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StPO III: Rechtzeitige Urteilsabsetzung?, oder: Für Unsicherheiten „haftet“ die Justiz

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 04.06.2019 – 4 RVs 55/19. Er behandelt die Frage: Zu wessen Lasten geht es eigentlich, wenn die rechtzeitige Urteilsabsetzung nicht sicher festgestellt werden kann und damit ein (Verfahrens)Verstoß gegen § 275 StPO im Raum steht.

Das OLG sagt: Das geht nicht zu Lasten des Angeklagten, sondern zu Lasten der Justiz. Begründung, u.a. unter Bezugnahme auf die Stellungnahme der GStA:

„Es liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO vor, da die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 S. 1 StPO nicht eingehalten wurde. Es kann nicht nachvollzogen werden, zu welchem Zeitpunkt die schriftlichen Urteilsgründe auf der Geschäftsstelle eingegangen sind. Einen Eingangsvermerk enthält das Urteil nicht. Ein konkretes Eingangsdatum ergibt sich auch nicht aus dem Vermerk der Vorsitzenden vom 23.09.2018 (Bl. 357 d.A.). Soweit sich aus dem Judica-Auszug (Bl. 358 d.A.) ergibt, am 26.03.2018 sei der Eingang eines Tonträgers „Urteil/Verwerfung…“ auf der Geschäftsstelle erfasst worden, ergibt sich nicht zwingend, dass zu diesem Zeitpunkt auch die schriftlichen Urteilsgründe vorlagen. Der Eingang des Tonträgers alleine ist jedoch für die Einhaltung der Absetzungsfrist nicht ausreichend (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 275 Rn. 3).“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an und ergänzt:

Geht man davon aus, dass die Akten chronologisch geführt sind, was hier allerdings nicht sicher ist, weil sie zwischenzeitlich in Verlust geraten waren (vgl. Vermerk vom 23.09.2018 Bl. 357 d. A.), so könnte das vollständig abgefasste Urteil zwischen dem 06.04.2018 und dem 12.07.2018 zu den Akten gelangt sein, möglicherweise also innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist. Die Vorsitzende konnte sich an eine fristgerechte Absetzung nicht erinnern und hat bzgl. des Eingangs des Diktats auf den Judica-Eintrag vom 26.03.2018 verwiesen. Die Geschäftsstellenmitarbeiterin hat selbst keine eigene Erinnerung daran, wann das vollständig abgefasste und unterschriebene Urteil vorlag, dass sie aber davon ausgehe, dass das Urteil am Tag der Registrierung in Judica vorlag. Neben dem Eintrag vom 22.03.2018, der sich offenbar nur als Eintrag des Ergebnisses der an diesem Tag durchgeführten Hauptverhandlung darstellt, ist am 26.03.2018 der Eingang eines Tonträgers vermerkt. Außerdem findet sich der Vermerk „Urteil/Verwerfung der Berufung zu Beschuldigten H, T geändert am 26.03.2018“, was sich offenbar auf die genehmigten Änderungen im Protokoll bezieht.

Der Ausdruck aus Judica zum Verfahrensgang weist unter dem Datum 26.03.2018 folgenden weiteren Eintrag auf: „Eingangsdatum eines vollständigen Urteils/Entscheidung erfasst durch Benutzer M“. Dies könnte zunächst darauf hindeuten, dass ein vollständiges Urteil am 26.03.2018 auf der Geschäftsstelle vorlag, wobei aber unklar bleibt, ob dieses auch unterschrieben war (es hätte dann am Tag des Diktateingangs noch geschrieben, der Vorsitzenden vorgelegt, von dieser gelesen und unterschrieben werden sowie zur Geschäftsstelle zurückgelangen müssen). Die dienstliche Stellungnahme der Geschäftsstellenmitarbeitern vom 28.04.2019 ergibt keine weitere Aufklärung hierzu. Ihre weitere dienstliche Stellungnahme vom 27.05.2019 geht dahin, dass eine eigene Erinnerung nicht bestünde, sondern dass sie „dies“ nur so dem Judica-Eintrag entnehmen könne. Das lässt sich einerseits so verstehen, dass mit „dies“ ein vollständiges und unterschriebenes Urteil vorlag, andererseits aber auch so, dass lediglich auf den Judica-Eintrag (der aber selbst insoweit unklar ist) verwiesen wird. Es findet sich zudem der Eintrag „Urteil/Verwerfung der Berufung zu Beschuldigten H, T geändert am 04.07.2018 durch Benutzer M“. Insoweit bleibt auch nach der dienstlichen Stellungnahme vom 27.05.2019 gänzlich unklar, worum es sich hierbei gehandelt hat, insbesondere ob womöglich erst zu diesem Zeitpunkt ein vollständiges und unterschriebenes Urteil zu den Akten gelangt war. Die Zustellung des angefochtenen Urteils wurde durch die Vorsitzende jedenfalls erst nach Wiederauffinden der Akten am 23.09.2018 verfügt.

Letztlich kann sich der Senat nach alledem keine hinreichende Überzeugung davon verschaffen, ob das angefochtene Urteil vollständig abgefasst und richterlich unterschrieben innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist zu den Akten gebracht worden ist, wie dies § 275 Abs. 1 StPO gebietet. Zwar kann der Senat auch nicht feststellen, dass die Urteilsabsetzungsfrist versäumt wurde. Gerade in dieser Konstellation greift aber der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO ein (Gericke in: KK-StPO, 8. Aufl., § 338 Rdn. 96; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 338 Rdn. 55; Wiedner in: Graf, StPO, 3. Aufl., § 338 Rdn. 146; vgl. auch: BGH, Beschl. v. 03.11.1992 – 5 StR 565/92 -juris). Der Umstand, dass der Verfahrensverstoß nicht sicher feststeht, andererseits aber auch nicht die Wahrung der Frist des § 275 Abs. 1 StPO mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, kann nicht zu Lasten des Angeklagten gehen. Schon nach dem Gesetz wird die Nachweispflicht bzgl. der Fristwahrung den Justizbehörden auferlegt (vgl. § 275 Abs. 1 S. 5 StPO). Der Angeklagte hat auch keinen Einfluss darauf, wie die Akten geführt werden. Ihm würde bei entsprechend lückenhafter Aktenführung und fehlendem Erinnerungsvermögen auf Seiten der in der Justiz befassten Personen jegliche Möglichkeit zum Nachweis des Verfahrensfehlers genommen.“

Urteilsabsetzungsfrist, oder: Bestimmt behaupten, nur zweifeln reicht nicht.

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Und als zweite Entscheidung heute dann noch einmal der BGH, Beschl. v. 20.12.2017 – 1 StR 464/17, über den ich ja schon in der vergangenen Woche berichtet hatte (vgl. hier: Tatbegriff im Steuerstrafverfahren, oder: Kein Strafklageverbrauch). 

Der BGH hat in der Entscheidung auch – kurz – zu einer mit der Verfahrensrüge erhobenen Beanstandung Stellung genommen. Gerügt war nämlich wohl eine Verletzung des § 338 Nr. 7 – also Nichteinhaltung der Urteilsabsetzungsfrist. Gerügt war aber nicht ordnungsgemäß:

„2. Die von der Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 Abs. 1 StPO ist nicht in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise ausgeführt. Entgegen den gesetzlichen Anforderungen wird die Nichteinhaltung der Urteilsabsetzungsfrist nicht mit Bestimmtheit behauptet (zu diesem Erfordernis etwa BGH, Urteil vom 4. September 2014 – 1 StR 75/14 Rn. 65, StraFo 2015, 70, 72 mwN), sondern die Rechtzeitigkeit lediglich bezweifelt. Zudem teilt die Revision trotz ihr möglichen Zugriffs auf diese Information nicht mit, dass auf Blatt 1 der Niederschrift der Sitzung vom 8. März 2017 ein Vermerk der Geschäftsstelle über den Eingang des Urteils dort (§ 275 Abs. 1 Satz 5 StPO) am 23. Mai 2017 und damit am letzten Tag der Urteilsabsetzungsfrist angebracht ist.“

Daraus zwei Lehren:

1. Bestimmt behaupten = klare Worte sind erforderlich. Nur zweifeln reicht nicht.

2. Und: Zu dem Umstand, dass es einen zeitlich passendenRechtszeitigkeitsvermerk gibt, muss man schon etwas schreiben.

Wenn der Richter krank wird/war, oder: Immer schön der Reihe nach

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Ich habe vorhin gerade über den BGH, Beschl. v. 11.05.2016 – 1 StR 352/15 (vgl. Urteilsunterschift: „BE ist in Urlaub“, reicht, oder: Da kommt man kaum ran….) berichtet. Dazu passt dann ganz gut der KG, Beschl. v. 10.06.2016 (4) 121 Ss 75/16 (99/16). Er behandelt auch ein Problem aus dem Bereich des § 275 StPO, nämlich die Frage der Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist bei Erkrankung des einzigen Berufsrichters, hier in der Berufungskammer. Da war die Vorsitzende während des Laufs der Urteilsabsetzungsfrist erkrankt und dienstunfähig . Als sie wieder im Dienst war, hat sie zunächst eine Hauptverhandlung vorbereitet und durchgeführt und sich erst dann um die Absetzung des Urteils gekümmert.

Das KG sagt: Falsche Reihenfolge. Denn – so der Leitsatz:  Ist der einzige Berufsrichter durch Krankheit an der fristgerechten Urteilsabsetzung gehindert, so hat er das Urteil nach Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit ohne jede weitere Verzögerung und mit Vorrang vor anderen aufschiebbaren Dienstgeschäften zu den Akten zu bringen. Die Vorbereitung und Durchführung einer Hauptverhandlung muss demgegenüber zurücktreten, ggf. ist sie nach Feststellung der dienstlichen Verhinderung durch das Präsidium dem Vertreter zu übertragen. Das KG begründet die Aufhebung des verspätet abgesetzten Urteils:

„bb) Das Tatbestandsmerkmal „solange“ des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO war aber nicht mehr erfüllt, als das Urteil am 20. Januar 2016 auf der Geschäftsstelle einging. Ist das Urteil infolge eines im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstandes nicht binnen der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gelangt, muss das Gericht das Urteil bei Beseitigung des Hindernisses mit aller möglichen Beschleunigung fertigstellen (vgl. BGH a.a.O.; BayObLG a.a.O.). Das ist vorliegend nicht geschehen.

Das der Urteilsabsetzung durch die Vorsitzende der kleinen Kammer entgegen stehende Hindernis war mit der (zwischenzeitlichen) Wiederherstellung ihrer Dienstfähigkeit ab dem 19. Dezember 2015 weggefallen. Da zu diesem Zeitpunkt die Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO bereits verstrichen war, war das Urteil nunmehr unverzüglich, ohne jede weitere Verzögerung und mit Vorrang vor anderen Dienstgeschäften zu den Akten zu bringen. Zwar ist es nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende der Fertigstellung des früher verkündeten und ebenfalls mit der Revision angefochtenen Urteils in der Berufungssache 580-195/13 Vorrang vor der Urteilsabsetzung in hiesiger Sache eingeräumt hat. Denn es steht im pflichtgemäßen Ermessen des Richters, in welcher Reihenfolge er mehrere rückständige Urteile absetzt (vgl. LR/Stuckenberg a.a.O. Rn. 13 m.w.Nachw.). Dass dieses Ermessen vorliegend fehlerhaft ausgeübt worden wäre, ist nicht ersichtlich. Die Pflicht des Gerichts, nach Wegfall des Hinderungsgrundes das Urteil schnellstmöglich mit den Gründen versehen und unterschrieben zu den Akten zu bringen, geht aber allen aufschiebbaren Dienstpflichten vor. Die Vorbereitung und Durchführung der Berufungshauptverhandlung in der Nichthaftsache 580-25/14 hatte danach zurückzutreten, um eine rasche Absetzung des bereits verkündeten und überfälligen Urteils innerhalb der der Vorsitzenden für die Erfüllung ihrer richterlichen Aufgaben zur Verfügung stehenden Arbeitszeit – sie war im fraglichen Zeitraum nur mit einem halben Richterpensum in der Rechtsprechung (als amtierende Vorsitzende der 80. kleinen Strafkammer) tätig und hat mit einem halben Richterpensum Verwaltungstätigkeit als Leiterin der Führungsaufsichtsstelle verrichtet – zu ermöglichen. Der Termin zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung am 30. Dezember 2015 hätte daher – auch wenn es sich bei der zu verhandelnden Sache um ein (ebenfalls) sehr altes Verfahren mit Tatvorwürfen aus dem Jahre 2012 gehandelt hat – verlegt oder nach vorheriger Feststellung der dienstlichen Verhinderung der Vorsitzenden durch das Präsidium des Landgerichts von dem im Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Vertreter wahrgenommen werden müssen. Angesichts des Umstandes, dass die Berufungen, über die mit dem angefochtenen Urteil entschieden worden ist, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt gewesen sind, dem Urteil eine Verständigung im Strafverfahren vorausgegangen und der Umfang der durchgeführten Beweisaufnahme überschaubar war, hätte das Urteil in der tatsächlich für die Vorbereitung und Durchführung der Berufungshaupt-verhandlung in der Sache 580-25/14 aufgewendeten Arbeitszeit im richterlichen Dezernat von der Vorsitzenden fertiggestellt und noch vor ihrer erneuten Erkrankung am 4. Januar 2016 zu den Akten gebracht werden können.“

Also: Immer schön der Reihe nach….

Mutterschutz, Mutterschutz, oder: Man kann ein Urteil auch noch nach 7 Monaten unterzeichnen…

© Stefan Rajewski Fotolia .com

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Sicherlich nicht alltäglich ist/war die Fallgestaltung, über die das OLG Hamm im OLG Hamm, Beschl. v. 16.02.2016 – 3 RBs 385/15 – zu entscheiden hatte. Es geht um Mutterschutz und die Frage der Unterzeichnung des Urteils. In einem Bußgeldverfahren war das nach eintägiger Hauptverhandlung am 20.03.2015 verkündete Urteil erst am 02.10.2015 in schriftlicher Form mit Gründen und Unterschrift zu den Akten gelangt. Ebenfalls vom 02.10.2015 datiert ein Vermerk der entscheidenden Richterin, der wie folgt lautet:

„Am 20.04.2015 musste ich stationär ins Krankenhaus. Im direkten Anschluss erhielt ich ein individuelles Beschäftigungsverbot. Hiernach folgte die Mutterschutzzeit, die bis zum 11.09.2015 andauerte. Insofern war mir eine frühere Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe nicht möglich“.

Die auf eine Verletzung des § 275 StPO gestützte Verfahrensrüge hatte beim OLG keinen Erfolg- Die Leitsätze der OLG-Entscheidung:

  1. Das individuelle Beschäftigungsverbot und die Mutterschutzfristen stehen in ihren Auswirkungen der Dienstunfähigkeit infolge Erkrankung eines Richters, für die die Anwendung des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO in Rechtsprechung und Literatur anerkannt ist, gleich.
  2. Eine Dienstpflicht der Richterin, während der bewilligten Elternzeit das schriftliche Urteil zu fertigen, besteht nicht; die im Rahmen einer überobligatorischen Leistung der Richterin gefertigten Urteilsgründe können daher nicht unter Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO zu den Akten gebracht worden sein.
  3. Eine Höchstfrist für die nach § 275 Abs. 1 S. 4 StPO gerechtfertigte Fristüberschreitung lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen; eine an dem Gesetzeszweck der §§ 275 Abs. 1, 338 Nr. 7 StPO orientierte Auslegung zwingt ebenfalls nicht zu der Annahme, nach Ablauf einer mit etwa einem Jahr zu bemessenden Fristüberschreitung sei das Urteil auf die Verfahrensrüge hin zwingend aufzuheben.

Zu Leitsatz 3 führt das OLG aus:

(4) Auch die absolute Zeitdauer zwischen der Verkündung des Urteils und der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe führt vorliegend nicht zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils.

(a) In Literatur und Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang vertreten, die Fristüberschreitung dürfe sich im Rahmen des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO nur auf ein „vertretbares Maß“ im Sinne von Tagen oder wenigen Wochen beschränken, so dass eine Fristüberschreitung um fast ein Jahr nicht mehr hinnehmbar sei und zur Aufhebung nach § 338 Nr. 7 StPO führe (LR-Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 275, Rdnr. 13; Julius in: Gercke/Julius/Temming u.a., StPO, 5. Aufl., § 275, Rdnr. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 275, Rdnr. 12; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14. Mai 2004 – 1 Ss 85/04, […], Rdnr. 3; Thüringer OLG, Beschluss vom 8. April 2013 – 1 Ss Bs 8/13 (43), […], Rdnr. 6). In den zitierten Entscheidungen wird in diesem Zusammenhang auf den unzweifelhaft bestehenden Ausnahmecharakter der Regelung des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO verwiesen. Ergänzend wird angeführt, der Ausgestaltung der Fristüberschreitung als absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 7 StPO liege der Gedanke zugrunde, dass durch die Verzögerung der Urteilsabsetzung die Zuverlässigkeit, mit der die schriftlichen Urteilsgründe das Beratungsergebnis beurkundeten, gefährdet sei. Auch und gerade bei kleineren Verfahren bzw. Ordnungswidrigkeitenverfahren, die oft gleichgelagert seien, sei damit zu rechnen, dass das Erinnerungsbild des Richters schnell verblasse, weshalb ein Zeitraum von nahezu einem Jahr zwischen Urteilsverkündung und schriftlicher Urteilsabsetzung – auch unter Berücksichtigung der Belange der von der Entscheidung Betroffenen – nicht mehr tragfähig erscheine und zur Urteilsaufhebung führen müsse (Thüringer OLG, Beschluss vom 8. April 2013 – 1 Ss Bs 8/13 (43), […], Rdnr. 6; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14. Mai 2004 – 1 Ss 85/04, […], Rdnr. 3).

(b) Diese Auffassung teilt der Senat in dieser Allgemeinheit nicht. Eine Höchstfrist für die nach § 275 Abs. 1 S. 4 StPO gerechtfertigte Fristüberschreitung lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen. Eine an dem Gesetzeszweck der §§ 275 Abs. 1, 338 Nr. 7 StPO orientierte Auslegung zwingt ebenfalls nicht zu der Annahme, nach Ablauf einer mit etwa einem Jahr zu bemessenden Fristüberschreitung sei das Urteil auf die Verfahrensrüge hin zwingend aufzuheben.

(aa) Die Auffassung, die Regelung des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO erlaube nur Fristüberschreitungen in einem überschaubaren Rahmen von Tagen oder wenigen Wochen, findet in den Gesetzesmaterialien keine hinreichende Stütze. Die Vorschriften in §§ 275 Abs. 1, 338 Nr. 7 StPO sind mit dem am 11. Dezember 1974 verkündeten Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) am 1. Januar 1975 in Kraft getreten. Nach § 275 Abs. 1 StPO des bis dahin geltenden Rechts war das Urteil mit den Gründen binnen einer Woche nach der Verkündung zu den Akten zu bringen, wobei es sich um eine Soll-Vorschrift handelte. Die Vorbereitung des 1. StVRG reicht bis in das Jahr 1970 zurück. Ein im Bundesjustizministerium erarbeiteter Regierungsentwurf (BT-Drucks. VI/3478) wurde in der 6. Wahlperiode im April 1972 erstmals den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet, wegen der vorzeitigen Auflösung des Bundestages im Herbst 1972 aber nicht mehr beraten. Den nur wenig veränderten Entwurf (BT-Drucks. 7/551) brachte die Bundesregierung in der 7. Wahlperiode im Frühjahr 1973 erneut ein. Die hier in Frage stehenden Regelungen zur Bestimmung einer neuen, zwingenden Frist zur Absetzung der schriftlichen Urteile in Strafsachen haben dabei im Zuge der parlamentarischen Beratungen im Vergleich zu den Gesetzentwürfen keine wesentlichen Änderungen erfahren und sind seit ihrem Inkrafttreten unverändert. Lediglich die Vorschrift des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO wurde aufgrund eines entsprechenden Anliegens des Bundesrates sprachlich anders gefasst als von der Bundesregierung zunächst vorgeschlagen (BT-Dr. 7/2600, S. 7, 36). Erklärtes Ziel der Neuregelung war nach den Gesetzesmaterialien eine Beschleunigung des Verfahrens und eine Abkürzung der Fristen, innerhalb derer schriftliche Urteile in Strafverfahren zu den Akten gebracht werden. Dazu war eine Auswertung von Revisionsverfahren vorgenommen worden, über die der Bundesgerichtshof entschieden hatte. Die in den Begründungen beider Regierungsentwürfe ebenfalls erwähnte Absicht, auch sicherzustellen, dass die Gründe besser mit dem Beratungsergebnis übereinstimmen, tritt demgegenüber erkennbar zurück (so auch Rieß, Die Urteilsabsetzungsfrist (§ 275 I StPO), NStZ 1982, S. 441, Rdnr. 8). Eine Höchstfrist für die Überschreitung der durch unabwendbare Ereignisse gerechtfertigten Urteilsabsetzungsfrist spielte bei den parlamentarischen Beratungen zu § 275 Abs. 1 S. 4 StPO nach der vorliegenden Dokumentation keine Rolle. Im Gegenteil hat der Gesetzgeber durch die gleichzeitig geschaffene Regelung in § 275 Abs. 1 S. 2 StPO, die gestaffelte Fristen für die Urteilsabfassung vorsieht, gezeigt, dass er durchaus Vertrauen in das Erinnerungsvermögen der erkennenden Richter an das Ergebnis Hauptverhandlung und der Beratungen auch nach langem Zeitablauf seit Verkündung des Urteils hat. Denn mit dieser Regelung wurde bewusst in Kauf genommen, dass das schriftliche Urteil nach lang andauernden Strafverfahren mit vielen Hauptverhandlungstagen unter Umständen erst nach Wochen oder Monaten zu den Akten gelangt. In der Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist ein Beispielfall zitiert, wonach dann, wenn an mehr als 90, aber an nicht mehr als 100 Tagen verhandelt worden ist, insgesamt 25 Wochen für die Urteilsabsetzung zur Verfügung stehen (BT-Drucks. 7/551, S. 84, 85). Eine absolute Höchstfrist für die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe hat der Gesetzgeber dabei nicht vorgesehen.“

Überzeugt mich nicht so ganz. Denn die Begründungen und auch das zitierte Beispiel haben die landgerichtlichen Verfahren im Blick. Da sind aber am schriftlichen Urteil bei den großen Strafkammern, um die es geht/ging, meist zwei oder drei Berufsrichter beteiligt, die sich erinnern können…

Tja, irren ist menschlich, aber einen Hauptverhandlungstermin darf man nicht übersehen

© Dmitry - Fotolia.com

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 Tja, kann passieren, darf es aber nicht, dass das Gericht einen Hauptverhandlungstermin vergisst. Nein, nicht so vergessen, dass alle anderen Verfahrensbeteiligten zur Hauptverhandlung erschienen waren und das Gericht fehlte. Das wäre „hochnotepinlich“ gewesen. Aber auch so ist es unschön, dass man bei einer Strafkammer des LG Essen übersehen hat, dass ein an sich geplanter Hauptverhandlungstermin nicht statt gefunden hat und man nicht an vier, sondern nur an drei Tagen verhandelt hatte. Denn das hatte dann Folgen, weil so die Urteilsabsetzungsfrist eben nicht mehr als fünf sondern nur die i.d.R. gewährten fünf Wochen des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO dauerte und das Urteil deshlab von der Kammer zu spät zur Akte gebracht worden war. Der Verteidiger hat es gemerkt und gerügt und der BGH hebt dann im BGH, Beschl. v. 06.05.2014 – 4 StR 114/14 – auf.

„Die zulässige Rüge, das Urteil sei nicht in der gemäß § 275 Abs. 1 S. 2 StPO maßgebenden Frist zu den Akten gebracht worden, ist begründet, so dass es auf die zugleich erhobene Sachbeschwerde und weiteren Verfahrensrügen nicht mehr ankommt.

Das Urteil vom 28. Oktober 2013 wurde nach dreitägiger Verhandlung verkündet (Bl. 33 PB). Gemäß § 275 Abs. 1 S. 2 StPO betrug daher die Frist, binnen derer die Urteilsurkunde zu den Akten zu bringen war, fünf Wochen und endete mit dem 2. Dezember 2013. Ausweislich des Vermerks der Geschäftsstelle gelangte das schriftliche Urteil jedoch erst am 4. Dezember 2013 zu den Akten (Bl. 421 Bd. III). Damit war die fünfwöchige Frist überschritten. Ein unabwendbarer Umstand im Sinne des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO ist nicht ersichtlich. Den dienstlichen Stellung-nahmen des Vorsitzenden und Berichterstatters (Bl. 596 f. Bd. IV) lässt sich entnehmen, dass diese bei der Berechnung der Frist irrten, indem sie von ursprünglich vier angedachten Verhandlungstagen aus-gingen. Eine unrichtige Berechnung kann die Überschreitung der Frist jedoch nicht rechtfertigen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Januar 2002 – 2 StR 504/01). Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.“

Tja, irren ist menschlich, aber – wie schreibt der BGH so schön: „Eine unrichtige Berechnung kann die Überschreitung der Frist jedoch nicht rechtfertigen“.