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Vernehmung des Arztes – wohl nur noch im Ausnahmefall – Unmittelbarkeitsgrundsatz ade?

Die Verlesung von Urkunden in der Hauptverhandlung berührt, wenn es sich um ärztliche Atteste handelt, den Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 StPO). Es stellt sich immer die Frage, ob nicht ggf. der Attestverfasser als Zeuge gehört werden muss. Die Zulässigkeit der Verlesung ärztlicher Atteste ist in § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO geregelt. Dazu geht die Rechtsprechung des BGH davon aus, das „dass – über den Wortlaut von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO hinaus (BGH, Urteil vom 27. November 1985 – 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 391) – eine Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 StPO) durch Verlesung eines Attestes nicht zulässig ist, wenn sich die Bedeutung der aus dem Attest ersichtlichen Verletzungen nicht in der Feststellung ihres Vorliegens erschöpft (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1988 – 1 StR 569/88, BGHR, StPO, § 256 Abs. 1 Körperverletzung 2).

Mit der Problematik hat sich jetzt der zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehene BGH, Beschl. v. 21.09.2011 – 1 StR 367/11 – auseinandergesetzt. Der BGH führt im Anschluss an die o.a. Passage aus:

aa) Dies wird regelmäßig angenommen, wenn Gewalt nicht nur zu einer Körperverletzung geführt hat, sondern zugleich auch ein Tatbestandsmerkmal für ein anderes Delikt darstellt, etwa bei einem räuberischen Diebstahl (BGH, Beschluss vom 11. Juli 1996 – 1 StR 392/96, StV 1996, 649), oder, in der fo-rensischen Praxis nicht selten, bei Sexualdelikten (vgl. nur BGH, Urteil vom 7. November 1979 – 3 StR 16/79, NJW 1980, 651; BGH, Beschluss vom 24. Juli 1984 – 5 StR 478/84, bei Pfeiffer NStZ 1985, 204, 206 <Nr. 17>; BGH, Beschluss vom 4. März 2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474). Regelmäßig liegt dann neben Tateinheit auch eine Indizwirkung der Körperverletzung für das andere Delikt vor.

bb) Tateinheit zwischen der Körperverletzung und dem anderen Delikt schließt die Anwendung von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht zwingend aus, wie der Bundesgerichtshof im Blick auf „generelle Umschreibungen der Unzulässigkeit einer Verlesung nach § 256 StPO, (die) über die jeweils zugrunde lie-genden Fallgestaltungen hinaus (gehen)“ präzisierend klargestellt hat (BGH, Urteil vom 27. November 1985 – 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 392). Erforderlich ist vielmehr ein „überzeugender Grund“ (BGHSt, aaO, 393) für die Annah-me, nach Sinn und Zweck des Gesetzes (BGHSt, aaO, 391, 393) reiche eine Verlesung des Attests nicht aus.

Dies gilt nach Auffassung des Senats auch dann, wenn es um die Vernehmung des Arztes im Blick auf Schlussfolgerungen geht, die aus den Verletzungen hinsichtlich des anderen Delikts gezogen werden können. Eine Vernehmung ist nur dann erforderlich, wenn der unmittelbare Eindruck eine zuverlässigere Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann als die Verlesung des Attestes (BGH, Urteil vom 9. April 1953 – 5 StR 824/52, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1984, 209, 211 <Nr. 21>; BGH, Beschluss  vom 4. März 2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474), , etwa dazu, ob Verletzungen im Bereich des Unterleibs auf ein gewaltsam begangenes Sexualdelikt hindeuten. Kann ärztliche Sicht zu Schlussfolgerungen dieser Art über die bloße Feststellung der attestierten Verletzung hinaus dagegen nichts beitragen, so besteht regelmäßig auch kein überzeugender Grund für eine Vernehmung des Arztes. Im Kern kommt es also darauf an, ob eine solche Vernehmung Gebot der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist, die (auch sonst) von § 256 StPO unberührt bleibt (vgl. schon BGH, Urteil vom 4. April 1951 – 1 StR 54/51, BGHSt 1, 94, 96; BGH, Urteil vom 16. März 1993 – 1 StR 829/92, BGHR, StPO § 256 Abs. 1 Aufklärungspflicht 1; BGH, Beschluss vom 24. April 1979 – 5 StR 513/78, bei Pfeiffer NStZ 1981, 93, 95 <zu § 244 Abs. 2 StPO>; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 2 mit Hinweis auf Nr. 111 Abs. 3 Satz 2 RiStBV)….

Also eine weitere Einschränkung des § 250 StPO. Den Arzt bekommt man damit nur noch über einen entsprechend begründeten Beweisantrag ins Verfahren.

Was darf in der Hauptverhandlung verlesen werden?

Durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz sind vor einiger Zeit die Möglichkeiten zur Verlesung von Urkunden pp. in der StPO in § 256 StPO erheblich erweitert worden. Bisher gibt es dazu aber noch nicht viel Rechtsprechung, was entweder daran liegen kann, dass von den erweiterten Verlesungsmöglichkeiten nicht so viel Gebrauch gemacht wird, oder daran, dass die damit zusammenhängenden Fragen unproblematisch sind.

Der BGH, Beschl. v. 29.03.2011 – 3 StR 90/11 hat sich mit der Problematik nun aber mal befasst. Dort heißt es:

Die Rüge einer Verletzung von § 250 StPO durch die Verlesung eines „Beiblatts zur Festnahmeanzeige vom 8. Februar 2009“ sowie des „polizeilichen Berichts über die durchgeführte Wiegung“ (sichergestellten Betäubungsmittels) „vom 9. Februar 2009“ ist zulässig erhoben. Sie ist indes unbegründet, da es sich um in Urkunden enthaltene Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden ü-ber Ermittlungsmaßnahmen handelte, die nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verle-sen werden konnten (vgl. KK-Diemer, 6. Aufl., § 256 Rn. 5 und 9a; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 256 Rn. 5 und 26, jeweils mwN.

Urkundsbeweis / Verlesung einer schriftlichen Erklärung / Inbegriffsrüge

Die Abgrenzung von Urkundsbeweis / Verlesung einer schriftlichen Erklärung und das Umgehen mir einer sich darauf gründenden Inbegriffsrüge ist nicht so ganz einfach. Der BGH, Beschl. v. 09.03.2011 – 3 StR 9/11 fasst es noch einmal kurz und kanpp zusammen:

Aufgrund Verlesung einer vorbereiteten schriftlichen Erklärung des Angeklagten durch diesen oder seinen Verteidiger wird nicht der Wortlaut des Schriftstücks zum Inbegriff der Hauptverhandlung, sondern allein der Inhalt des mündlichen Vortrags, dessen wesentliche Punkte das Tatgericht in den Urteilsgründen festzustellen hat. Allein diese Feststellungen sind Grundlage der revisionsgerichtlichen Prüfung (s. die Nachweise bei LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 78, Fn. 261). Anders liegt es nur, wenn der Wortlaut der schriftlichen Einlassung durch das Gericht im Wege des förmlichen Urkundsbeweises (§ 249 StPO) in die Hauptverhandlung eingeführt wird, worauf der Angeklagte indessen keinen Anspruch hat. Nur in diesem Falle ist dem Revisionsgericht eine Kenntnisnahme des genauen Wortlauts des Schriftstücks und damit der Einlassung ohne unzulässige Rekonstruktion der Hauptverhandlung möglich. Danach wäre der Senat hier nur im Wege nicht statthafter Rekonstruktion der Hauptverhandlung in der Lage, die Richtigkeit des Revisionsvorbringens über Reihenfolge und Inhalt der Geständnisse der Angeklagten zu prüfen; denn deren schriftliche Einlassungen sind nicht im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt worden. In den somit allein maßgeblichen Urteilsgründen findet der diesbezügliche Revisionsvortrag dagegen keine Stütze.

Also: Wenn es „richtig laufen“ soll, geht es nur über einen Beweisantrag, der aber dann an die Voraussetzungen des § 244 StPO gebunden ist.

Die Anklage (Verlesung) in der Rechtsprechung des BGH

Derzeit spielen die Fragen der Anklage und des Umfangs ihrer Verlesung in der Rechtsprechung des BGH eine große Rolle. Dazu hat ja gerade erst der Große Senat für Strafsachen in seinem Beschl. GSSt 1/10 Stellung genommen, der jetzt von zwei ganz interessanten Entscheidungen des BGH aufgegriffen worden ist.

Das ist einmal BGH, Beschl. v. 2. März 2011 – 2 StR 524/10 und BGH, Beschl. 15.03.2011 – 1 StR 429/09, deren Inhalt und deren Bedeutung für die Praxis man in der nächsten Zeit erst mal näher analysieren muss. Jedenfalls – und das war schon nach dem Beschluss des Großen Senats abzusehen: Stundenlanges Vorlesen von Tabellen wird es wohl nicht mehr geben. Man muss nur darauf achten, dass immer noch genug verlesen wird, um den Verfahrensgegenstand deutlich zu machen.

Warum ein Gerichtsbeschluss nach § 251 Abs. 4 StPO erforderlich ist?

Man fragt sich immer wieder, warum eigentlich für die Verlesung nach § 251 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO ein Gerichtsbeschluss erfoderlich ist.

Der BGH hat es in seinem Beschl. v. 10.06.2010 – 2 StR 78/10 gesagt. Das Beschlusserfordernis in § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO soll angesichts der potentiellen Bedeutung der Verlesung für die Zuverlässigkeit der Beweisgewinnung und Rekonstruktion des Tatgeschehens auch gewährleisten, dass das Gericht durch eine gemeinsame Meinungsbildung sowie in seiner Gesamtheit die Verantwortung dafür trägt, ob ausnahmsweise die Einschränkung der Unmittelbarkeit durch den Verzicht auf den Zeugen hinnehmbar ist oder die Aufklärungspflicht die Vernehmung der Beweisperson gebietet.

Also Schutz des Prinzips der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung.