Archiv für den Monat: Mai 2017

Auch wenn man es „eilig hat“: Spielregeln beachten, oder: Namhaftmachung

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Bei der zweiten Entscheidung des heutigen Tages handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 04.04.2017 – 4 RBs 97/17. Er behandelt eine Problematik, die in der Praxis sicherlich häufiger vorkommen dürfte und rückt dabei eine Vorschrift in den Fokus, die in der Praxis manchmal übersehen wird, nämlich § 222 StPO, der über § 71 OWiG auch im Bußgeldverfahren gilt.

Der Betroffene ist vom AG wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung in einer Abwesenheitsverhandlung (§ 74 Abs. 1 OWiG) verurteilt worden. In der Hauptverhandlung waren also weder der Betroffene noch sein Verteidiger anwesend. Gegen die Verurteilung wendet sich der Betroffene mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er macht eine Verletzung rechtlichen Gehörs sowie die Verletzung materiellen Rechts geltend. Dazu trägt er u.a. vor, dass sich das Urteil wesentlich auf Ausführungen des Sachverständigen O stütze, der in der Hauptverhandlung vom 14.12.2016, bzgl. derer der Betroffene von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden gewesen und sein Verteidiger nicht erschienen sei, vernommen worden sei. Die Mitteilung über die am 07.12.2016 verfügte Ladung des Sachverständigen sei nur an den Verteidiger verfügt worden und habe diesen erst am Tag der Hauptverhandlung, aber zeitlich nach (Anm.: das nach ist von mir ergänzt, das fehlt in der Veröffentlichung der Entscheidung) der Terminsstunde erreicht.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Zulassungsantrag als unbegründet zu verwerfen – warum wundert mich das nicht?

Anders aber das OLG. Das hat wegen das AG-Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) aufgehoben:

„Die Rüge ist auch begründet. Nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 222 StPO ist ein geladener Sachverständiger dem Betroffenen rechtzeitig namhaft zu machen. Dies dient dazu, dass sich der Betroffene angemessen auf die Hauptverhandlung vorbereiten kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 222 Rdn. 1). Eine solche Mitteilung ist hier nach dem glaubhaften Rechtsbeschwerdevorbringen nicht rechtzeitig erfolgt. Zwar wurde die Mitteilung der Ladung (noch) rechtzeitig verfügt, nämlich hier am 07.12.2016, so dass bei Behandlung als Eilverfügung und Absendung noch am selben Tage per Post eine Benachrichtigung den Betroffenen bzw. seinen Verteidiger noch am 08. oder 09.12.2016 erreicht hätte, bei Faxbenachrichtigung sogar noch am selben Tag. Damit wäre Ihnen genügend Zeit verblieben, sich auf ein Erscheinen im Termin einzustellen oder eine Verlegung zu beantragen. Indes wurde die Verfügung nicht mit „Eilt“ oder „Sofort“ überschrieben und der „Ab-Vermerk“ der Geschäftsstelle trägt das Datum des 09.12.2016. Hierbei handelte es sich um einen Freitag, so dass – ein nicht untypischer Behördenablauf – das Schreiben zwar an diesem Tage in das Postausgangsfach der Geschäftsstelle gelangt ist, aber womöglich erst zur Postabsendestelle des Gerichts am 12.12.2016 gelangt ist und dort weiter bearbeitet wurde. Jedenfalls ist durch Vorlage des Umschlags des entsprechenden Schreibens glaubhaft gemacht, dass dieses erst den Poststempel vom 13.12.2016 trägt. Der Ablauf am 14.12.2016, nämlich dass die Leerung des Postfachs in der Mittagszeit erfolgt, also erst nach der Terminsstunde, wurde anwaltlich versichert und ist für den Senat ebenfalls glaubhaft.

Aufgrund der nicht rechtzeitigen Mitteilung hatten der Betroffene bzw. sein Verteidiger damit keinen Anlass, von einer Sachverständigenvernehmung im Hauptverhandlungstermin vom 14.12.2016 auszugehen und gleichwohl zu erscheinen. Dadurch wurde Ihnen die Möglichkeit genommen, den Sachverständigen entsprechend zu befragen und das Beweisergebnis in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Der Senat kann auch nicht ausschließen, dass das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Das Amtsgericht argumentiert u.a. auf S. 5 UA mit den „überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen“.

Also: Wenn man es schon – dafür spricht m.E. einiges – „eilig“ hat, dann muss man aber dennoch die Spielregeln beachten: Rechtzeitige Info ist auch dann angesagt. § 222 StPO lässt grüßen.

Mordverurteilung im „Berliner Kudammraserfall“, oder: Wenn der Pkw zum „gemeingefährlichen Mittel“ wird

entnommen wikimedia.org Urheber Manfred Brückels

Und heute dann auch noch mal ein wenig aus dem „Restepool“. Zunächst das Urteil des LG Berlin im „Kudammraserfall“ – LG Berlin, Urt. v. 27.02.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16) – über das ja einige Blogs schon kurz nach Erlass berichtet haben und der Kollege Gratz in der vorigen Woche auf der Grundlage des Volltextes, den er mir dann aufbereitet – und damit einstellbar auf meiner Homepage – zur Verfügung gestellt hat. Herzlichen Dank.

Der Sachverhalt der Entscheidung dürfte bekannt sein: Es geht um ein illegales Autorennen in Berlin. Die beiden Angeklagten sind mit ca. 160 km/h durch die Innenstadt von Berlin ge­fah­ren. Sie überfuhren mehrere Ampeln und Kreuzungen, bevor eins der Kraftfahrzeuge fast nahezu ungebremst auf dem Kudamm beim Überfahren einer Rotlicht zeigenden Ampel einen querenden Jeep rammte, dessen Fahrer  ums Leben kam. Das LG hat bei­de Angeklagte u. a. we­gen Mordes verurteilt, als Mordmerkmal ist die Verwendung ei­nes ge­mein­ge­fähr­li­chen Mittels angenommen worden:

„Das Mordmerkmal der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln ist erfüllt, wenn der Täter ein Mittel zur Tötung einsetzt, das in der konkreten Tatsituation eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil er die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat. Die Qualifikation hat ihren Grund in der besonderen Rücksichtslosigkeit des Täters, der sein Ziel durch die Schaffung unberechenbarer Gefahren für andere durchzusetzen sucht. Dabei ist nicht allein auf die abstrakte Gefährlichkeit eines Mittels abzustellen, sondern auf seine Eignung und Wirkung in der konkreten Situation unter Berücksichtigung der persönlichen Fähigkeiten und Absichten des Täters. Die Mordqualifikation kann deshalb auch dann erfüllt sein, wenn ein Tötungsmittel eingesetzt wird, das seiner Natur nach, wie hier, nicht gemeingefährlich ist. Maßgeblich ist dann jedoch die Eignung des Mittels zur Gefährdung Dritter in der konkreten Situation (BGH, Urteile vom 16.08.2015 – 4 StR 168/05 -, NStZ 2006, 167, 168; vom 16.03.2006 – 4 StR 594/05 -, NStZ 2006, 503, 504; vom 25.03. 2010 – 4 StR 594/09 -, NStZ 2010, 515; vom 21.12.2016 – 1 StR 375/16 -, juris). Lässt der Unfallverlauf es als möglich erscheinen, dass eine abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer von vornherein ausgeschlossen war, weil sich das Unfallereignis nur außerhalb des Gefahrenbereichs Dritter zutragen konnte, so ist das Mordmerkmal nicht erfüllt (BGH, Beschluss vom 16.01.2007 – 4 StR 598/06 -, NStZ-RR 2007, 174).

Im Vordergrund der Betrachtung steht die besondere Sozialgefährlichkeit des Täters. Tötungen mit gemeingefährlichen Mitteln werden als gesteigert bedrohlich empfunden, weil jedermann ohne Anlass zufällig in den Einzugsbereich eines solchen Tötungsverbrechens geraten kann und dadurch keine Chance hat, sich auf die ihm drohende Gefahr einzustellen und darauf zu reagieren. Die Auslegung des Mordmerkmals hat sich an der Nichtkontrollierbarkeit der Auswirkungen des eingesetzten Tatmittels zu orientieren (Schneider in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage 2012, Rdz. 121 zu § 211). Entscheidend ist, ob der Täter das Tatmittel in der konkreten Situation so beherrscht, dass eine Gefährdung weiterer Personen ausgeschlossen ist (NK-StGB-Neumann, 4. Auflage 2013, Rdz. 87 zu § 211). Keine Bedingung ist, dass es tatsächlich zu einer Vielzahl von Todesopfern kommt. Erforderlich und ausreichend ist, dass für einen vom Täter nicht eingrenzbaren größeren Personenkreis eine konkrete Lebensgefahr bestand bzw. dass das Tatwerkzeug nach seinen typischen Wirkweisen dazu geeignet war, tatsituativ solche Gefahren hervorzurufen (Mitsch in Anwaltkommentar StGB, 2. Auflage 2015, Rdz. 67 zu § 211, Schneider, a.a.O., Rdz. 126). So ist es zum Beispiel unerheblich, dass in dem Zimmer, in welches ein Molotow-Cocktail geschleudert wird, zufällig niemand außer seinem Bewohner ist; es genügt, dass sich dort auch andere Personen befinden konnten (vgl. Jähnke in Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Auflage 2005, Rdz. 57). Die Gefahrverursachung für mindestens drei Personen neben dem unmittelbaren Tatopfer erscheint als ausreichend (Schneider, a.a.O., Rdz. 127, Rengier, StV 1986, 405, 409).

Ist die betroffene Personenanzahl für den Täter nicht berechenbar, beherrscht er den Umfang der Gefährdung nicht, handelt er in besonderer Rücksichtslosigkeit und hat er es nicht in der Hand, wie viele Menschen als Repräsentanten der Allgemeinheit (Rengier, a.a.O., 407) in den von ihm geschaffenen Gefahrenbereich geraten und durch sein Verhalten ihr Leben verlieren können, so ist der Täter wegen eines Mordes „mit gemeingefährlichen Mitteln“ zu bestrafen, sofern er dies in seinen Vorsatz aufgenommen hat und ihm die Gefährdung einer Mehrzahl von Menschen mit tödlichen Verletzungen bewusst war.

So liegt der Fall hier.

Durch ihr Verhalten verursachten die Angeklagten im Kreuzungsbereich der Tauentzienstraße / Nürnberger Straße sowie in dessen Umfeld in einer Ausdehnung von 60 bis 70 Metern ein „Schlachtfeld“. Das Fahrzeug des Geschädigten Wxxxx wurde um die eigene Längs-, Hoch- und Querachse gedreht und in Richtung Wittenbergplatz geschleudert. Der Audi des Angeklagten Hxxxx prallte zweimal gegen die Hochbeeteinfassung des Mittelstreifens der Tauentzienstraße und kam erst nach 60 Metern im Bereich des Kaufhauses Pxxxx zum Stehen. Der Mercedes-Benz des Angeklagten Nxxxx fällte eine auf dem Mittelstreifen befindliche Ampel, riss Teile der dortigen Granitabgrenzung heraus, schob hinter der Hochbeeteinfassung liegende Erde zu einer Art Rampe auf, wurde mehrere Meter weit durch die Luft katapultiert und fand mit dem Heck auf der Hochbeeteinfassung seine Endposition. Weiträumig flogen Teile der Betoneinfassung, größere (Auspuffanlage) und kleinere Fahrzeugteile sowie Splitter durch die Luft und blieben in einem Umfeld von 60 bis 70 Metern verstreut auf der Tauentzienstraße und zu einem kleineren Teil in der Nürnberger Straße liegen. Unmittelbar betroffen wurde der Geschädigte Wxxxx als Fahrer seines Jeeps Wrangler, lebensgefährliche Verletzungen hätten die Zeugen Dxxxx, Wxxxx und Gxxxx erleiden können, die sich weniger als 50 Meter vom Kollisionspunkt entfernt aufhielten. In geringerem Maße galt das auch für die im weiteren Umkreis von 50 bis 100 Metern sich aufhaltenden Zeugen Saxxxx, Sxxxx, Rxxxx und Mxxxx.

Es ist allein glücklichen Umständen zu verdanken, dass zum Unfallzeitpunkt nur das mit dem Geschädigten Wxxxx besetzte Fahrzeug die Unfallkreuzung befuhr. Ebenso gut hätte das Fahrzeug mit vier oder fünf Insassen besetzt sein können. Ihm hätten weitere Fahrzeuge nachfolgen können, auch aus der Gegenrichtung hätten durch grünes Ampellicht bevorrechtigte Fahrzeuge die Tauentzienstraße queren können. Dass dies noch kurz vor dem Unfallgeschehen der Fall war, belegen die Videoaufnahmen der Überwachungskamera der Firma Mxxxx.

Bei dieser Sachlage, insbesondere der bei Einfahrt in den Kreuzungsbereich innegehabten Geschwindigkeit im Bereich des Dreifachzulässigen, und der Unfähigkeit der Angeklagten das Geschehen noch irgendwie zu beherrschen, bestand für einen von ihnen nicht eingrenzbaren größeren Personenkreis eine konkrete Lebens- und Todesgefahr, die sich für den Geschädigten Wxxxx – und für die Zeugin Kxxxx als Beifaherrin des Angeklagten Nxxxx – in tragischer Weise realisiert hat. In dieser Situation schufen die Angeklagten mit besonderer Rücksichtslosigkeit und in nicht mehr zu kontrollierender Art und Weise eine konkrete Gefahrenlage, in der sie es nicht mehr in der Hand hatten, wie viele Menschen als Repräsentanten der Allgemeinheit es treffen würde. Dass ihnen dies bewusst war, ist offensichtlich. Ihre Wegstrecke und insbesondere der nähere Tatortbereich waren  eben nicht auto- und menschenleer. Wie bereits weiter oben ausgeführt worden ist, herrschte ein mäßiger, der Nachtzeit entsprechender Verkehr vor, an dem zumindest die benannten Zeugen als Fußgänger teilnahmen. Auf den inner- bzw. hauptstädtischen Charakter des fraglichen Kreuzungsbereichs zwischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche / Europacenter und Wittenbergplatz / KaDeWe ist bereits hingewiesen worden. Dass dort auch zur Nachtzeit Menschen in welcher Form auch immer am Verkehrsgeschehen teilnehmen würden, lag auf der Hand und war den Angeklagten für ihre Lieblingsstrecke und den „Lifestyle-Kudamm“ auch bekannt.

Im Übrigen ist die Fallkonstellation hinsichtlich des hier in Frage stehenden Mordmerkmals mit dem vom Bundesgerichtshof (4 StR 594/05, a.a.O.) entschiedenen Fall einer Geisterfahrt vergleichbar. Dort hatte der Täter sein unbeleuchtetes Fahrzeug nachts in Suizidabsicht in Gegenrichtung auf eine Autobahn gelenkt und den Tod der Insassen eines in 500 Meter Entfernung entgegenkommenden Autos billigend in Kauf genommen. Das Fahrzeug war tatsächlich mit sechs Insassen besetzt, wovon drei bei der anschließenden Kollision verstarben, während die drei anderen schwer verletzt wurden. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass es für den Angeklagten nicht beherrschbar gewesen sei, welche und wie viele Personen durch das von ihm mit mindestens 117 km/h (!) in den Gegenverkehr gelenkte Fahrzeug gefährdet, verletzt und getötet werden konnten. Auch im hiesigen Fall war unmittelbar nur ein Fahrzeug betroffen, das jedoch zwanglos mit mehreren Insassen hätte besetzt sein können. Anders als im außerstädtischen Autobahnbereich hätten hier durch die Schleuderbewegungen der beteiligten Fahrzeuge und die katapultartigen Ablösungen von Fahrzeugteilen auch nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer betroffen und tödlich bzw. schwer verletzt werden können. Dies gilt nicht zuletzt für die Zeugen Amxxxx und Sxxxx, mit denen der Angeklagte Hxxxx im Bereich des Kaufhauses Pxxxx, wo sein Fahrzeug zum Stillstand gekommen ist, verabredet war.“

Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe hat das LG hingegen abgelehnt, insoweit bitte selbst lesen.

Interessant sind auch die Ausführungen des LG zum (bedingten) Vorsatz, den es – eingehend – von der bewussten Fahrlässigkeit abgegrenzt begründet und u.a. dazu meint:

„Auch liegt entgegen der Auffassung der Verteidigung gegenwärtig nicht eine Situation vor, wonach für Fälle der vorliegenden Art die §§ 211, 212 StGB in subjektiver und objektiver Hinsicht nicht zur Anwendung gelangen dürfen, da die aktuellen gesetzgeberischen Tätigkeiten zur Heraufstufung der Durchführung eines illegalen Autorennes von einer Ordnungswidrigkeit auf eine Straftat eine momentane Regelungslücke belegen würden. Sind die subjektiven und objektiven Tatbestandsvoraussetzungen eines Tötungsdelikts – wie im vorliegenden Fall geschehen – zu bejahen, so ist aus den §§ 211, 212 StGB als geltendem Recht zu strafen.“

Ich bin gespannt, was der BGH mit dem Urteil macht, gegen das Revision eingelegt ist. Die Entscheidung des 4. Strafsenats wird im Zweifel noch vor den Gesetzesänderungen zu den illegalen Autorennen vorliegen.

„ein durch Schlaufe verbundener Auf- und Abstrich“ ist keine Unterschrift, oder: (Daher) Aufhebung

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Manchmal liest man zu bestimmten Fragen und Problemen lange keine Entscheidungen. Und dann häufen sich auf einmal Urteile/Beschlüsse zu diesen Fragestellungen. So geht es mir derzeit mit der Frage der ausreichenden Unterschrift. Dazu hat dann – wenn ich es richtig sehe: zuletzt – der BGH im BGH, Beschl. v. 29.11.2016 – VI ZB 16/16 – Stellung genommen (vgl. dazu Kunstvoll, oder: Halbkreis mit Schnörkeln – ist das (noch) eine Unterschrift?). Da ging es um die Unterzeichnung eines bestimmenden Schriftsatzes im Zivilverfahren durch den Vertreter der Partei. Dem BGH hat der „Halbkreis mit Schnörkeln“ – (noch) gereicht, um ihn als Unterschrift anzusehen. Ich war in dem Zusammenhang gefrgat worden, ob die Gerichte denn auch im Straf-/Bußgeldverfahren mit den richterlichen Unterschriften unter die Urteile ggf. so streng sind. Die Frage hat ja Bedeutung im Hinblick auf die Fertigstellung des Urteils innehalb der Urteilabsetzungsfrist (§ 275 StPO). Denn so lange das Urteil nicht unterschrieben ist, ist es nicht „abgesetzt“ und kommt es dann ggf. zur Aufhebung. Meine Antwort war: Ja.

Und sie wird jetzt bestätigt durch zwei Entscheidungen des OLG Hamm, nämlich den OLG Hamm, Beschl. v. 25.04.2017 – 1 RVs 35/17, den mir der Kollege Tomczak aus Olpe übersandt hat, und den OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.2016 – 1 RVs 94/16, auf den ich auf NRWE gestoßen bin. In beiden Entscheidungen werden die tatrichterlichen Urteile wegen Verstoßes gegen § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO aufgehoben. In beiden Beschlüssen beanstandet das OLG das Fehlen einer „handschriftlichen Unterzeichnung“.

Leider teilt das OLG im OLG Hamm, Beschl. v. 25.04.2017 – 1 RVs 35/17 – keine Einzelheiten mit: Da heißt es nur, dass „das angefochtene Urteil keinerlei handschriftliche Unterzeichnung mit einem Namenszug aufweist.“ Das könnte dafür sprechen, dass das Urteil nicht nur „schlecht“, sondern überhaupt nicht unterschrieben war.

Konkreter ist das OLG dann im OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.2016 – 1 RVs 94/16 – (gewesen).

„Der erkennende Richter hat das von ihm verfasste schriftliche Urteil zu unterschreiben (§ 275 Abs. 2 S. 1 StPO), was einen die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden individuellen Schriftzug erfordert, der sich nicht nur als Namenskürzel (Paraphe) darstellt, sondern charakteristische Merkmale einer Unterschrift mit vollem Namen aufweist und die Nachahmung durch einen Dritten zumindest erschwert (vgl. so und zum Folgenden OLG Köln, a.a.O.; OLG Saarbrücken, a.a.O.; allg. Meyer-Goßner in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Einl. Rn. 129, jew. m. w. N.). Dazu bedarf es nicht der Lesbarkeit des Schriftgebildes; ausreichend ist vielmehr, dass jemand, der den Namen des Unterzeichnenden und dessen Unterschrift kennt, den Namen aus dem Schriftbild herauslesen kann. Das setzt allerdings voraus, dass mindestens einzelne Buchstaben zu erkennen sind, weil es sonst am Merkmal einer Schrift überhaupt fehlt. Diese Grenze individueller Charakteristik ist insbesondere bei der Verwendung bloßer geometrischer Formen oder einfacher (gerader oder nahezu gerader) Linien eindeutig überschritten, die in keinem erkennbaren Bezug zu den Buchstaben des Namens stehen.

Eine diesen Anforderungen genügende Unterschrift weist das Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 05.08.2016 nicht auf, welches lediglich mit einem handschriftlich angebrachten Zeichen versehen ist, das keinerlei Ähnlichkeit mit einem einzigen Buchstaben oder mit einer Buchstabenfolge aus dem Namen des zuständigen Richters aufweist. Dieses Zeichen besteht vielmehr lediglich aus einem durch eine Schlaufe verbundenen Auf- und Abstrich, der große Ähnlichkeit mit einem „L“ aufweist. Der Mangel der erforderlichen Unterzeichnung wird auch nicht dadurch ausgeglichen, dass der Name des Richters unter dieses Zeichen gedruckt ist, da dieser Zusatz die vom Gesetz geforderte Unterzeichnung des Urteils nicht zu ersetzen vermag.“

Und für den Revisionsverteidiger: Es genügt die Sachrüge, um solche Fehler geltend zu machen.

AG Halle: Umbeiordnung – einfach so, oder: Zur Nachahmung empfohlen

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Ebenfalls während meines Urlaubs hat mir der Kollege Odebralski aus Essen den AG Halle (Saale), Beschl. v. 09.05.2017 – 302 Ds 442 Js 6961/16  – übersandt. Er betrifft (mal wieder) das Thema der Umbeiordnung des Pflichtverteidigers. Der Angeklagte hatte in dem Verfahren wegen des Vorwurfs des Verbreitens kinderpornographischer Schriften u.a. bereits einen Verteidiger, das Vertrauensverhältnis zu dem war aber aus Sicht des Angeklagten gestört, der Angeklagte ging von einer Verletzung der anwaltlichen Schweigepflicht durch diesen Verteidiger aus. Er hatte daher den Kollegen beauftragt, der die Umbeiordnung beantragt hatte. Und er hatte mit seinem Antrag Erfolg:

„Zwar ist kein objektiver Grund dafür zu erkennen, dass das Vertrauensverhältnis des Ange­klagten zu Rechtsanwalt S. nachhaltig gestört sein könnte. Insbesondere ist Rechts­anwalt S. keine Verletzung der anwaltlichen Schweigepflicht vorzuwerfen. Als unabhängiges Organ der Rechtspflege ist er berechtigt und unter Umständen verpflichtet, alles geltend zu machen, was zu Gunsten seines Mandanten zu berücksichtigen ist. Aus diesem Grund ist das Schreiben von Rechtsanwalt S. vom 17.02.2017 nicht zu beanstanden. Andererseits ist es, insbesondere bei einem so sensiblen und heiklen Anklagevorwurf wie dem vorliegenden, nicht sachgerecht, dem Angeklagten einen Verteidiger aufzuzwingen, den er nicht haben will. Zwar ist der Angeklagte ordnungsgemäß gemäß § 142 Abs. 1 S. 1 StPO angehört worden, bevor das Gericht Rechtsanwalt S. bestellt hat. Andererseits hat der Angeklagte aber Rechtsanwalt Odebralski nur wenige Tage nach Ablauf dieser Frist beauftragt, so dass insbesondere angesichts der aus den Akten ersichtlichen Unbeholfenheit des Angeklagten im Schriftverkehr dem Angeklagten durch eine Fristüberschreitung um wenige Tage keine Nachteile entstehen sollen. Da das Gericht noch keine Termine festgesetzt hat, entsteht durch die Änderung der Beiordnung auch keine Verfahrensverzögerung. Ausnahmsweise erscheint es daher unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens und der pro­zessualen Fürsorge geboten, dem Wunsch des Angeklagten nachzukommen und Rechts­anwalt Odebralski beizuordnen.“

Der Kollege Odebralski hatte mir den Beschluss geschickt und nach meiner Einschätzung gefragt: Bemerkenswert – wovon der Kollege ausging – oder nicht. Und ich bin mit ihm der Auffassung, dass das Vorgehen des AG schon bemerkesnwert ist. Das AG zieht sich nämlich nicht auf den formalen Gesichtspunkt zurück: Du hast einen Pflichtverteidiger, sondern ordnet auf den „Wunschpflichtverteidiger“ um. Und das dann auch noch ohne die „Gebührenkrücke“: Keine Mehrkosten. Daher: Zur Nachahmung empfohlen.

AG Tiergarten: Keine Entziehung der Fahrerlaubnis bei 3,64 Promille, oder: Geduld muss man haben

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Zweiter „Aufräumtag“ nach dem Urlaub. Den eröffne ich mit dem AG Tiergarten, Urt. v. 20.04.2017 – (315 Cs) 3023 Js 2034/16 (254/16). Bei der Entscheidung handelt es sich um den zweiten „Durchgang“ – der BGH spricht manchmal vom „Rechtsgang“ – nach dem KG, Urt. v. 20.12.2016 – (3) 121 Ss 163/16 (111/16) (vgl. dazu Dreimal KG, oder: Einwilligung in die Blutentnahme/Verfahrensrüge, BAK von 3,64 Promille und Strafzumessung). Der Kollege Kroll – Verteidiger in dem Verfahren – hat in seiner Übersendungsmail darauf hingewiesen, dass der Strafsenat in der Revisionshauptverhandlung die Rücknahme der Revision angeregt hatte, um die Sperrzeit für den Angeklagten kürzer zu halten. Der Kollege hatte aber noch eine erfolgreiche Verkehrstherapie in petto, die er bis dahin nicht vorgetragen hatte. Er hatte die Sache entscheiden lassen und hat dann beim AG jetzt die Therapiebescheinigung über die Verkehrstherapie vorgelegt. Und es hat sich für den Mandanten gelohnt: Die Fahrerlaubnis gab es in der Verhandlung zurück, und das nach einen BAK von 3,64 Promille! „Mein neuer Spitzenreiter!“ schreibt der Kollege.

Zur Verkehrstherapie führt das AG dann aus:

3. Dem Angeklagten, ist neben der Strafe die Fahrerlaubnis nicht zu entziehen. Zwar liegt in der vom Angeklagten begangenen Tat ein Regelfall des §§ 69 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB vor, der nach Auffassung des Gesetzgebers regelmäßig zur Entziehung der Fahrerlaubnis führt. Der Angeklagte weist jedoch in seiner Person als auch in dem Nachtatverhalten wesentliche Besonderheiten auf, durch die die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels zum jetzigen Zeitpunkt kompensiert wird.

Der Angeklagte hat selbständig, ohne dass es äußeren sozialen Druckes bedurfte, seit dem 3. April 2016, also mehr als 1 Jahr, keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Dabei hat er sich bewusst — entgegen dem Rat seiner Frau und Familie — dafür entschieden, dass das in der Wohnung des Angeklagten befindliche Weinregal und die Hausbar nicht entfernt werden sollen, um den Umgang mit der Abstinenz zu erlernen.

In der Zeit vom 3. April 2016 bis zum 4. April 2017 hat der Angeklagte erfolgreich eine verkehrspsychologische Einzeltherapie bei Dipl-Psych. R. absolviert, bei der er in 18 Einzelsitzungen (á 50 Minuten) sich intensiv mit dem Umgang mit Alkohol und seiner Tat auseinandergesetzt hat. Daneben hat er bislang vier spontan stattfindende Urin-Screenings im Rahmen eines Drogenabstinenzprogramms durchgeführt, die jeweils einen negativen Befund aufwiesen,

Die Ehe- und Familiensituation hat sich nach den glaubhaften Angaben der Ehefrau des Angeklagten dahingehend geändert, dass der Angeklagte offener und zugänglicher geworden ist, indem sie gemeinsam kulturelle Veranstaltungen wahrnehmen und der Angeklagte zwei bis drei Mal in der Woche Sport treibt, welches vor dem Unfall undenkbar gewesen sei. Der Angeklagte geht mit seinem Alkoholismus offen in der Familie und dem Freundeskreis um und erfährt zahlreiche Unterstützung. Selbst einen tragischen Zwischenfall in seiner Familie, bei dem der Angeklagte Ende des vergangenen Jahres um das Leben seines Sohnes bangen musste, hat er ohne „zur Flasche zu greifen“ überstanden und auch diese für das Gericht nachvollziehbar schwere Situation gemeistert.

Nach alledem ist das Gericht – auch vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte seit dem Tattag am 11. Februar 2016 und damit mehr als 14 Monate ohne Führerschein ist und das Verfahren rund 10 Monate andauert – überzeugt, dass dem Angeklagten eine günstige soziale Prognose gestellt werden kann. Es besteht für das Gericht kein Zweifel, dass der Angeklagte (wieder) geeignet ist am Straßenverkehr als Fahrzeugführer teilzunehmen.

4. Entgegen der Auffassung des Verteidigers konnte auch von einem deklaratorischen Fahrverbot abgesehen werden, welches in der Regel zu verhängen ist, wenn in den Fällen einer Verurteilung wegen (fahrlässiger) Trunkenheit die Entziehung der Fahrerlaubnis unterblieben ist, § 44 Abs. 1 S. 2 StGB. Dabei ist das Gericht davon ausgegangen, dass zwischen der Hauptstrafe (hier der Geldstrafe) und der Nebenstrafe des Fahrverbots eine Wechselwirkung besteht. Die Nebenstrafe darf nur verhängt werden, wenn die Hauptstrafe allein den mit der Nebenstrafe verfolgten spezialpräventiven Zweck nicht erreichen kann, und beide zusammen die Tatschuld nicht überschreiten (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 10. Januar 2007 — (3) 1 Ss 389/06 (125/06) —, juris). Dies vorangestellt, ist das Gericht überzeugt, dass die Geldstrafe ausreicht, dem Angeklagten sein Fehlverhalten vor Augen zu halten. Die unter Ziffer 3 aufgezeigten besonderen Umstände, gebieten es von der Regelvermutung des § 44 Abs. 1 S. 2 StGB abzuweichen. Hinzu kommt, dass seit der Tat rund 14 Monate vergangen sind, sodass der Sinn und Zweck eines Fahrverbots als Warnungs- und Besinnungsstrafe durch Einwirken in angemessenem zeitlichen Abstand zur Tat auf den Täter nicht mehr erfüllt werden kann.“

Ein schöner Erfolg – es hat noch nicht einmal ein Fahrverbot nach § 44 StGB gegeben. Warten/Geduld kann sich also lohnen. Das Zurückhalten der Verkehrstherapie ist natürlich nicht ganz ungefährlich. Aber: Es macht sich natürlich nicht so gut, wenn man die Blutprobe als unverwertbares Beweismittel angreift und gleichzeitig eine umfassende Therapiebescheinigung vorlegt. Allerdings: Wenn die Revision nicht durchgeht, dann war es das mit der Therapie.