Archiv für den Monat: August 2016

„Standfest“ bzw. „handfester Beweis“, oder: Wo ist die (Viagra)Tablette?

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Der Kollege Gratz hat gestern schon in seinem VerkehrsrechtsBlog über den VG Freiburg, Beschl. v. 28.7.2016 – 4 K 1916/16 – berichtet, und zwar im Hinblick auf die in der Entscheidung eine Rolle spielende „Viagra-Tablette“ mit dem schönen Titel: „Kein Fahrerlaubnisentzug: VG bleibt bei Viagra-Besitz standhaft“ :-). In der Entscheidung geht es um die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen eine Fahrerlaubnisentziehung und die Untersagung des Führens von Kraftfahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr. Die Fahrerlaubnissbehörde hatte dem Antragsteller des Verfahrens die Fahrerlaubnis entzogen und seine Nichteignung damit begründet, dass der Betroffene sich geweigert habe, sich untersuchen zu lassen bzw. ein von der Fahrerlaubnisbehörde gefordertes Gutachten nicht fristgerecht beigebracht habe. Die Aufforderung zu dem Gutachten hatte die Fahrerlaubnisbehörde damit begründet, dass der Betroffene Betäubungsmittel im Sinne des BtMG widerrechtlich besessen habe. Dabei ging es um 0,4 g Haschisch und um den „Fund einer halben Tablette letztlich unbekannter Substanz“, von der der Betroffene behauptet hatte: Viagra.

Die 0,4 g Haschiach reichen für die Anordnung des Gutachtens nicht. Das hatte die Fahrerlaubnisbehörde selbst schon gesehen und bekommt sie jetzt vom VG bestätigt: „Denn nicht jeder nachgewiesene Besitz von Haschischprodukten darf zum Anlass genommen werden, eine ärztliche Begutachtung zu verlangen. Letzteres setzt tatsächliche Anhaltspunkte dafür voraus, dass bei dem Betroffenen ein Konsum- oder Bevorratungsverhalten gegeben ist, das – anders als ein bloß gelegentlicher Cannabiskonsum – aus sich heraus andauernde Zweifel an der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs rechtfertigt (vgl. u. a. Hess VGH, Urteil vom 24.11.2010, NJW 2011, 1691; Nieders. OVG, Beschluss vom 03.06.2010 – 12 PA 41/10 -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 15.05.2009 – 16 B 114/09, juris; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., FeV [3] § 14 RdNr. 17, m.w.N.). Solche Anhaltspunkte fehlen hier vor allem in Anbetracht der Rechtslage, nach der der gelegentliche Konsum von Cannabis-Produkten die Kraftfahreignung nicht ausschließt, solange der Betreffende zwischen dem Konsum und dem Fahren von Fahrzeugen trennen kann, gänzlich.“

Dann ist da aber noch der „Fund einer halben Tablette letztlich unbekannter Substanz“. Aber auch der reicht dem VG nicht. Denn: „Insoweit muss es weitestgehend feststehen, dass es sich bei dem Gegenstand, der sich im Besitz des Antragstellers befand, um ein Betäubungsmittel handelt … Denn es fehlt hier selbst an einer solchen überwiegenden Wahrscheinlichkeit dafür, dass die halbe Tablette in der Hosentasche des Antragstellers ein Betäubungsmittel, nach Auffassung der Antragsgegnerin konkret in der Form von Ecstasy, war.“

Und dazu dann das VG:

Der Antragsteller hat nach seinem Vortrag, dem die Antragsgegnerin insoweit nicht zu widersprechen vermag, von Anfang an behauptet, dass es sich bei der bei ihm gefundenen halben Tablette um eine halbe Viagra-Tablette gehandelt habe. Diese Behauptung ist ihm, nachdem die Polizei diese halbe Tablette, die sie zunächst beschlagnahmt hatte, offenkundig nicht mehr in ihrem Besitz hat, nicht zu widerlegen. Der Antragsteller hat die Tablette genau nach Farbe (lila) und Namen („Fildena Generika 100 mg“) bezeichnet, wie sie nach Recherchen der Kammer im Internet tatsächlich auch im Handel ist. Allein die in einem Aktenvermerk einer Mitarbeiterin der Antragsgegnerin über ein Telefongespräch mit dem zuständigen Polizeibeamten enthaltene Behauptung, ein Polizeibeamter könne aufgrund seiner Erfahrung mit bloßem Auge ohne Weiteres Ecstasy-Pillen als solche erkennen, reicht für die erforderliche Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller Ecstasy tatsächlich besessen haben soll, nicht aus (in dem betreffenden Aktenvermerk ist des Weiteren u. a. wörtlich festgehalten: „Irrtümer gebe es nur in 99 % der Fälle“). Denn ob eine solche Behauptung bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation hinreichend belastbar ist, unterliegt aus Sicht der Kammer nicht unerheblichen Zweifeln. Die Antragsgegnerin trägt in ihrer Antragserwiderung vor, Polizisten könnten anhand des optischen Erscheinungsbildes, des Geruchs oder Ähnlichem sehr wohl deutlich erkennen, ob es sich bei den aufgefundenen Materialien um Drogen oder nicht um Drogen handele. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass gerade Ecstasy-Tabletten in allen erdenklichen Farben und Formen, auch in den ihrerseits ebenso vielfältigen Farben und Formen von Viagra- bzw. Viagra-Generika-Tabletten, auf dem Markt sind und dass Ecstasy geruchslos ist (siehe u. a.: http://www.ecstasy-info.de/; http://www.drogenberatung-konstanz.de/index.php?option=com_content&view=article&id=53&Itemid=58). Insoweit ist die Situation – entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin – nicht vergleichbar mit Haschisch bzw. Marihuana, das sich wegen des Aussehens und des Geruchs recht deutlich von anderen Substanzen unterscheiden lässt. Angesichts dieser Unsicherheit ist die Behauptung des Antragstellers, bei der halben Tablette in seiner Hosentasche habe sich es um Viagra gehandelt, nicht mit dem gebotenen Grad an Wahrscheinlichkeit zu widerlegen, zumal das betreffende Asservat nach Auskunft des Landeskriminalamts inzwischen vernichtet sei.

Was ich mich frage: Wo ist die „halbe Tablette letztlich unbekannter Substanz“ und wer hat sie wie vernichtet? Da bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, über die man spekulieren könnte.Aber was bringen Spekulationen, wenn es um einen handfesten Beweis geht. 🙂

Klassischer (Anfänger)Fehler XXXIII: Fehlender rechtlicher Hinweis, oder: Nichts mehr zu retten

© J.J.Brown - Fotolia.com

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Für den BGH, Beschl. v. 14.06.2016 – 3 StR 196/16 – muss man m.E. an sich eine neue Rubrik aufmachen. Denn das was sich eine Strafkammer des LG Trier da geleistet hat, ist m.E allein mit dem Begriff  „Klassischer Fehler“ nicht mehr ausreichend umschrieben. Es ist zumindest ein „klassischer Anfängerfehler“, wenn nicht mehr, wenn von einer Strafkammer, die ja immerhin zumindest mit einem Vorsitzenden Richter am LG und einem Richter am LG besetzt ist, uralte Rechtsprechung des BGH, die ständige Rechtsprechung des BGH ist, negiert.

Der Sachverhalt ist ganz einfach: Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legte dem Angeklagten zur Last, einen ihm vorgeworfenen schweren Raub gemeinschaftlich mit einem Mitangeklagten A. begangen zu haben (§ 25 Abs. 2 StGB). Verurteilt hat das LG dann nur den Angeklagten, während A. freigesprochen worden ist. Die Strafkammer hielt es für möglich, dass der Angeklagte die Tat allein begangen hatte. Einen Hinweis hierauf hat sie ihm nicht erteilt. Und das war es dann:

„Diese Verfahrensweise verletzt § 265 Abs. 1 StPO. Will das Gericht im Urteil von einer anderen Teilnahmeform ausgehen als die unverändert zugelassene Anklage, so muss es den Angeklagten gemäß § 265 Abs. 1 StPO zuvor darauf hinweisen und ihm Gelegenheit geben, seine Verteidigung darauf einzu-richten; das gilt auch bei einer Verurteilung wegen Alleintäterschaft statt Mittäterschaft (vgl. BGH, Urteil vom 8. Oktober 1957 – 1 StR 318/57, BGHSt 11, 18, 19; Beschlüsse vom 7. September 1977 – 3 StR 299/77, juris Rn. 1; vom 16. Februar 1989 – 1 StR 24/89, BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 5; vom 17. Mai 1990 – 1 StR 157/90, NStZ 1990, 449; Urteil vom 24. Oktober 1995 – 1 StR 474/95, StV 1997, 64; Beschlüsse vom 17. Januar 2001 – 2 StR 438/00, juris Rn. 3; vom 14. Oktober 2008 – 4 StR 260/08, juris Rn. 8; vom 22. März 2012 – 4 StR 651/11, juris Rn. 3; vom 30. Juli 2013 – 2 StR 150/13, juris Rn. 1).“

Da war dann nichts mehr zu retten, auch wenn der GBA es über die Beruhensfrage versucht hat:

„Entgegen der vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vertretenen Auffassung beruht das Urteil auf diesem Verstoß. Zwar ging schon der mit der zugelassenen Anklage erhobene Tatvorwurf dahin, dass der Angeklagte die Tathandlung als solche allein ausführte, während der dem Mitangeklagten A. zur Last gelegte Tatbeitrag im Wesentlichen darin bestand, den Tatplan entwickelt und den Angeklagten für die Ausführung der Tat angeworben zu haben. Abgesehen davon, dass der Anklagevorwurf – wie sich aus dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ergibt – außerdem auf der Annahme gründete, dass A. dem Angeklagten während der Tatausführung telefonisch Anweisungen erteilte, kommt es für die Beruhensfrage nicht darauf an, ob die Möglichkeit einer anderen Verteidigung nahe liegt; es genügt vielmehr, dass sie nicht mit Sicherheit auszuschließen ist (BGH, Beschlüsse vom 7. September 1977 – 3 StR 299/77, juris Rn. 2; vom 16. Februar 1989 – 1 StR 24/89, BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 5); das ist hier der Fall.“

Das war es also…..

Wer auf Facebook hetzt, kann nicht Schöffe sein

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Das KG hat im KG, Beschl. v. 25.05.2016 – 3 ARs 5/16 – eine Berliner Schöffin ihres Amtes enthoben (§ 51 GVG). Grund: Die Schöffin hatte im Internet, und zwar in ihrem Facebook-Profil, Hassbotschaften gegen Pädophile und Ausländer verbreitet und die Todesstrafe, harte Körperstrafen und Selbstjustiz propagiert. Das KG hat darin eine gröbliche Verletzung der Amtspflichten gesehen. Dabei ging s um folgende Postings:

  • Unter dem Thema  „Schützt unsere Kinder“ war ein Bild eingestellt, zeigt mehrere unbekleidete und gefesselte Männer, denen Ratten die Genitalien abfressen, geziegt. Dazu war geschrieben: „Das sollte man wieder einführen ganz ehrlich was sind das denn heute für Strafen kosten nur unnötig Geld dem Steuerzahler und sind ganz ehrlich nicht zu heilen!“
  • Eingestellt war ein, dass eine Pistolenkugel enthält, mit dem Zusatz: „Auch ein Kinderschänder sollte was im Kopf haben!“ 
  • Eingestellt war Bild ein, welches einen Serienmörder aus der Filmreihe „Saw“ zeigt. Das Bild ist versehen mit der Bemerkung: „Verletze mein Kind und ich lasse deinen Tod wie einen Unfall aussehen“. Die Schöffin kommentiert dieses Bild mit „Ohhhh jaaaaa!“
  • In einem Posting wurden Asylbewerber als „Halbwilde“ und „Tiere“ bezeichnet.
  • Eingestellt war auch eine Karikatur festgestellt, auf der ein Arzt gezeigt wird, der im Begriff ist, mit einem übergroßen Holzhammer auf die Hoden eines auf einem Operationstisch liegenden Patienten einzuschlagen. Darüber heißt es: „Zwangskastration! Für Kinderschänder und Vergewaltiger!“
  • In einem gleichfalls auf der Seite hochgeladenen „Gedicht“ heißt es: „Als perverses Schwein bist du geboren, in diesem Land hast du nichts verloren!!! Darum fordern wir für alle Länder Todesstrafe für Kinderschänder!!! Für Eure Taten sollt Ihr büßen!!! Ihr sollt Euer Leben nie wieder genießen, die Erfahrungen zeigen, dass Therapien nichts nützen!!! Nur Euer Tod kann Kinder schützen!!!“.

Die Schöffin hat bestritten, dass die Postings von ihr stammen und behauptet, dass sich ihr Ehemann ihres Accounts bemächtigt und dort Bilder und Nachrichten hochgeladen habe. Das KG hat das nicht geglaubt und ist von der Urheberschaft der Schöffin ausgegangen. Und in den Postings hat das KG eine Verletzung der Amtspflichten gesehen:

2. Die Schöffin hat durch die Veröffentlichungen ihre Amtspflichten gröblich verletzt, § 51 Abs. 1 GVG. ……

b) Derart gravierende Verletzungen außerdienstlicher Pflichten hat die Schöffin begangen, indem sie im Internet Hassbotschaften gegen Pädophile und Ausländer verbreitete, die Todesstrafe und entgrenzte Körperstrafen propagierte sowie Selbstjustiz bewarb. Hass gegen Straftäter und Ausländer und die Forderung nach maßlos übersteigerten Strafen und Selbstjustiz sind mit der Tätigkeit einer Recht und Gesetz verpflichteten Schöffin nicht in Einklang zu bringen.

Indem die Schöffin unter dem Titel „Schützt unsere Kinder“ ein Bild mit vor Schmerzen schreienden Männern veröffentlichte, deren Genitalien von übergroßen Ratten gefressen werden, hat sie gezeigt, dass sie an einer die Grundrechte der Beschuldigten respektierenden Rechtsprechung kein Interesse hat und eine grob menschen- und rechtsstaatwidrige Verfahrensgestaltung bevorzugt. Diese Einschätzung wird verstärkt dadurch, dass die Schöffin dem Bild den eigenen Text hinzugefügt hat: „Das sollte man wieder einführen“, weil das geltende Recht „nur unnötig Geld“ koste und nichts bewirke. Eine ähnliche Denkweise offenbart auch das Post mit einem Projektil und dem Text „Auch ein Kinderschänder sollte etwas im Kopf haben!“ Dieses Posting bewirbt nicht nur, was in sachlicher Weise gegebenenfalls zulässig wäre, die Todesstrafe für schwere Delikte. Vielmehr propagiert es sie in plumper und hetzerischer Manier. Dies gilt auch für das bereits am 15. Oktober 2015 veröffentlichte und noch im Mai 2016 im öffentlichen Facebookbereich abrufbare „Gedicht“, in dem es heißt: „Als perverses Schwein bist du geboren, in diesem Leben hast du nichts verloren!!! … Nur Euer Tod kann Kinder schützen!!!“ Mit diesem Text spricht die Schöffin pädophilen Straftätern das Menschsein ab und fordert auf dieser Grundlage ihre Tötung. Auch die Forderung nach „Zwangskastration für Kinderschänder und Vergewaltiger“ über dem Bild eines mit einem Holzhammer auf die Hoden eines Mannes einschlagenden Arztes offenbart die Sehnsucht der Schöffin nach einem entgrenzt und rücksichtslos strafenden Staat. Noch darüber hinaus geht die Veröffentlichung mit dem Text „Verletze mein Kind und ich lasse deinen Tod wie einen Unfall aussehen“. Hier wirbt die Schöffin nicht nur für die (staatlich zu vollstreckende) Todesstrafe, sondern für Selbstjustiz, wobei die Ermordung des Täters vertuscht werden soll. Auch mit der Bezeichnung von Ausländern als „Halbwilde“ und „Tiere“ spricht die Schöffin Menschen ihr Menschsein ab.

Keine dieser in den Veröffentlichungen zum Ausdruck kommenden Sichtweisen ist mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und mit der Tätigkeit einer Recht und Gesetz verpflichteten und gerecht sowie unabhängig urteilenden Schöffin in Einklang zu bringen. Die Radikalität und Penetranz der über viele Monate getätigten Äußerungen schließt auch aus, dass es sich bei den in den Veröffentlichungen liegenden gröblichen Amtspflichtverletzungen um singuläre Verfehlungen handeln könnte. Vielmehr spricht alles dafür, dass die Schöffin über ein verfestigtes Weltbild verfügt, in dem Personengruppen, über die sie möglicherweise zu richten hat, nicht als Menschen erscheinen.“

Dem ist m.E. nichts hinzuzufügen außer: Recht so.

Wenn der Richter krank wird/war, oder: Immer schön der Reihe nach

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Ich habe vorhin gerade über den BGH, Beschl. v. 11.05.2016 – 1 StR 352/15 (vgl. Urteilsunterschift: „BE ist in Urlaub“, reicht, oder: Da kommt man kaum ran….) berichtet. Dazu passt dann ganz gut der KG, Beschl. v. 10.06.2016 (4) 121 Ss 75/16 (99/16). Er behandelt auch ein Problem aus dem Bereich des § 275 StPO, nämlich die Frage der Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist bei Erkrankung des einzigen Berufsrichters, hier in der Berufungskammer. Da war die Vorsitzende während des Laufs der Urteilsabsetzungsfrist erkrankt und dienstunfähig . Als sie wieder im Dienst war, hat sie zunächst eine Hauptverhandlung vorbereitet und durchgeführt und sich erst dann um die Absetzung des Urteils gekümmert.

Das KG sagt: Falsche Reihenfolge. Denn – so der Leitsatz:  Ist der einzige Berufsrichter durch Krankheit an der fristgerechten Urteilsabsetzung gehindert, so hat er das Urteil nach Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit ohne jede weitere Verzögerung und mit Vorrang vor anderen aufschiebbaren Dienstgeschäften zu den Akten zu bringen. Die Vorbereitung und Durchführung einer Hauptverhandlung muss demgegenüber zurücktreten, ggf. ist sie nach Feststellung der dienstlichen Verhinderung durch das Präsidium dem Vertreter zu übertragen. Das KG begründet die Aufhebung des verspätet abgesetzten Urteils:

„bb) Das Tatbestandsmerkmal „solange“ des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO war aber nicht mehr erfüllt, als das Urteil am 20. Januar 2016 auf der Geschäftsstelle einging. Ist das Urteil infolge eines im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstandes nicht binnen der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gelangt, muss das Gericht das Urteil bei Beseitigung des Hindernisses mit aller möglichen Beschleunigung fertigstellen (vgl. BGH a.a.O.; BayObLG a.a.O.). Das ist vorliegend nicht geschehen.

Das der Urteilsabsetzung durch die Vorsitzende der kleinen Kammer entgegen stehende Hindernis war mit der (zwischenzeitlichen) Wiederherstellung ihrer Dienstfähigkeit ab dem 19. Dezember 2015 weggefallen. Da zu diesem Zeitpunkt die Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO bereits verstrichen war, war das Urteil nunmehr unverzüglich, ohne jede weitere Verzögerung und mit Vorrang vor anderen Dienstgeschäften zu den Akten zu bringen. Zwar ist es nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende der Fertigstellung des früher verkündeten und ebenfalls mit der Revision angefochtenen Urteils in der Berufungssache 580-195/13 Vorrang vor der Urteilsabsetzung in hiesiger Sache eingeräumt hat. Denn es steht im pflichtgemäßen Ermessen des Richters, in welcher Reihenfolge er mehrere rückständige Urteile absetzt (vgl. LR/Stuckenberg a.a.O. Rn. 13 m.w.Nachw.). Dass dieses Ermessen vorliegend fehlerhaft ausgeübt worden wäre, ist nicht ersichtlich. Die Pflicht des Gerichts, nach Wegfall des Hinderungsgrundes das Urteil schnellstmöglich mit den Gründen versehen und unterschrieben zu den Akten zu bringen, geht aber allen aufschiebbaren Dienstpflichten vor. Die Vorbereitung und Durchführung der Berufungshauptverhandlung in der Nichthaftsache 580-25/14 hatte danach zurückzutreten, um eine rasche Absetzung des bereits verkündeten und überfälligen Urteils innerhalb der der Vorsitzenden für die Erfüllung ihrer richterlichen Aufgaben zur Verfügung stehenden Arbeitszeit – sie war im fraglichen Zeitraum nur mit einem halben Richterpensum in der Rechtsprechung (als amtierende Vorsitzende der 80. kleinen Strafkammer) tätig und hat mit einem halben Richterpensum Verwaltungstätigkeit als Leiterin der Führungsaufsichtsstelle verrichtet – zu ermöglichen. Der Termin zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung am 30. Dezember 2015 hätte daher – auch wenn es sich bei der zu verhandelnden Sache um ein (ebenfalls) sehr altes Verfahren mit Tatvorwürfen aus dem Jahre 2012 gehandelt hat – verlegt oder nach vorheriger Feststellung der dienstlichen Verhinderung der Vorsitzenden durch das Präsidium des Landgerichts von dem im Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Vertreter wahrgenommen werden müssen. Angesichts des Umstandes, dass die Berufungen, über die mit dem angefochtenen Urteil entschieden worden ist, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt gewesen sind, dem Urteil eine Verständigung im Strafverfahren vorausgegangen und der Umfang der durchgeführten Beweisaufnahme überschaubar war, hätte das Urteil in der tatsächlich für die Vorbereitung und Durchführung der Berufungshaupt-verhandlung in der Sache 580-25/14 aufgewendeten Arbeitszeit im richterlichen Dezernat von der Vorsitzenden fertiggestellt und noch vor ihrer erneuten Erkrankung am 4. Januar 2016 zu den Akten gebracht werden können.“

Also: Immer schön der Reihe nach….

Urteilsunterschift: „BE ist in Urlaub“, reicht, oder: Da kommt man kaum ran….

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Streit gibt es in der Praxis häufig um den sog. Verhinderungsvermerk des Vorsitzenden, wenn einer/der Beisitzer das schriftich begründete Urteil „wegen Verhinderung“ nicht selbst innerhlab des sich aus § 275 StPO ergebenden Frist hat unterzeichnen können. Dann geht es (immer) darum, ob eigentlich ein ausreichender Grund für die Verhinderung vorlag/festgestellt worden ist. Damit befasst sich der BGH, Beschl. v. 11.05.2016 – 1 StR 352/15. Der Beisitzer war in Urlaub und deshlab – so die Auffassung des Vorsitzenden – an der Unterschriftleistung gehindert. Die Revision hatte die Annahme des Vorsitzenden beanstandet. Ohne Erfolg, denn:

(1) Nach in der Sache übereinstimmender Rechtsprechung des Bunde-gerichtshofs steht dem Vorsitzenden ein Spielraum hinsichtlich der Annahme der Verhinderung eines Beisitzers aus tatsächlichen Gründen zu (vgl. BGH, Urteile vom 18. Januar 1983 – 1 StR 757/82, BGHSt 31, 212, 215; vom 23. Ok-tober 1992 – 5 StR 364/92, NStZ 1993, 96; BGH, Beschluss vom 14. Septem-ber 2011 – 5 StR 331/11, BGHR StPO § 275 Abs. 2 Satz 2 Verhinderung 8 sowie Beschluss vom 27. Oktober 2010 – 2 StR 331/10, NStZ 2011, 358 f.). Teils wird dieser Spielraum als Ausübung pflichtgemäßen Ermessens verstanden (BGH, Urteile vom 18. Januar 1983 – 1 StR 757/82, BGHSt 31, 212, 215; vom 23. Oktober 1992 – 5 StR 364/92, NStZ 1993, 96), teils als Beurteilungsspielraum gedeutet (BGH, Beschlüsse vom 14. September 2011 – 5 StR 331/11, BGHR StPO § 275 Abs. 2 Satz 2 Verhinderung 8 und vom 27. Oktober 2010 – 2 StR 331/10, NStZ 2011, 358 f.). Ungeachtet der Unterschiede in den Formulierungen besteht in der Sache Einigkeit darüber, dass der im Verhinderungsvermerk genannte Grund generell geeignet sein muss, den Richter von der im Gesetz als Grundsatz vorgesehenen Unterschriftsleistung (§ 275 Abs. 2 Satz 1 StPO) abzuhalten (BGH, Urteile vom 18. Januar 1983 – 1 StR 757/82, BGHSt 31, 212, 215 und vom 23. Oktober 1992 – 5 StR 364/92, NStZ 1993, 96). Durch Urlaub eines Richters bedingte Abwesenheit stellt einen solchen Grund dar (siehe nur BGH, Beschluss vom 14. September 2011 – 5 StR 331/11, BGHR StPO § 275 Abs. 2 Satz 2 Verhinderung 8; Greger in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl., § 275 Rn. 33 mwN; Frister in Systematischer Kommentar zur StPO, 4. Aufl., Band V, § 275 Rn. 35). Ob im konkreten Fall ein generell geeigneter Grund zur Verhinderung eines an der Urteilsfindung beteiligten Richters führt, obliegt der Beurteilung des Vorsitzenden (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1983 – 1 StR 757/82, BGHSt 31, 212, 215).

Wurde – wie vorliegend – eine Verhinderung fristgerecht beurkundet und auf einen diese grundsätzlich tragenden Grund gestützt, kann das Revisionsgericht die Entscheidung des Vorsitzenden lediglich daraufhin überprüfen, ob dabei der eingeräumte Spielraum in rechtsfehlerhafter Weise überschritten ist oder die Annahme der Verhinderung auf sachfremden Erwägungen beruht und sie sich deshalb als willkürlich erweist (BGH, aaO BGHSt 31, 212, 214; BGH, Urteil vom 23. Oktober 1992 – 5 StR 364/92, NStZ 1993, 96; BGH, Beschluss vom 8. Juni 2011 – 3 StR 56/11 Rn. 13; Greger in Karlsruher Kommentar zur StPO, aaO, § 275 Rn. 70; Frister in Systematischer Kommentar zur StPO, aaO, § 275 Rn. 47 i.V.m. Rn. 33). Diese Voraussetzungen sind auf der Grundlage der von den Revisionen vorgetragenen tatsächlichen Umstände nicht gegeben.

(2) Soweit die von Rechtsanwältin Be. begründete Revision des Angeklagten B. geltend macht, bereits bei einer anderen Gestaltung der Hauptverhandlungstermine hätte die Vorsitzende eine Unterschriftsleistung durch den urlaubsabwesenden Richter ermöglichen können, zeigt sie damit sachfremde Erwägungen oder eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums nicht auf. Die Vorsitzende war auch nicht gehalten, mit der Anbringung eines Verhinderungsvermerks bis zum Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist zu warten, um gegebenenfalls dem zu diesem Zeitpunkt urlaubsabwesenden Beisitzer noch eine Unterschriftsleistung zu ermöglichen. Es handelt sich um eine Höchstfrist, deren Zweck darin besteht, der „Erfahrung nachlassender Erinne-rung“ zu begegnen und eine möglichst frische Erinnerung an die Ergebnisse der Hauptverhandlung und der Beratung zu sichern (BGH, Beschluss vom 21. April 2015 – 1 StR 555/14 Rn. 12 mwN). Dies darf in die Entscheidung, einen Ver-hinderungsvermerk vor Ausschöpfung der Absetzungsfrist anzubringen, einbezogen werden.“

Also: Weites Ermessen/weiter Beurteilungsspielraum des Vorsitzenden, an den/das man mit der Revision nur schwer „ran kommt“.