Die zweite Entscheidudng kommt mit dem LG Hamburg, Beschl. v. 09.10.2019 – 628 Qs 31/19 – aus Hamburg. Sie behandelt die Frage, ob dem ausländischen Angeklagten in dem Verfahren – einem möglicherweise Analphabeten – ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss. Das LG meint: Nein:
„Zu Recht hat das Amtsgericht den Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung abgelehnt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung i. S. d. § 140 StPO liegt nicht vor.
Insbesondere liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beiordnung nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO nicht vor. Weder die Schwere der Tat, noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erfordern die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO. So konnte es die Kammer auch dahinstehen lassen, ob dem Vorsitzenden bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht oder es sich insoweit um einen Fall reiner Gesetzesanwendung handelt (zum Streitstand: SK-Wohlers, § 140, Rn. 30 m. w. N.)
Bei der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat handelt es sich um ein Delikt, das im Strafbefehlswege mit lediglich 60 Tagessätzen geahndet werden sollte. Nach dem Einspruch des Angeklagten ist zwar keineswegs ausgeschlossen, dass er wegen der ihm vorgeworfenen Tat höher bestraft werden wird. Es ist aber nicht zu erwarten, dass gegen ihn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr verhängt werden wird.
Der Fall ist als polizeilich totalobserviertes, einaktiges Verkaufs-Geschehen denkbar einfach gelagert. Widersprüchliche Zeugenaussagen sind nicht zu erwarten. Die Beweislage ist – nach Aktenlage und vorbehaltlich der Hauptverhandlung – auch anhand der erfolgten Sicherstellungen und der Angaben des Zeugen P. eindeutig. Entgegen dem Verteidigervorbringen „arbeiten“ auch die polizeilichen Vermerke nicht mit bloßen „Schlussfolgerungen und Vermutungen“, sondern verdichten das den Angeklagten belastende Beweisbild anhand konkreter Beschreibungen des tatsächlichen Geschehens vor Ort. Soweit der Verteidiger vorbringt, die nähere Personenbeschreibung, anhand derer der Angeklagte letztlich als Beschuldigter identifiziert wurde, finde sich nicht in der Akte, verkompliziert dies die Beweislage nicht weiter, als dass etwa der Polizeizeuge PB M. im Rahmen der tatrichterlichen Amtsermittlung in der Hauptverhandlung zu befragen sein wird, anhand welcher konkreter (Bekleidungs-)Merkmale er den Angeklagten als die Person wiedererkannt habe, die das Marihuana an den Zeugen P. verkauft habe.
Ein Fall notwendiger Verteidigung liegt insbesondere auch nicht wegen etwaiger Unfähigkeit der Selbstverteidigung gem. § 140 Abs. 2 Satz 1 a.E. StPO vor.
Soweit der Angeklagte geltend macht, Analphabet und des Deutschen nicht hinreichend mächtig zu sein, führt dies – selbst unter Zugrundelegung dieser angesichts der durch den Angeklagten unterschriebenen Strafprozessvollmacht schon zweifelhaften, jedenfalls aber nicht weiter substantiierten Umstände – nicht zu einer anderen Bewertung des vorliegenden Falles mit der Folge, dass der Angeklagte unfähig sein könnte, sich gegen den gegen ihn erhobenen Vorwurf selbst zu verteidigen.
Zwar kann bei ausländischen Angeklagten, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO in Betracht kommen. Dies setzt aber ebenfalls voraus, dass der Fall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten aufweist, die unter Heranziehung eines Dolmetschers nicht ohne weiteres ausräumbar erscheinen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Auflage 2019, § 140 Rn. 30a m. w. N.). Aufgrund der hier überschaubaren Sach- und Rechtslage dürfte die Übersetzung einer Hauptverhandlung – zumal in der Tatsacheninstanz und hier im Rahmen der am tatsächlichen Geschehen orientierten Beweisaufnahme – die Schwierigkeiten des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, vollständig kompensieren.
Dies gilt auch im Hinblick auf den Umstand, dass der Angeklagte möglicherweise Analphabet ist. Analphabetismus allein begründet nicht die Unfähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung (so bereits LG Verden Beschluss vom 29.3.2011 – 1 Qs 34/11, BeckRS 2012, 15259). Vielmehr bedarf es zum Analphabetismus hinzutretender Umstände, welche in Verbindung mit dem Analphabetismus die Unfähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung ergeben. Es ist insoweit jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob etwa die Komplexität der Beweisaufnahme oder die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage eine Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO gebieten (vgl. HansOLG, Beschluss vom 09. September 2019, 9 Ws 54/19; Beschluss vom 07. Februar 2019, 9 Ws 8/19, Beschluss vom 28. Juni 2016 2 Ws 105/16). Auch hier gilt, dass die aus den mangelnden Sprachkenntnissen des Angeklagten herrührenden Verständigungsschwierigkeiten und die Einschränkungen durch seinen möglichen Analphabetismus angesichts des tatsächlich wie rechtlich einfach gelagerten Sachverhaltes durch den in § 187 GVG normierten Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers für das gesamte Strafverfahren ausgeglichen werden. Insbesondere ist zur (Selbst-)Verteidigung des Angeklagten Aktenkenntnis – aktuell beträgt der Aktenumfang lediglich 68 Blatt und enthält die Akte weder sich widersprechende Zeugenaussagen, noch sonstige juristische Fallstricke – nicht erforderlich. Weiter gilt auch hier, dass eine Befragung insbesondere der im Strafbefehl aufgeführten Zeugen angesichts des denkbar überschaubaren Sachverhalts keine nicht durch die Einschaltung des Dolmetschers zu behebenden Schwierigkeiten aufwerfen dürfte. Gleiches gilt auch für etwaig in Augenschein zu nehmende Urkunden in der Hauptverhandlung.“
M.E. höchst fraglich. Und zur Anwendung der RiLi EU 2016/1919 schweigt man dann auch lieber……