Schlagwort-Archive: U-Haft

U-Haft I: Keine U-Haft im „Augsburger Königsplatz-Fall“, oder: Deutliche Worte vom BVerfG

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

An sich hatte ich heute einen OWi-Tag vorgesehen. Aber ich habe mich umentschieden und bringe drei Entscheidungen zur U-Haft.

An der Spitze der BVerfG, Beschl. v. 09.03.2020 – 2 BvR 103/20. Der ist im sog. Augsburger Königsplatzfall ergangen. In dem wird u.a. gegen den 17-jährigen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung geführt. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen „als Teil einer Gruppe von sieben Personen am 6. Dezember 2019 gegen 22.40 Uhr im Bereich des Königsplatzes in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden Geschädigten S. und M. getroffen zu sein. Der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten hätten bereits seit geraumer Zeit freundschaftliche Kontakte gepflegt und sich als Ausdruck der Zusammengehörigkeit gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel zwischen dem Geschädigten S. und einer oder mehrerer Personen aus der Gruppe entwickelt habe, hätten der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten den Geschädigten S. umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle Beschuldigten seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, den Geschädigten S. entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen, sei es verbal, körperlich oder auch durch schiere physische Präsenz und Demonstration der Überlegenheit der Gruppe gegenüber dem allein in ihrer Mitte stehenden Geschädigten S. Auf diese Weise hätten der Zusammenhalt und die zahlenmäßige Überlegenheit der Gruppe jedem der Beschuldigten ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die übrigen Gruppenmitglieder angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen.2

Das AG Augsburg hatte gegen den Beschuldigten U-Haft angeordnet, die dagegen gerichtete Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte beim LG Erfolg, das LG hat den dringenden Tatverdacht verneint. Dagegen dann die weitere Beschwerde der StA, die dazu geführt hat, dass das OLG den Haftbefehl wieder erlassen hat. Und dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die zur Aufhebung des Haftbefehls und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG geführt hat.

Das BVerfG führt – nachdem es zu den Grundsätzen betreffend Haftentscheidungen „referiert“ hat – zur Sache aus:

BVerfG II: VB gegen Trennscheibenanordnung, oder: Bitte Beschluss des OLG vorlegen

In der zweiten Entscheidung des Tages, dem BVerfG, Beschl. v. 17.07.2019 – 2 BvR 2158/18 – hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht zur Entscheidungen angenommen. In dem Verfahren hatte sich die Beschwerdeführerin gegen einen OLG-Beschluss gewandt, mit dem bei Besuchen in der JVA die Verwendung einer Trennscheibe angeordnet worden war. Das BverfG sieht die Verfassungsbeschwerde – m.E. zu Recht – als unzulässig an, macht aber eine ganz interessante Anmerkung zum Umfang der Begründung der Entscheidungen des OLG:

U-Haft II: Wenn sich im Strafausspruch die Straferwartung realisiert, oder. Dennoch Wiederinvollzugsetzung?

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Bei der zweiten vorgestellten Entscheidung handelt es sich um den schon etwas älteren OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.03.2019 – 2 Ws 124/19 – zur erneuten Invollzugsetzung eines Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, den mir der Kollege Loyens aus Nürnberg vor einiger Zeit geschickt hat.

Das LG hatte mit Beschluss vom 21.06.2018 die Untersuchungshaft angeordnet und mit Beschluss vom 14.9.2018 diesen Haftbefehl unter den Auflagen außer Vollzug gesetzt, dass der Angeklagte unverzüglich in pp. unverzüglich Wohnung nimmt, er dem Landgericht unverzüglich jeden Wohnungswechsel mitteilt und sich jeweils mittwochs bei der Polizeiinspektion Nürnberg-West meldet. Ihm wurde aufgegeben, gerichtlichen, polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vorladungen Folge zu leisten und seinen Reisepass beim Landgericht zu hinterlegen.

Der Kollege war dann auch im (Hauptverhandlungs)Fortsetzungstermin am 08.02.2019 erschienen. In dieser Sitzung wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft stellte in Ihrem Plädoyer den Antrag, den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sechs Monaten zu verurteilen, von einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB jedoch abzusehen. Der Verteidiger beantragte Freispruch und stellte den Antrag, den Haftbefehl aufzuheben und den Angeklagten zu entschädigen.

Die Hauptverhandlung wurde sodann unterbrochen und Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung auf 14.2.2019 bestimmt. Ausweislich des Sitzungsprotokolls war der Angeklagte zu diesem Termin mit seinem Verteidiger erschienen. Der Angeklagte wurde wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten verurteilt. Des Weiteren hat das Landgericht am 14.2.2019 den Haftbefehl der Kammer vom 21.6.2018 nach Maßgabe des Urteils vom 14.2.2019 wieder in Vollzug gesetzt und sämtliche Beschränkungen bezüglich der Vollstreckung der Untersuchungshaft gemäß § 119 StPO aufgehoben, weil wegen der verhängten erheblichen Freiheitsstrafe ein „übersteigerter Fluchtanreiz“ bestehe und der Angeklagte einen „familiären Bezug zum Ausland“ habe. Im Übrigen werde zur Fluchtgefahr auf die Haftbefehlsbegründung vom 21.6.2018 Bezug genommen.

Dagegen dann die Beschwerde des Angeklagten, die  in der Sache Erfolg beim OLG Erfolg hatte.

Das OLG legt seiner Entscheidung die Rechtsprechung des BVerfG im BVerfG, Beschl. v. 01.02.2006 – BvR 2056/05 zugrunde. Und dann:

„3. Neu hervorgetretene Umstände können unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung (vgl. auch BVerfG NStZ 2007, 379 = StV 2008, 25) nach Erlass des Haftverschonungsbeschlusses vom 14.9.2018 bis zur Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls mit Beschluss vom 14.2.2019 jedoch nicht angenommen werden. Es sind keine nachträglich eingetretenen oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordenen Umstände ersichtlich, die die Begründung des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern würden, dass nach Sachlage keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären.

Der dem Angeklagten im Haftbefehl vom 21.6.2018 zur Last gelegte Sachverhalt entspricht dem, der sowohl von der Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift vom 27.4.2018 (ab Bl. 697 d.A. dort unter „B) Gemeinsame Straftaten von … und …“ = Bl. 707 bis 705 d.A.) und vom Landgericht im Urteil vom 14.2.2019 zu Grunde gelegt wurde. Allein auf der Grundlage des Haftbefehle und der Anklage, die noch von unerlaubtem „Handeltreiben“ mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen (in einem Fall mit unerlaubten Erwerb, im weiteren Fall mit unerlaubtem Besitz) ausgehen, bestand bei einem Strafrahmen von jeweils einem Jahr bis zu 15 Jahren unter Berücksichtigung der sieben Vorstrafen des Angeklagten, davon zwei wegen einschlägiger Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (vgl. Anklage vom 27.4.2018 zum wesentlichen. Ergebnis der Ermittlungen Bl. 709/710 d.A.) eine realistische Straferwartung von mehreren Jahren Freiheitsstrafe.

Auch wenn die Verteidigung für den Angeklagten in der Sitzung vom 8.2.2019 auf Freispruch plädiert hat, bestand für den Angeklagten spätestens seit dem in dieser Sitzung durch die Staatsanwaltschaft gestellten Verurteilungsantrags eine konkrete Strafdrohung von einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sechs Monaten. Selbst dieser – im Vergleich zur späteren Verurteilung höhere Strafantrag – hat den Angeklagten nicht zu einer Flucht bewegt, sonst hätte er sich der am 14.2.2019 fortgesetzten Hauptverhandlung, in der die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten erfolgte, nicht gestellt. Gelegenheit zu einer Flucht hätte in der Zwischenzeit jedenfalls bestanden. Aufgrund dieses Umstande liegt es näher, dass sich der Angeklagte nach dem Hauptverhandlungstermin vom 8.2.2019 bis zum Fortsetzungstermin am 14.2.2019 trotz des gestellten Antrags auf Freispruch der Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs des Strafverfahrens durchaus bewusst war und er dennoch den Auflagen des Haftverschonungsbeschlusses nachkam.

Die vom Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) als „sehr hoch“ angesetzte Schwelle für eine Widerrufseentscheidung wird vorliegend nicht erreicht.“

U-Haft II: Auslieferung aufgrund Europäischen HB, oder: Keine Auswirkungen auf U-Haft?

entnommen wikimedia.org

Als zweite Entscheidung des Tages stelle ich dann den OLG München, Beschl. v. 13.06.2019 -2 Ws 587/19 – ein/vor, den mir der Kollege T. Scheffler aus Bad Kreuznach übersandt hat.

Im Beschluss geht es u.a. um Haftfortdauer. Das OLG München hat – was mich nicht wirklich überrascht – keine Probleme, bei einer noch zu verbüßenden Reststrafe von noch neun Monaten weiterhin Fluchtgefahr zu bejahen. Die Begründung überlasse ich der Selbstlektüre. Sie enthält nichts Besonderes. Das haben wir alles schon mal so oder ähnlich gelesen.

Einstellen will ich hier die Ausführungen des OLG München zu den Auswirkungen der Entscheidung des EUgH v. 27.05.2019 – Stichwort: deutsche Staatsanwaltschaft ist keine „ausstellende Justizbehörde“. Dazu bzw. zu den Auswirkungen der Entscheidung führt das OLG aus.

„Der Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 und der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts München I vom 15.05.2019 sind auch nicht deshalb aufzuheben, weil der Angeklagte aufgrund des von der Staatsanwaltschaft München I ausgestellten Europäischen Haftbefehls vom 20.06.2018 am 16.07.2018 in Bulgarien festgenommen und nach Bewilligung der Auslieferung am 09.08.2019 nach Deutschland überstellt wurde.

Zwar hat der EuGH mit Urteil vom 27.05.2019 entschieden, dass die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats, die – wie die deutschen Staatsanwaltschaften – der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden, nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl fallen (EuGH Urt. v. 27.5.2019 – C-508/18, C-82/19 PPU, BeckRS 2019, 9722). Die deutschen Staatsanwaltschaften sind danach nicht zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt. Europäische Haftbefehle sind künftig von deutschen Gerichten auszustellen.

Die Entscheidung des EuGH vom 27.05.2019 steht dem Vollzug der Untersuchungshaft des An-geklagten nach bewilligter und vollzogener Auslieferung aus Bulgarien jedoch nicht entgegen. Grundlage der Untersuchungshaft ist der Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 und nicht der Europäische Haftbefehl der Staatsanwaltschaft München I vom 20.06.2018. Die Wirksamkeit des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 bleibt auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH unberührt.

Es besteht auch kein Hindernis, den Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 zu vollziehen. Die Auslieferung erfolgte aufgrund der rechtskräftigen Bewilligungsentscheidung durch Urteil des Kreisgerichts Pazardzhik vom 25.07.2018. Der Angeklagte hat nach Belehrung seine Zustimmung zur Auslieferung erklärt und kein Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Diese Entscheidung bleibt auch wirksam, wenn das bulgarische Auslieferungsverfahren fehlerbehaftet gewesen sein sollte. Die Überprüfung der Auslieferungsbewilligung ist allein Sache der bulgarischen Behörden. Eine Überprüfung im Inland erfolgt nicht. Im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, und hierzu zählen auch die Regelungen in Folge des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, gilt das sog. Trennungsmodell. Hiernach ist dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat Rechtsschutz zu gewähren, von dem der angegriffene Hoheitsakt erlassen wurde. Dies hat auch Auswirkung auf den Umfang der Nachprüfung durch die nationalen Gerichte, da die Rechtsschutzgarantie es grundsätzlich nicht gebietet, einen ausländischen Hoheitsakt (inzident) auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen (Böse in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Auflage, 26. Lfg. Juni 2012, Vor § 78 IRG Rn. 35). Daher unterliegen etwa mittels Rechtshilfe eines ausländischen Staates gewonnene Beweise trotz Nichteinhaltung der maßgeblichen rechtshilferechtlichen Bestimmungen keinem Beweisverwertungsverbot, wenn die Beweise auch bei Beachtung des Rechtshilferechts durch den ersuchten und den ersuchenden Staat hätten erlangt werden können. Ist die Rechtshilfe durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union geleistet worden, darf bei der Beurteilung der Beweisverwertung im Inland nur in eingeschränktem Umfang geprüft werden, ob die Beweise nach dem inner-staatlichen Recht des ersuchten Mitgliedstaates rechtmäßig gewonnen wurden (BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 1 StR 310/12, NStZ 2013, 596).

Da die Auslieferung des Angeklagten nach Deutschland vorliegend durch die bulgarischen Behörden auf der Grundlage des dortigen Rechts bewilligt wurde, ist dem Trennungsgebot folgend die Nichtberücksichtigung der mangelnden Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft München I hinsichtlich der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls vom 20.06.2018 durch das Kreisgericht Pazardzhik für die Wirksamkeit des nationalen Haftbefehls und den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten unbeachtlich. Zwar erfährt das Trennungsgebot Einschränkungen durch den ordre-public-Vorbehalt oder andere Vollstreckungshindernisse im Rahmen des Rechtshilfeverfahrens. Aber auch derartiges ist hier nicht erkennbar. Denn nach der Entscheidung des EuGH vom 27.05.2019 wurde der Europäische Haftbefehl lediglich durch eine nicht zuständige, aber doch immerhin durch eine Justizbehörde erlassen. Es liegt auch kein arglistiges Verhalten der Staatsanwaltschaft München I vor, da es bis zur Entscheidung des EuGH allgemeine Ansicht war, dass deutsche Staatsanwaltschaften befugt sind, Europäische Haftbefehle aus-zustellen. Auch aus der oben genannten Entscheidung des BGH vom 21.11.2012 ergibt sich, dass die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch eine unzuständige Staatsanwaltschaft und die daraufhin durch eine ausländische Behörde bewilligte und vollzogene Auslieferung nicht zu einem Verfolgungshindernis im Inland führt.“

U-Haft I: Wenn der Wahlverteidiger die Aussetzung der HV erzwingt, oder: Verhältnismäßigkeit der U-Haft

© fotomek – Fotolia.com

Heute stelle ich drei „Haftentscheidungen“ vor.

An der Spitze steht der BGH, Beschl. v. 03.05.2019 – AK 15/19, der sich mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer von U-Haft befasst und dabei das Problem behandelt, inwieweit bei der Beantwortung dieser Frage für die Verfahrensdauer mitursächliches Verteidigungsverhalten berücksichtigt werden darf/kann.

Worum es geht, ergibt sich aus der Sachverhaltsschilderung im BGH-Beschluss:

„c) Entgegen der Auffassung der Wahlverteidigerin des Angeklagten ergibt sich eine zur Unverhältnismäßigkeit der weiteren Untersuchungshaft führende Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes auch nicht aus dem Umstand, dass die erste Hauptverhandlung mit Beschluss vom 19. März 2019 ausgesetzt wurde. Im Einzelnen:

aa) Dem Angeklagten wurde durch Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 21. März 2018 Rechtsanwalt M. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Die Wahlverteidigerin des Angeklagten bestellte sich erst mit Schriftsatz vom 9. August 2018. Nach Anklageerhebung unter dem 26. Oktober 2018 und Durchführung von Terminsabsprachen für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens sowohl mit dem Pflichtverteidiger als auch der Wahlverteidigerin durch den Vorsitzenden des Strafsenats des Oberlandesgerichts wurde die Anklage mit Beschluss vom 20. Dezember 2018 zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet; beide Verteidiger wurden zur Hauptverhandlung geladen. Mit Schriftsatz vom 7. Januar 2019 beantragte die Wahlverteidigerin, dem Angeklagten als weitere Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden. Diesen Antrag wies der Vorsitzende des Strafsenats des Oberlandesgerichts nach ablehnender Stellungnahme des Generalbundesanwalts mit Vorsitzendenbeschluss vom 15. Januar 2019 zurück; die Beschwerde dagegen verwarf der Senat mit Beschluss vom 7. Februar 2019 (StB 3/19, juris), die Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 20. Februar 2019 nicht zur Entscheidung an und stellte die Erledigung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung fest (2 BvR 280/19, juris).

Ab dem 17. Januar 2019 wurde die Hauptverhandlung zunächst bis zum 26. Februar 2019 an fünf Verhandlungstagen geführt, an denen der Pflichtverteidiger stets, die Wahlverteidigerin hingegen an einem Termin nicht und an einem weiteren nur zeitweise teilnahm. Vor dem nächsten Hauptverhandlungstermin vom 12. März 2019 teilte die Kanzlei des Pflichtverteidigers mit, dass dieser erkrankt sei. Die Wahlverteidigerin, die zu dem Termin angereist und im Gerichtsgebäude anwesend war, erklärte sich nur für den Fall ihrer Beiordnung als weitere Pflichtverteidigerin bereit, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, die der Vorsitzende des Oberlandesgerichts jedoch nicht vornahm. Eine durch den Vorsitzenden ausgesprochene Genehmigung der Vertretung des Pflichtverteidigers lehnte sie als rechtlich nicht zulässig ab. Als der Pflichtverteidiger auch – wie von seiner Kanzlei zuvor mit Schreiben vom 13. März 2019 mitgeteilt – am nächsten Hauptverhandlungstermin, dem 14. März 2019, krankheitsbedingt nicht teilnehmen konnte, weigerte sich die wiederum aus W. angereiste und im Gerichtsgebäude anwesende Wahlverteidigerin erneut, ohne vorherige Bestellung zur Pflichtverteidigerin an der Hauptverhandlung teilzunehmen, so dass auch an diesem Tag nicht zur Sache verhandelt werden konnte. Nachdem der Vorsitzende des Strafsenats des Oberlandesgerichts bereits am 12. März 2019 vorsorglich für den Fall, dass der Pflichtverteidiger die ganze Woche bis zum 15. März 2019 erkrankt sein werde, einen zusätzlichen Termin auf den 18. März 2019 anberaumt hatte – am 19. März 2019 waren beide Verteidiger gerichtsbekannt verhindert – teilte die Wahlverteidigerin mit, auch am 18. März 2019 verhindert zu sein. Der Pflichtverteidiger ließ durch seine Kanzlei am Morgen des 18. März 2019 unter Vorlage eines neuen Attests mitteilen, dass er infolge seiner fortdauernden Erkrankung auch weiterhin nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen könne. Auch an diesem Tag fand deshalb eine Verhandlung zur Sache nicht statt. Da der letzte Termin, an dem die Hauptverhandlung durchgeführt worden war, somit am 26. Februar 2019 stattgefunden hatte, setzte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 19. März 2019 die Hauptverhandlung aus. Mehrere weitere Anträge, die Wahlverteidigerin dem Angeklagten als weitere Pflichtverteidigerin beizuordnen, etwa vom 12. und vom 13. März 2019, lehnte der Vorsitzende jeweils ab.“

Dazu der BGH:

„bb) Angesichts dieses Verfahrensablaufs ist eine der Justiz zuzurechnende Verfahrensverzögerung, die hier zur Annahme der Unverhältnismäßigkeit der weiteren Untersuchungshaft führen könnte, nicht ersichtlich. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsverbot ergibt sich aus der Aussetzung der Hauptverhandlung nicht. Hierzu gilt:

Bei der Prüfung der Fortdauer der Untersuchungshaft und deren Verhältnismäßigkeit ist die (Mit-)Ursächlichkeit von Verteidigungsverhalten für die Verfahrensdauer sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07, StV 2008, 198 f.) als auch nach derjenigen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 6. November 2014 – Application no. 67522/09 Ereren gegen Deutschland, NJW 2015, 3773, 3775) und des Senats (vgl. Beschlüsse vom 8. Oktober 2012 – StB 9/12, JR 2013, 419, 421; vom 4. Februar 2016 – StB 1/16, juris Rn. 25; vom 22. September 2016 – StB 29/16, NStZ-RR 2017, 18, 19) zu berücksichtigen.

Der Umstand, dass die Hauptverhandlung ausgesetzt werden musste, was zu einer Verfahrensverzögerung von gut zehn Wochen geführt hat, ist – wie sich aus dem geschilderten Verfahrensgeschehen ergibt – ganz wesentlich auch auf das Prozessverhalten der Wahlverteidigerin des Angeklagten zurückzuführen, die trotz Anreise zum und Anwesenheit am Verhandlungsort der Hauptverhandlung fernblieb und damit – wie sich ihr aufdrängen musste – auch die Aussetzung der Hauptverhandlung in Kauf nahm, um entgegen der ihr bekannten Rechtsauffassung des insoweit allein zur Entscheidung befugten Vorsitzenden des Strafsenats des Oberlandesgerichts ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin zu erzwingen. In diesem Zusammenhang ist weiter in den Blick zu nehmen, dass sowohl die Beschwerde zum Senat als auch die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Vorsitzenden des Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart erfolglos geblieben waren, wobei der Senat zur Sache ausgeführt hatte, dass der Vorsitzendenbeschluss nach vorläufiger Einschätzung Ermessensfehler nicht erkennen lasse (BGH, Beschluss vom 7. Februar 2019 – StB 3/19, juris Rn. 8). Im Verfassungsbeschwerdeverfahren hatte die Wahlverteidigerin solche Ermessensfehler zudem nicht zu substantiieren vermocht (BVerfG, Beschluss vom 20. Februar 2019 – 2 BvR 280/19, juris Rn. 9).

Da es nach der genannten Rechtsprechung in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich darauf ankommt, ob es sich um sachdienliches Verteidigungsverhalten handelt oder dessen Grenzen überschritten sind, braucht der Senat nicht abschließend zu entscheiden, ob das Prozessverhalten der Wahlverteidigerin einerseits mit ihrer Stellung als Organ der Rechtspflege, andererseits aber auch mit ihrer aus dem Mandatsverhältnis resultierenden Beistandspflicht gegenüber dem Angeklagten zu vereinbaren ist. Dagegen könnte insbesondere sprechen, dass sie um der Durchsetzung ihrer Überzeugung von der Notwendigkeit eines zweiten Pflichtverteidigers willen eine Aussetzung der Hauptverhandlung in Kauf nahm, was im Ergebnis mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer längeren Dauer des Strafverfahrens und der den Angeklagten besonders belastenden Untersuchungshaft führen wird (vgl. zur Standeswidrigkeit des Erzwingens einer Unterbrechung der Hauptverhandlung durch den Verteidiger auch AnwGH Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. Juli 2005 – (2) 6 EVY 7/04, NJW-RR 2006, 1491, 1492 f.).

cc) Auch nach dem erneuten Beginn der Hauptverhandlung ab dem 2. April 2019 ist das Verfahren mit der notwendigen Beschleunigung betrieben worden.“