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OWi II: Dreimal Fahrverbot, oder: elektronisches Gerät, Zeitablauf, Anmietung einer Unterkunft (?)

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zum Fahrverbot (§ 25 StVG), und zwar:

Zunächst der Hinweis auf den BayObLG, Beschl. v. 19.01.2021 – 202 ObOWi 1728/20. Das AG hatte vom Regelfahrverbot wegen „im öffentlichen Interesse“ liegender ärztlicher Tätigkeit in einer Notaufnahme abgesehen. Das BayObLG sieht das natürlich anders und hebt auf und meint:

  1. Allein die mit nächtlicher Rufbereitschaft an Wochenenden und im Urlaub verbundene leitende ärztliche Funktion in der zentralen Notaufnahme eines Klinikums mit Schwerpunktversorgung rechtfertigt ein Absehen von einem bußgeldrechtlichen Regelfahrverbot oder sonstige Fahrverbotsprivilegierungen als im „überwiegenden öffentlichen Interesse“ liegend auch dann nicht, wenn der oder die Betroffene daneben im Notarztdienst engagiert und zur Gewährleistung der Einsatzbereitschaft und zur beruflichen Pflichtenerfüllung auf eine private Kraftfahrzeugnutzung angewiesen ist.
  1. Wird ein Absehen von einem an sich verwirkten Fahrverbot mit der Angewiesenheit auf die Kraftfahrzeugnutzung zur Erreichung des Arbeitsplatzes begründet, müssen sich die Urteilsgründe auch dazu verhalten, warum der oder die Betroffene nicht darauf verwiesen werden kann, vorübergehend eine angemessene Unterkunft in Arbeitsplatznähe anzumieten (Anschluss an OLG Bamberg, Beschl. v. 18.03.2009 – 3 Ss OWi 196/09, DAR 2009, 401).

Wenn ich den Leitsatz 2 lese, frage ich mich, ob das eigentlich noch verhältnismäßig ist, was das BayObLG da verlangt. M.E. nicht.

Als zweite Entscheidung dann hier der KG, Beschl. v. 04.02-2021 – 3 Ws (B) 6/21 –zum Fahrverbot aufgrund beharrlichen Pflichtverstoßes nach verbotener Nutzung elektronischer Geräte mit folgenden Leitsätzen.

  1. Ein Fahrverbot nach § 25 StVG kann auch wegen mehrerer leichterer Verkehrsordnungswidrigkeiten verhängt werden.
  1. Der folgenlos gebliebene vorsätzliche Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO steht wegen der regelmäßig gravierenden Beeinträchtigung der Fahrleistung anderen typischen Massenverstößen wie Geschwindigkeitsverstößen gleich, weshalb bei Vorliegen entsprechender Vorahndungen die Anordnung eines Fahrverbots wegen eines (unbenannten) beharrlichen Pflichtverstoßes in Betracht kommt (Anschluss an BayObLG, Beschl. v. 5.09.2020 – 202 ObOWi 1044/20).

Und dann noch der  OLG Hamm, Beschl. v. 11.02.2021 – 4 RBs 13/21 – zum Absehen vom Fahrverbot wegen langen Zeitablaufs. Das OLG Hamm sagt. Ja, aber nur ein bisschen:

  1. Die Grundsätze der vom Bundesgerichtshof (BGH, Urt. v. 18. Oktober 2006 – 2 StR 499/05, BGHSt 51, 100 ff.) entwickelten Vollstreckungslösung bei einer festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sind entsprechend im Bußgeldverfahren anwendbar.
  2. Eine nach Erlass des erstinstanzlichen Bußgeldurteils eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (hier: rund neun Monate) kann vom Rechtsbeschwerdegericht im Rahmen einer Entscheidung nach § 79 Abs. 6 OWiG dahingehend kompensiert werden, dass ein Teil des verhängten Fahrverbots (hier: eine Woche) als vollstreckt gilt.

Fahrverbot III: Verfahrensverzögerung von 21 Monaten, oder: Vollstreckungslösung anzuwenden

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Wenn man über Fahrverbotsentscheidungen berichtet, ist schwer, wenn nicht fast unmöglich, mal eine für den Betroffenen positive Entscheidung eines OLG vorzustellen. Denn i.d.R. kann man nur über Entscheidungen berichten, die für die Betroffenen nachteilige AG-Urteil bestätigen, oder die postive AG-Entscheidungen aufheben.

Mit der dritten Entscheidung des Tages, dem OLG Hamburg, Beschl. v. 02.04.2019 – 2 RB 27/17 – kommt dann jetzt aber etwas Licht in den Tunnel. Das OLG hat nämlich die Dauer eines gegen den Betroffenen mit AG-Urteil vom 05.12.2016 verhängten Fahrverbotes wegen Verfahrensverzögerung beim OLG als vollständig vollstreckt angesehen. Der Senat hat nämlich über die im Mai 2017 bei ihm eingegangene Rechtsbeschwerde erst im April 2019 entschieden:.

III.

Das durch das Amtsgericht zum dortigen Entscheidungszeitpunkt rechtsfehlerfrei verhängte Fahrverbot kann aus Gründen des Zeitablaufs unter Berücksichtigung der im Rechtsbeschwerdeverfahren eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung keinen Bestand mehr haben.

1. Die Notwendigkeit der Verhängung eines Fahrverbots kann, da die damit verbundene Warn- und Besinnungsfunktion für den Betroffenen im Laufe der Zeit an Effektivität verliert, durch den Zeitablauf seit der zu ahnenden Ordnungswidrigkeit unter Berücksichtigung der weiteren Umstände des Einzelfalls in Frage gestellt sein. Eine Aufhebung oder Herabsetzung der Dauer des Fahrverbots wird nach verbreiteter Auffassung nach Verstreichen eines Zeitraums von etwa zwei Jahren in Erwägung gezogen (vgl. dazu BayObLG NZV 2004, 210; OLG Köln NZV 2004, 422 f.; OLG Brandenburg NZV 2005, 278 f.; Hentschel/König/Dauer-König, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 25 StVG Rn. 24 m.w.N.), wobei neben weiteren fallbezogenen Umständen insbesondere auch Berücksichtigung finden kann, ob das Ordnungswidrigkeitenverfahren aus Gründen, auf die der Betroffene keinen Einfluss gehabt hat, besonders lange Zeit in Anspruch genommen hat (vgl. OLG Köln a.a.O.; BayObLG NZV 2004, 100).

2. Im vorliegenden Verfahren ist in der Sachbehandlung durch das Rechtsbeschwerdegericht eine erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetreten. Die hierfür im Strafverfahren entwickelten Grundsätze (grundlegend: BGHSt 51, 124 ff.) gelten auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren einschließlich in der Rechtsbeschwerdeinstanz eingetretener Verzögerungen (BVerfG Beschl. v. 2. Juli 2003, Az.: 2 BvR 273/03 (juris); OLG Karlsruhe Beschl. v. 29. Dezember 2016, Az.: 2 (7) SsBs 632/16 (juris) m.w.N.).

Die vorliegende Sache war nach am Eingang des Empfangsbekenntnisses des Verteidigers des Betroffenen über den Erhalt des Antrags der Generalstaatsanwaltschaft ab Beginn des Monats Mai 2017 entscheidungsreif. Unter Abzug einer noch angemessenen Bearbeitungszeit von etwa drei Monaten liegt eine von dem Betroffenen nicht zu vertretende erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von annähernd einem Jahr und neun Monaten vor, zu deren Kompensation unter Berücksichtigung der weiteren Umstände, namentlich einerseits der im Vergleich zum Strafverfahren geringeren Eingriffsintensität des Ordnungswidrigkeitenverfahrens, sowie andererseits der nicht sehr hohen, zugleich aber auch nicht unerheblichen Sanktion in Form der verhängten Geldbuße und des angeordnete Fahrverbots und der vor diesem Hintergrund von dem Verfahren ausgehenden Belastung des Betroffenen über die – hiermit erfolgte – Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hinaus ein Ausgleich im Wege entsprechender Anwendung der sog. Vollstreckungslösung (vgl. zur Anwendbarkeit im Ordnungswidrigkeitenverfahren: OLG Saarbrücken Beschl. v. 6. Mai 2014, Az.: Ss (B) 82/2012 (juris); OLG Hamm DAR 2011, 409 ff.) geboten ist, der hier unter ergänzender Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen zu Ziff. 1. dazu führt, dass der Senat das amtsgerichtlich verhängte Fahrverbot für vollstreckt erklärt hat.“

Für den Betroffenen positiv. Ich frage mich bei solchen Sachen immer: Warum merkt eigentlich niemand, dass da noch eine unerledigte Sache rumliegt? Dass der Verteidiger sich nicht meldet, wenn es ihm auffällt, ist klar. Aber beim OLG gibt es doch auch Aktenkontrollen. Oder etwa nicht mehr?

Strafzumessung: Verfahrensverzögerungen – ein paar Anhaltspunkte

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Nach der vom BGH in inzwischen ständiger Rechtsprechung vertretenen Vollstreckungslösung sind der Justiz anzulastende  Verfahrensverzögerungen bei der Strafzumessung zu kompensieren. Da ist es ganz gut, wenn man als Verteidiger weiß, was der BGH denn nun als zu lang/als verzögert ansieht. Ein paar Anhaltspunkte dazu gibt der BGH, Beschl. v. 24.05.2012 – 5 StR 145/12:

„2. Darüber hinaus macht die Revision zu Recht Verstöße gegen den Grundsatz zügiger Verfahrensförderung gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK geltend. Zwischen Anklageerhebung und Erlass des Eröffnungsbeschlusses ist eine erhebliche, der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung (von mindestens neun Monaten) eingetreten, die bereits im angefochtenen Urteil zu der Anordnung hätte führen müssen, dass ein bezifferter Teil der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gilt. Zu einer weiteren erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (von mindestens elf Monaten) ist es zwischen dem Erlass des erstinstanzlichen Urteils und seiner Zustellung gekommen, die erst nach mehr als einem Jahr im Dezember 2011 erfolgte. Das neue Tatgericht wird die wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gebotene Kompensation der eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Wege des Vollstreckungsmodells (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124) nachzuholen und festzulegen haben, welcher bezifferte Teil der neu zu bemessenden Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Angesichts des von der Revision dargelegten Ausmaßes der Verzögerungen erscheint dabei ein Abschlag von nur einem Monat Freiheitsstrafe, wie vom Generalbundesanwalt beantragt, als deutlich zu gering.“

Man müsste mal eine Zusammenstellung der BGH-Rechtsprechung zu der Problematik machen. Ist aber nicht so einfach, da vieles vom Einzelfall abhängt. Denn was heißt z.B. „deutlich zu gering“.

Der BGH gibt der Strafkammer übrigens noch ein Weiteres mit auf den Weg weg:

Der Senat sieht Anlass zu dem Hinweis, dass Verzögerungen des tat-gerichtlichen Verfahrens in dem von der Revision aufgezeigten Umfang im Hinblick auf die damit nicht nur für den Angeklagten, sondern gerade im Bereich der Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auch für die Geschädigten einhergehenden Belastungen sowie regelmäßig damit verbundenen Verschlechterung der Beweislage unvertretbar erscheinen.

 

Verzögert ist verzögert, einmal kompensiert, immer kompensiert

Wird ein Strafverfahren verzögert, kann bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt erklärt werden. So die sog. Vollstreckungslösung des BGH.

Das OLG Celle hat jetzt in OLG Celle, Beschl. v. 22.12.2011 – 32 Ss 116/11 festgestellt, dass das in §§ 358 Abs. 2 Satz 1, 321 Abs. 1 StPO kodifizierte Verbot der Schlechterstellung auch für einen im angefochtenen Urteil enthaltenen Kompensationsausspruch wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung gilt.

Das in §§ 358 Abs. 2 Satz 1, 321 Abs. 1 StPO kodifizierte Verbot der Schlechterstellung trägt dem Grundsatz Rechnung, dass ein Angeklagter bei seiner Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels nicht durch die Besorgnis beeinträchtigt werden soll, es könne ihm dadurch ein Nachteil entstehen (BGHSt 7, 86; BGHSt 25, 38; vgl. auch Meyer Goßner, StPO, 54. Aufl., § 331 Rdnr. 1). Dem Angeklagten sollen die durch das angefochtene Urteil erlangten Vorteile belassen werden, und dies selbst dann, wenn sie gegen das sachliche Recht verstoßen (Meyer Goßner a. a. O.).

Um einen solchen Vorteil handelt es sich auch bei der Kompensation von Verfahrensverzögerungen im Strafausspruch, denn auch der nachträgliche Wegfall einer durch das Tatgericht angeordneten Kompensation würde durch den längeren Vollzug im Ergebnis eine härtere Bestrafung für den Angeklagten bedeuten. Die zu verbüßende Strafe kann deshalb im Rechtsmittelverfahren nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden (vgl. auch BGH, NStZ RR 2008, 168 und StV 2008, 400). „

Also: Einmal kompensiert, immer kompensiert

Langes Verfahren – Vollstreckungslösung im Jugendrecht?

Die Frage, ob bei einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch im Jugendrecht die sog. „Vollstreckungslösung“ des BGH Anwendung findet und damit die Verfahrensverzögerung kompensiert werden kann, ist in der Rechtsprechung des BGH nicht ganz unbestritten. Während der Große Senat für Strafsachen das wohl bejaht, haben die Strafsenate das m.E. teilweise anders gesehen.

In der Diskussion hat sich jetzt das OLG Hamm zu Wort gemeldet und im OLG Hamm, Beschl. v.08.12.2011 – III-3 RVs 102/11 die Anwendung jedenfalls bei der Verhängung eines Jugendarrestes verneint.

„… Dass die „Vollstreckungslösung“ auch bei der Verhängung von Jugendarrest Anwendung finden kann, vertritt — soweit ersichtlich — niemand. Ohnehin ist dieser Weg der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen für den Jugendarrest, der im Falle des Dauerarrestes höchstens vier Wochen betragen darf (§ 16 Abs. 4 Satz 1 JGG), nicht geeignet. Eine Anwendung der „Vollstreckungslösung“ würde angesichts dieser Höchstdauer nicht mehr zu sinnvollen Rechtsfolgenaussprüchen führen.

Die Verfahrensverzögerung ist bei der Verhängung von Jugendarrest vielmehr als Gesichtspunkt im Rahmen der Zuchtmittelbemessung zu berücksichtigen.“