwaltschaft bei der Erteilung des Gutachtenauftrags eindeutig überschritten wurde, die Einholung des Gutachtens gleichsam ein grober Fehler war (vgl. BGH, Beschluss vom 11. September 2018 – 5 StR 249/18 –, juris; BDZ/Zimmermann, 4. Aufl. 2019, GKG § 21 Rn. 5 mwN; BeckOK KostR/Dörndorfer, 26. Ed. 1.6.2019, GKG § 21 Rn. 3 mwN). Dies ist hier nicht der Fall.

b) Der Verteidiger des Verurteilten hat zur Begründung des Antrags auf Haftverschonung vom 12.09.2018 konkrete und durch ärztliche Atteste untermauerte Ausführungen zum Gesundheitszustand des Verurteilten gemacht. Dass die Staatsanwaltschaft daraufhin zur Vorbereitung ihrer Entscheidung das amtsärztliche Gutachten in Auftrag gab, ist nicht zu beanstanden. Die Staatsanwaltschaft ist nicht verpflichtet, den vom Verurteilten selbst zur Begründung seiner Haftunfähigkeit vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen oder Gutachten ohne Weiteres zu folgen. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass – wie der Verurteilte mit der Begründung seiner Beschwerde vorträgt – das Landgericht Mosbach es im Erkenntnisverfahren abgelehnt hatte, ein Gutachten zur Haftfähigkeit einzuholen. Zum einen ist es nicht Sache des verurteilenden Gerichts, die Haftfähigkeit zu prüfen. Zum anderen lag dem Tätigwerden der Staatsanwaltschaft als Verfolgungsbehörde der Antrag des Verteidigers auf Haftverschonung zugrunde.“

Das OLG Hamm hat das mal anders gemacht und den Grundsatz angewendet: Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen. Aber das ist – wie man sieht – vereinzelt geblieben

StPO III: Bußgeldbescheid ohne Schuldform, oder: Keine Vorsatzverurteilung ohne rechtlichen Hinweis

Die dritte Entscheidung kommt dann aus dem Bußgeldverfahren und nimmt zur Frage Stellung, wann ggf. ein rechtlicher Hinweis (§ 265 StPO) erforderlich ist. Hier hatte der gegen den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung erlassene Bußgeldbescheid keine Schuldform enthalten. Das AG verurteilt wegen Vorsatzes. Das OLG Dresden sagt im OLG Dresden, Beschl. v. 12.12.2019 – OLG 25 Ss 859/19 (B): Das geht nicht ohne rechtlichen Hinweis:

„2. Die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung unterliegt der Aufhebung; damit auch der Rechtsfolgenausspruch.

Die in zulässiger Weise erhobene Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs kann als Rüge der Verletzung des § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 265 Abs. 1 StPO ausgelegt werden und ist insoweit begründet.

Im hier in Rede stehenden Bußgeldbescheid war die Schuldform nicht angegeben, was regelmäßig zur Folge hat, dass vom Vorwurf fahrlässigen Handelns auszugehen ist (vgl. nur OLG Bamberg, DAR 2017, S. 383). Auch hat sich die Bußgeldbehörde mit ihrer Rechtsfolgenentscheidung (160,00 € Geldbuße) offenkundig am Regelsatz der Nr. 11.3.7. BKatV orientiert. Damit konnte der Betroffene ohne vorherigen Hinweis über die Veränderung der Schuldform nicht wegen vorsätzlicher Tat verurteilt werden (vgl. OLG Dresden, DAR 2004, 102). Ein solcher Hinweis ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erkennbar.

Ein Beruhen des Urteils auf dieser Unterlassung kann nicht ausgeschlossen werden, da der Betroffene sich bei entsprechendem Hinweis möglicherweise anders verteidigt hätte oder den Einspruch gar zurückgenommen hätte.“

Eine solche Aufhebung bringt zumindest Zeitgewinn.

StPO II: Strafkammer oder „nur“ erweitertes Schöffengericht zuständig?, oder: Nur sieben Angeklagte reicht nicht…

Die zweite Entscheidung des Tages behandelt eine Problematik, mit der man es in der Praxis nicht so häufig zu tun hat, nämlich die Frage LG zuständig oder „nur“ das erweiterte Schöffengericht. Hier hatte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren mit dem Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung, das sich gegen sieben Angeklagte richtete, bei der Strafkammer angeklagt. Die hat aber „nur“ vor dem erweiterten Schöffengericht eröffnet. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die das OLG Hamm im OLG Hamm, Beschl. v. 10.12.2019 – III-4 Ws 268 – 274/19 – zurückgewiesen hat:

„In der Sache hat die sofortige Beschwerde aber keinen Erfolg.

Die Strafkammer hat das Hauptverfahren zu Recht und mit zutreffender Begründung gemäß § 209 Abs. 1 StPO in Verbindung mit §§ 24 Abs. 1 Nr. 2, 74 Abs. 1 Satz 2 GVG vor dem sachlich zuständigen Amtsgericht Schöffengericht — eröffnet.

Eine Zuständigkeit des Landgerichts gemäß § 74 Abs. 1 in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr: 3 GVG wurde zu Recht wegen des Fehlens besonderer Umstände des vorliegenden Falles verneint. Besondere Umstände können sich aus unterschiedlichen Kriterien ergeben wie der Schutzbedürftigkeit von Verletzten, dem besonderen Umfang des Verfahrens oder der besonderen Bedeutung der Sache. Dabei unterliegt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang der gerichtlichen Prüfung (BVerG, Urteil vom 19. März 1959, 1 BvR 295/58, juris).

1. Eine Verhandlung vor dem Landgericht ist entgegen der Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft nicht wegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit der Verletzten der Straftat erforderlich. Eine besondere Schutzbedürftigkeit von Verletzten, die als Zeugen in Betracht kommen, ist zu bejahen, wenn zu erwarten ist, dass die Vernehmung für die Verletzten nach dessen individuellen Verhältnissen im konkreten Strafverfahren mit einer besonderen Belastung verbunden sein wird, weshalb mehrfache Vernehmungen vermieden werden sollen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 24 GVG, Rn. 6). Die Belastung für den konkreten Zeugen muss daher deutlich über das normale Maß der Belastung von Opferzeugen durch die Verhandlungssituation hinausgehen (MüKo-Schuster, StPO, 1. Auflage, § 24 GVG, Rn. 19, beck-online). Durch diese Regelung wird der speziellen Situation vor allem von kindlichen Zeugen und Opfern von Sexualdelikten Rechnung getragen (KK-Barthe, StPO, 8. Auflage, § 24 GVG, Rn. 6a). Derartige besondere Belastungen der Opfer-Zeugen sind — woraufhin das Landgericht zu Recht hinweist — vorliegend nicht erkennbar.

2. Eine Zuständigkeit des Landgerichts ergibt sich auch nicht aus einem besonderen Umfang des Verfahrens. Der besondere Umfang einer Sache ist anzunehmen, wenn das Verfahren nach der Zahl der Angeklagten oder der Straftaten, nach dem Umfang der Beweisaufnahme oder der zu erwartenden Verhandlungsdauer von den üblicherweise zu verhandelnden Fällen abweicht und sich deutlich aus der großen Masse der Verfahren, die den gleichen Tatbestand betreffen, heraushebt (KK-Barthe, StPO, 8. Auflage, § 24 GVG, Rn. 6b, beck-online). Allerdings ist zu beachten, dass der besondere Umfang dabei noch über den den Anwendungsbereich des § 29 Abs.2 GVG rechtfertigenden Umfang hinausgehen muss (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 7). Daher sind Verfahren nur von besonderem Umfang; wenn sie auch unter Beiziehung eines zweiten Richters vom Schöffengericht nicht mit der gebotenen Beschleunigung verhandelt werden können (MüKo-Schuster, StPO, 1. Auflage, § 24 GVG, Rn. 16, beck-online). Die personelle Überlegenheit der Kammer am Landgericht gegenüber dem Schöffengericht ist aufgehoben, wenn dieses nach § 29 Abs. 2 S. 1 GVG mit zwei Berufsrichtern verhandelt und die Kammer nach § 76 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 GVG ebenfalls mit nur zwei Berufsrichtern entscheidet. In diesen Fällen ergibt sich ein Unterschied nur noch im Instanzenzug. Die Vermeidung einer zweiten Tatsacheninstanz kann jedoch nicht aus fiskalischen oder anderen sachfremden Gründen dazu führen, dass der gesetzliche Richter abweichend bestimmt wird: Das ergibt sich auch bei systematischer Auslegung mit der Zuständigkeit des Landgerichts in Fällen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Zeugen. In diesen Fällen ist die Reduzierung auf eine Tatsacheninstanz gesetzlicher Zweck der Bestimmung. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass andere‘ Gründe für eine Reduzierung der Instanzen gerade nicht herangezogen werden dürfen (MüKo¬Schuster, a.a.O.).

Wie die Strafkammer in ihrem angefochtenen Beschluss, zutreffend ausgeführt hat, ist das grundsätzlich zuständige Schöffengericht mit der Durchführung des Verfahrens angesichts der Zahl der angeklagten Taten und der zu vernehmenden Zeugen nicht überfordert. Angeklagt ist lediglich eine Tat, das Verfahren umfasst insgesamt nur drei Aktenbände und als Tatzeuge steht neben den beiden Geschädigten lediglich der unbeteiligte Tatzeuge pp. zur Verfügung, der jedoch Einzelheiten zu den Tätern im Rahmen der polizeilichen Vernehmung nicht angeben konnte. Darüber hinaus dürften noch die vier Polizeibeamten, die Bekundungen zu Angaben der Geschädigten vor Ort und im Krankenhaus, dem. Antreffen eines Teils der Angeklagten in der Nähe des Tatorts bzw. deren Identifizierung auf Lichtbildern machen können, der Geschädigte der Sachbeschädigung sowie die drei benannten Alibizeugen zu vernehmen sein.

Einzig im Hinblick auf die Anzahl der Angeklagten weicht das Verfahren im Hinblick auf die üblicherweise vor dem Amtsgericht -Schöffengericht- zu verhandelnden Fälle ab. Allein die Zahl der Angeklagten rechtfertigt aber für sich genommen nicht die Annahme eines besonderen Umfangs dieser Sache mit der Folge der Zuständigkeit der großen Strafkammer. Räumliche Schwierigkeiten  können nicht zuständigkeitsbestimmend sein. Dem mit der Anzahl der Angeklagten ggf. verbundene Mehraufwand kann – worauf die Kammer zu Recht hingewiesen hat — durch Hinzuziehung eines weiteren Richters beim Amtsgericht Rechnung getragen werden, was die Kammer gemäß § 29 Abs. 2 GVG entsprechend angeordnet hat.

3. Eine besondere Bedeutung des Falles lässt sich auch nicht aus dem Umstand, -dass sowohl ein besonderes- Interesse der Medien als auch -der Öffentlichkeit im Westmünsterland an der Sache zu erwarten ist, herleiten. Zwar kann sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die besondere Bedeutung der Sache im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG auch aus einem großen Interesse der Medien und Öffentlichkeit allgemein an der einschlägigen Strafsache ergeben (BGH, Urteil. vom 10. Mai 2001,1 StR 504/00, juris). Vor dem Hintergrund des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) vermag aber ein großes Medien-und Öffentlichkeitsinteresse die „besondere Bedeutung“ einer Strafsache allenfalls ausnahmsweise bei Konstellationen eines überragenden oder bundesweiten Interesses zu stützen. Die besondere Bedeutung kann nur dann angenommen werden, wenn das Medieninteresse eine ohnehin vorhandene besondere Bedeutung für die Allgemeinheit widerspiegelt, nicht lediglich regionaler Art ist und die Erregung dieses Interesses gerade das Ziel der Straftat war (KK-Barthe, a.a.O., Rn. 9 m.w.N.).

Von dem Vorliegen eines derartigen Medieninteresses geht die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft bereits selbst nicht aus.“

StPO I: Selbstleseverfahren versus Unmittelbarkeitsgrundsatz, oder: DNA-Gutachten in der Hauptverhandlung

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Heute dann der erste „StPO-Tag“ im neuen Jahr. Und an dem macht der BGH, Beschl. v. 03.09.2019 – 3 StR 292/19 – den Auftakt.

Entschieden hat der BGH eine Problematik aus der Hauptverhandlung in Zusammenhang mit dem Unmiitelbarkeitsgrundsatz, „umgangen“ durch einen Urkundenbeweis, Stichwort hier: Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO). Der Vorwurf der Anklage lautete auf Wohnungseinbruchdiebstähle. So ist der Angeklagte auch verurteilt worden.

Seine Revision hatte dann Erfolg, und zwar mit folgendem Vorbringen:

„Der Angeklagte beanstandet zu Recht eine Verletzung des § 250 StPO durch die Einführung von diversen – von privaten Laboren erstellten – molekulargenetischen Spurengutachten (DNA-Gutachten) im Wege des Selbstleseverfahrens. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

1. Am zweiten Tag der Hauptverhandlung ordnete der Vorsitzende hinsichtlich 30 in einer Liste aufgeführter Urkunden das Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO an. Die Liste umfasste acht DNA-Gutachten, die von privaten Laboren stammen. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen waren jeweils nicht im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt. Die Strafkammer gab für die Verlesung der DNA-Gutachten weder einen Grund an, noch fasste sie hierzu einen Beschluss im Sinne von § 251 Abs. 4 Satz 1, 2 StPO.

Der Verteidiger des Angeklagten erklärte in der Hauptverhandlung, gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens keine Einwände zu erheben, der (albanische) Angeklagte könne die Schriftstücke selbst lesen. Keiner der Verfahrensbeteiligten erteilte ein ausdrückliches Einverständnis mit der Verlesung der betreffenden Gutachten. Der Angeklagte und sein Verteidiger beanstandeten die Verlesung auch nicht als unzulässig. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen wurden nicht in der Hauptverhandlung vernommen. Ebenso wenig fanden Erörterungen zu den Gutachten statt. An einem der folgenden Hauptverhandlungstage traf der Vorsitzende die Feststellungen über die Kenntnisnahme der Urkunden und die Gelegenheit hierzu.

In dem angefochtenen Urteil hat die Strafkammer ausgeführt, dass sich die Täterschaft des Angeklagten maßgeblich aus Angaben seines Mittäters ergebe, aber auch durch das Ergebnis der Beweisaufnahme im Übrigen belegt sei. Dabei hat das Landgericht darauf abgestellt, dass in den Fällen II.A.2. und II.A.6. DNA-Spuren existierten, die ausweislich der im Selbstleseverfahren eingeführten DNA-Gutachten vom Angeklagten bzw. seinem Mittäter stammten.

2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Das Landgericht hat den Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§ 250 StPO) umgangen, indem es die in Privatlaboren gefertigten DNA-Gutachten im Wege des Urkundsbeweises eingeführt hat. Die Ersteller der Gutachten hätten vielmehr in der Hauptverhandlung angehört werden müssen. Denn die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden Ausnahmetatbestände des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO oder des § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO haben nicht vorgelegen.

a) Die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO sind schon deshalb nicht erfüllt gewesen, weil weder der Angeklagte und sein Verteidiger noch die Staatsanwaltschaft ihr Einverständnis mit der Verlesung erteilt haben. Ein solches ist insbesondere nicht darin zu erblicken, dass der Verteidiger erklärt hat, der Durchführung des Selbstleseverfahrens nicht entgegenzutreten. Im Hinblick auf die eingeschränkte Sprachkompetenz des Angeklagten hat er hiermit der Strafkammer nach den konkreten Umständen nur zu verstehen gegeben, dass er gegen das „Wie“ der Einführung der Urkunden aus der Selbstleseliste keine Einwände hat erheben wollen. Zum „Ob“ ihrer Einführung durch Verlesen hat er sich durch seine Erklärung nicht verhalten.

Auch eine stillschweigende Zustimmung hat nicht vorgelegen. Eine solche kommt überhaupt nur in Betracht, wenn aufgrund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst gewesen sind (BGH, Beschlüsse vom 9. August 2016 – 1 StR 334/16, NStZ 2017, 299 mwN; vom 22. Januar 2015 – 3 StR 528/14, NStZ 2015, 476; LR/Sander/Cirener, StPO, 26. Aufl., § 251 Rn. 22 mwN). Daran fehlt es hier. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Revisionsvorbringen ist das Erfordernis eines Einverständnisses für eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte Verlesung der Gutachten (etwa durch eine Frage des Vorsitzenden o.ä.) zu keinem Zeitpunkt in der Hauptverhandlung thematisiert worden. Es ist angesichts der Vielzahl der Urkunden auf der Selbstleseliste auch nicht derart offensichtlich gewesen, dass es sich den Prozessbeteiligten aufgedrängt hätte.

Hinzu kommt Folgendes: Das Einverständnis – auch das stillschweigende – muss bereits im Zeitpunkt der Anordnung der Verlesung durch das Gericht vorliegen (LR/Sander/Cirener, aaO Rn. 23). Hier hat der Vorsitzende gleichzeitig mit der Anordnung des Selbstleseverfahrens die auf diese Weise einzuführenden Urkunden bezeichnet; die Verfahrensbeteiligten haben also erst mit der Anordnung erfahren, welche Urkunden sie umfasst. Sie haben deshalb ihr Einverständnis gar nicht vorher erklären können. Erst recht scheidet ein stillschweigendes Einverständnis in dieser Verfahrenskonstellation aus.

Wie auch der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, fehlt es überdies an dem gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1, 2 StPO von dem gesamten Spruchkörper zu erlassenden und mit Gründen zu versehenden Beschluss. Grundsätzlich ist schon dieser Umstand allein geeignet, die Revision zu begründen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585 Rn. 9 f.; vom 8. Februar 2011 – 4 StR 583/10, NStZ 2011, 356, 357 mwN). Ein Fall, in dem sich der Rechtsfehler ausnahmsweise nicht ausgewirkt hat, weil den Verfahrensbeteiligten Grund und Reichweite der Verlesung bekannt gewesen sind, liegt hier – wie dargelegt – nicht vor.

b) Die DNA-Gutachten haben auch keine Erklärungen einer öffentlichen Behörde (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO) oder eines allgemein vereidigten Sachverständigen (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO) enthalten. Nach dem insoweit unwidersprochenen Revisionsvorbringen sind die vorliegend tätig gewordenen Sachverständigen gerade nicht allgemein vereidigt gewesen.

Eine Ausdehnung der eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gestattenden Ausnahmevorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO kommt nicht in Betracht, mögen die hier konsultierten Institute auch vielfach von Ermittlungsbehörden beauftragt und als zuverlässig bekannt sein. Denn Gutachten von vereidigten Sachverständigen sind im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO vor allem deshalb Behördengutachten gleichgestellt, weil im Vereidigungsverfahren die sachliche und persönliche Befähigung des Sachverständigen geprüft wird. Nur der Sachverständige, der das Verfahren durchlaufen hat, ist nach dem Motiv der gesetzlichen Regelung mit einer solchen Sachautorität ausgestattet, dass es gerechtfertigt ist, auf seine persönliche Einvernahme in der Hauptverhandlung zu verzichten (vgl. MüKoStPO/Krüger, § 256 Rn. 17 unter Verweis auf BT-Drucks. 15/1508, S. 26). Diese klare Festlegung des Gesetzgebers kann nicht dadurch unterlaufen werden, dass Kosten- oder Kapazitätsgründe die Landeskriminalämter dazu veranlassen, für forensische DNA-Untersuchungen auf private Institute zurückzugreifen.

c) Einer Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO hat es nicht bedurft. Die Verletzung des § 251 Abs. 1 StPO kann ohne ein Vorgehen nach § 238 Abs. 2 StPO gerügt werden, weil es gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO dem gesamten Spruchkörper und nicht dem Vorsitzenden allein obliegt, über die Verlesung zu beschließen. Damit ist der Anwendungsbereich des § 238 StPO nicht eröffnet.

Soweit der Vorsitzende die Einführung der Gutachten im Urkundsbeweis auf § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO gestützt haben sollte, hat er die Zulässigkeit seines Vorgehens unter die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift subsumieren, mithin zwingendes Recht anwenden müssen, ohne dass ihm insoweit ein Ermessensspielraum zur Seite gestanden hat. Die Verletzung zwingenden Rechts durch den Vorsitzenden kann ein Revisionsführer auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 StPO vorgegangen ist (vgl. zum Ganzen BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585 Rn. 12; vom 20. September 2016 – 3 StR 84/16, NStZ 2017, 372 Rn. 8, jeweils mwN).“

Und: Der BGH hat hier mal nicht den Ausweg über die Beruhensfrage gesucht, sondern:

„Das Urteil beruht auf dem Verstoß gegen § 250 StPO. Das Landgericht hat die zu den Spuren aus den Fällen II.A.2. und II.A.6. erstellten DNA-Gutachten für seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten in allen sechs Taten herangezogen. Das gilt auch für das Gutachten des Instituts für Forensische Genetik Münster vom 22. November 2016. Soweit der Generalbundesanwalt in seinem Antrag ausgeführt hat, dass sich die Strafkammer auf dieses Gutachten nicht gestützt habe, weil sie nur in Bedacht genommen habe, dass das Gutachtenergebnis nicht im Widerspruch zu den Urteilsfeststellungen stehe (UA S. 29), ist ihm aus dem Blick geraten, dass das Gutachten aus Münster neben einer Mischspur, für welche der Angeklagte als Spurenverursacher nicht ausgeschlossen werden kann, auch DNA-Spuren des gesondert verfolgten Mittäters am Tatort belegt (vgl. UA S. 23 f., 27). Ausweislich der Urteilsfeststellungen sind es genau diese „vielfach vorhandenen DNA-Spuren des Zeugen P. “ (UA S. 24), welche die Strafkammer für die Bewertung sei- ner Zeugenaussage und damit für ihre Überzeugung von der Tatbeteiligung des Angeklagten herangezogen hat.“

BVerfG III: Vollzugslockerungen, oder: “ bloße pauschale Wertungen“ sind nicht erlaubt

Und als dritte und letzte BVerfG-Entscheidung dann der BVerfG, Beschl. v. 18.09.2019 – 2 BvR 1165/19, den ich der Homepage von HRRS entnommen habe. Es geht um Vollzugslockerungen und eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des OLG Hamm. Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Der Beschluss ist bie HRRS mit folgenden Leitsätzen des Bearbeiters eingestellt:

1. Eine Strafvollstreckungskammer verkennt Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsanspruchs des Strafgefangenen, wenn sie die Gewährung von Vollzugslockerungen erst dann für geboten erachtet, wenn der Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation aufweist. Dasselbe gilt, wenn das Gericht die Annahme einer Missbrauchs- und Fluchtgefahr ungeprüft von der Justizvollzugsanstalt übernimmt, obwohl es insoweit an aktuellen Erkenntnissen fehlt und die Anstalt überdies bereits die Überstellung des Gefangenen in den offenen Vollzug vorbereitet.

2. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf eine Resozialisierung des Gefangenen auszurichten. Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es erforderlich, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit des Betroffenen in Freiheit zu erhalten und zu festigen.

3. Die Versagung von Vollzugslockerungen nach mehrjährigem Freiheitsentzug berührt den grundrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruch des Strafgefangenen. Sie darf nicht auf lediglich abstrakte Wertungen gestützt werden. Vielmehr sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu begründen.

4. Bei langjährig Inhaftierten können auch ohne Bestehen einer konkreten Entlassungsperspektive zumindest Lockerungen in Form von Ausführungen verfassungsrechtlich geboten sein, bei denen die Justizvollzugsanstalt einer angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt. Verfassungsrechtlich unzulässig ist dabei die Erwägung, bei entsprechenden Maßnahmen wie etwa einer verdeckten Fesselung entspreche die Ausführung nicht dem realen Erleben und verfehle ihren Zweck.

5. Die Versagungsgründe der Flucht- und Missbrauchsgefahr eröffnen der Vollzugsbehörde bei ihrer Prognoseentscheidung einen Beurteilungsspielraum. Gleichwohl haben die Vollstreckungsgerichte den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat.