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Corona II: U-Haft, oder: Sicherungs(pflicht)verteidiger?

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Und auch die zweite „Corona-Entscheidung“ stammt aus dem Bereich der sog. Sechsmonatshaftprüfung. Es handelt sich erneut um einen Beschluss des OLG Stuttgart, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 72/20.

Er liegt auf der Linie der bisherigen zu den „Corona-Fragen“ bekannt gewordenen Entscheidungen. Daher hier zunächst nur die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar.
  2. Ein solcher wichtiger Grund kann auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.
  3. Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach § 121 ff. StPO nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu.
  4. Dabei wird allerdings – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn al-lein das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte.

Zu 1 – 3 ist das – wie gesagt – die bisherige Rechtsprechung. Darüber hinaus geht aber Leitsatz 4, zu dem das OLG ausführt:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 mwN). Falls sich entgegen der Annahme des Vorsitzenden des Schöffengerichts die Gefährdungslage zum 21. April 2020 noch nicht in einem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schöffengerichts umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Amtsgerichts, zu erwägen sein. Auch wird – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein noch das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte. Jedenfalls sind die Anstrengungen des Gerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“

Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach Freispruch, oder: Sicherungsverteidiger

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Die zweite gebührenrechtliche Entscheidung kommt auch vom OLG Celle. Es handelt sich um den OLG Celle, Beschl. v. 10.09.2018 – 1 Ws 71/18. Der ist – fast hätte ich geschrieben: ausnahmsweise 🙂 – richtig.

Es geht im Beschluss um die Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach einem Freispruch. Dem ehemaligen Angeklagten ist im Verfahren ein versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Ihm wurde bereits im Ermittlungsverfahren im Rahmen der Haftbefehlsverkündung Rechtsanwalt Dr. T als Pflichtverteidiger beigeordnet. Im weiteren Verlauf ordnete der Kammervorsitzende des LG dem Angeklagten Rechtsanwalt Dr. M. als zweiten Pflichtverteidiger bei. Eine nähere Begründung findet sich in dem Beiordnungsbeschluss nicht. In einem Vermerk legte der Vorsitzende jedoch dar, dass aufgrund der zu erwartenden Dauer der Hauptverhandlung die Beiordnung eines zusätzlichen Verteidigers zur Sicherung des Verfahrens insbesondere vor dem Hintergrund des in Haftsachen zu beachtenden Grundsatzes der Beschleunigung geboten sei. Nach 21-tägiger Hauptverhandlung wurde der frühere Angeklagte durch Urteil des LG freigesprochen, wobei die Strafkammer die notwendigen Auslagen der Landeskasse auferlegte.

Beider Verteidiger haben dann aus abgetretenem Recht beantragt, die dem früheren Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen unter Berücksichtigung bereits erhaltener Pflichtverteidigergebühren festzusetzen. Dem ist der Rechtspfleger des LG bei der Dr. M. weitgehend nachgekommen – er war der erste. Bei der Rechtsanwalt Dr. T ebenfalls sind die zu erstattenden notwendigen Auslagen nur zu einem geringen Teil festgesetzt worden. Zur Begründung hat das LG ausgeführt, dass eine Erstattung der notwendigen Auslagen nach § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO nur insoweit in Betracht komme, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. Demzufolge setzte es Gebühren ab, die bereits gegenüber dem weiteren Verteidiger Dr. M festgesetzt worden waren.Das hat das OLG anders gesehen.

„3. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

a) Im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 464b StPO wird die Höhe der Kosten und Auslagen festgesetzt, die ein Beteiligter einem anderen zu erstatten hat (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Rn. 1). Dabei geht das Landgericht zunächst zutreffend davon aus, dass nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Kosten mehrerer Verteidiger grundsätzlich nur insoweit zu erstatten sind, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Auflage, § 464a StPO Rn. 13). Dieser Grundsatz gilt auch für umfangreiche und schwierige Verfahren, insbesondere auch in Schwurgerichtssachen (vgl. KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online m.w.N.) und wird weder durch das durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Recht des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren noch das Recht auf Hinzuziehung von bis zu drei Verteidiger gemäß § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO relativiert (vgl. BVerfG NJW 2004, 3319, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO aaO).

b) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass dieser Grundsatz dann eine Ausnahme erfährt, wenn die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden Gründen – wie etwa zur Sicherung des Fortgangs des Verfahrens – erfolgt (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 2 Ws 176/12 –, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. September 2011 – 1 Ws 417/11 –, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 19. Oktober 2006 – 1 Ws 206/06 –, juris; OLG Köln, Beschluss vom 09. August 2002 – 2 Ws 191/02 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Juli 2014 – III-1 Ws 305/14 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 13, beck-online; aA Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 10. November 1993 – 1b Ws 255/93 –, juris).

Der überwiegenden Ansicht liegt die Erwägung zugrunde, dass der Freigesprochene durch den Umstand einer ihm nicht zuzurechnenden Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nicht benachteiligt werden darf. Dies steht auch in Einklang mit der verfassungsrechtlichen Vorgabe, wonach bei der Auslegung der gesetzlichen Verweisung in § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO auf § 91 Abs. 2 ZPO der Sinnzusammenhang aller einschlägigen Regelungen der Strafprozessordnung zu berücksichtigen ist und § 91 Abs. 2 ZPO lediglich als Grundsatzregel zu verstehen ist, die Ausnahmen zugänglich ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

c) Der Senat schließt sich der herrschen Ansicht an. Da jede Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 52 Abs. 1 Satz 1 RVG für diesen den vollen gesetzlichen Vergütungsanspruch entstehen lässt, auch wenn sie gegen den Willen des Angeklagten erfolgt (vgl. BeckOK RVG/Sommerfeldt/Sommerfeldt RVG § 52 Rn. 1, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online), wäre eine Versagung eines Erstattungsanspruchs nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO dann nicht gerechtfertigt, wenn die Umstände nicht in der Sphäre des Angeklagten liegen, sondern auf anderen ihm nicht zuzurechnenden Faktoren – wie etwa der Verfahrenssicherung – beruhen. Nur auf diese Weise wird dem Umstand hinreichend Rechnung getragen, dass bei einem freigesprochenen Angeklagte vorangegangenes strafbaren Verhaltens nicht als Grund für eine finanzielle Haftung in Betracht kommt und dieser daher nicht mit Kosten belastet werden darf, die aus von ihm selbst nicht zu vertretenen Gründen entstanden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

Gemessen an diesen Grundsätzen waren vorliegend die Auslagen in Höhe der Wahlverteidigergebühren unter Anrechnung bereits erhaltener Vergütung als Pflichtverteidiger als notwendige Auslagen des Angeklagten dem Grunde nach erstattungsfähig. Zwar findet sich im Beiordnungsbeschluss vom 20. Juli 2017 keine Begründung für die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers. Dem zuvor gefertigten Vermerk des Vorsitzenden Richters vom 18. Juli 2017 lässt sich diese hingegen zureichend entnehmen. Danach erfolgte die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers vor allem deshalb, um dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot unter Berücksichtigung der Interessen des Angeklagten an der Verteidigung durch den von ihm gewünschten Verteidiger seines Vertrauens hinreichend Rechnung zu tragen. Die zusätzliche Beiordnung war demnach nicht einem Verhalten des früheren Angeklagten, sondern dem Umstand geschuldet, dass der zunächst beigeordnete Verteidiger seines Vertrauens erklärt hatte, an einigen avisierten Hauptverhandlungsterminen verhindert zu sein. Die Verfahrenssicherung erfolgte damit aus Fürsorgegesichtspunkten zur Sicherung eines reibungslosen Verfahrens.“

Pflicht II: Sicherungsverteidiger, oder: Nur, wenn unbedingt nötig

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Die zweite Entscheidung zu Pflichtverteidigungsfragen ist der KG, Beschl. v. 06.07.2016 – 2 Ws 176/16 – ja, schon älter, habe ich aber erst jetzt erst vor kurzem erhalten. Es geht um die Beschwerde eines Angeklagten gegen die erfolgte Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Auf den ersten Blick stutzt man, aber: Es ging um einen Sicherungsverteidiger, den das LG dem Angeklagten neben dessen bereits beigeordneten Verteidiger „zur Sicherung des Verfahrens“ als weiteren Pflichtverteidiger beigeordnet hatte. Der Vorsitzende war davon ausgegangen, dass der bereits beigeordnete Verteidiger nicht an allen Terminstagen anwesend sein könnte. Der teilte dann aber mit, dass er (nunmehr) an sämtlichen Terminstagen teilnehmen könne. Er verlangte die Aufhebung der weiteren Beiordnung, was das LG ablehnte. Dagegen die Beschwerde des Angeklagten, die Erfolg hatte:

„2.) Die Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

Es kann hier offen bleiben, ob der Vorsitzende im Zeitpunkt der Beiordnungsentscheidung am 31. Mai 2016 bereits von der Mitteilung des Rechtsanwalts B., dass dieser doch an sämtlichen Terminen teilnehmen könne, Kenntnis gehabt hat. Jedenfalls liegen zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt die Voraussetzungen für eine weitere Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder § 140 Abs. 2 StPO nicht vor.

a) Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, wenn hierfür wegen des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Unter anderem besteht ein solches unabweisbares Bedürfnis bei einer besonderen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dann, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckt und zu ihrer ordnungsgemäßen Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann (vgl. KG, Beschlüsse vom 1. September 2013 – 4 Ws 122/13 –; vom 15. August 2011 – 4 Ws 75/11 –; vom 21. Juli 2003 – 4 Ws 126/03 –; und vom 5. November 1997 – 4 Ws 236, 237/97 –; OLG Brandenburg OLG-NL 2003, 261; 262 jeweils mit weit. Nachweisen).

b) Nach derzeitiger Aktenlage kann ein solcher Ausnahmefall nicht angenommen werden.

aa) Zur Sicherung des geordneten und zügigen Verfahrensablaufs in der Haftsache bedurfte es der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers zumindest nicht mehr wegen einer möglichen Verhinderung des Rechtsanwalts B. Dessen ursprünglicher Vortrag, er könne nicht an sämtlichen Hauptverhandlungstagen teilnehmen, hat sich durch seine Mitteilung vom 31. Mai 2016 erledigt. Hierdurch ist die Durchführung der Hauptverhandlung an den durch das Gericht bisher bestimmten Terminstagen in Anwesenheit des Verteidigers Rechtsanwalt B. gewährleistet.

bb) Hinsichtlich der Dauer der Hauptverhandlung existiert keine starre Grenze dergestalt, dass ab einer bestimmten Anzahl von Verhandlungstagen (hier derzeit zehn Tage) die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers in der Regel erforderlich ist. Eine solche Bestellung im Fall einer außergewöhnlich langen Hauptverhandlung beruht auf der Erfahrung, dass eine längere Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger werde planwidrig verhindert sein, und nimmt damit die allgemeine Prozessmaxime der Verfahrensbeschleunigung sowie gegebenenfalls auch das Gebot der besonderen Beschleunigung in Haftsachen auf (vgl. OLG Brandenburg; OLG Frankfurt/M., jeweils a.a.O.; OLG Hamm NJW 1978, 1986; KG, Beschluss vom 20. September 2013 – 4 Ws 122/13 –). Sie ist aber nur dann geboten, wenn und soweit andere Reaktionsmöglichkeiten auf die unvorhergesehene Verhinderung eines Verteidigers nicht ausreichen. In Betracht kommen insoweit unter anderem die Unterbrechung der Hauptverhandlung nach § 229 StPO, das Tätigwerden eines Vertreters gemäß § 53 Abs. 1 BRAO oder die Bestellung eines weiteren Verteidigers (erst) bei tatsächlichem Eintritt der Verhinderung oder Ausbleiben des zunächst allein beigeordneten Verteidigers. Die letztgenannte Möglichkeit einer Verteidigerbestellung in der laufenden Hauptverhandlung ist in § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO ausdrücklich vorgesehen (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 1993 – 4 Ws 291/93, 304/93 –, OLG Brandenburg a.a.O.).

Da die Hauptverhandlung binnen eines Monats abgeschlossen sein soll, liegt keine außergewöhnliche Dauer des Verfahrens vor. Die Kammer hat außerdem vorab die Urlaube sämtlicher Zeugen abgefragt und bei der Terminierung berücksichtigt, sodass insoweit keine Verzögerungen zu erwarten sind. Schließlich hat die Kammer an den letzten drei Verhandlungstagen keinerlei Beweisprogramm vorgesehen, sodass für unvorhergesehene Entwicklungen im Verlauf der Verhandlung ein ausreichend großes Zeitpolster besteht.

cc) Ferner rechtfertigen weder eine besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage noch ein ungewöhnlicher Umfang des Verfahrens eine Beiordnung. Es ist nur ein Fall des bandenmäßigen, bewaffneten und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt. Hierzu werden überwiegend Polizeizeugen gehört, die teilweise nur Angaben zu Ermittlungsvorgängen machen können. Das Verfahren besteht aus fünf Aktenbänden und drei sehr übersichtlichen und kurzen Sonderbänden Finanzermittlung. Aufgrund der Auffindesituation anlässlich der erfolgten Durchsuchung müsste die Beweisaufnahme innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens durchführbar sein.

dd) Schließlich gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit nicht die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers.

Es gibt bereits keinen allgemeinen Grundsatz, wonach einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, nur weil ein Mitangeklagter einen solchen hat (vgl. OLG Köln NStZ-RR 2012, 351; OLG Rostock, Beschluss vom 24. Juni 2002 – 1 Ws 273/02 – BeckRS 2002, 17722 Rdn. 5f). Dies muss dann erst recht gelten, wenn der Angeklagte bereits einen Verteidiger hat und keinen weiteren möchte.“

M.E. zutreffend. Man darf ja auch die Kostenfolgen für den Angeklagten nicht übersehen.

Sicherungsverteidiger – der darf nach dem Urteil entpflichtet werden.

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In umfangreichen Verfahren gibt es häufig einen Sicherungsverteidiger, teilweise wird er manchmal auch „Zwangsverteidiger“ genannt, wenn der Angeklagte diesen Verteidiger an sich gar nicht „möchte“. Aufgabe des Sicherungsverteidigers ist es, das Verfahren zu sichern, indem eben sicher gestellt ist, dass nicht nur ggf. ein Wahlanwalt, sondern eben auch ein weiterer (Pflicht)Verteidiger der gesamten Hauptverhandlung beiwohnt. Nur für den Fall, dass der Wahlanwalt mal „ausfällt“. Dieser Sinn und Zweck der Bestellung führt dazu, dass der Sicherungsverteidiger nach Abschluss der Hauptverhandlung in der Regel entpflichtet werden kann/darf. So das KG im KG, Beschl. v. 10.07.2015 – 1 Ws 44/15 – 141 AR 310/15:

„Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Der Strafkammervorsitzende hat die Pflichtverteidigerbestellung Rechtsanwalts V. mit Recht zurückgenommen.

Der anlässlich der Vorbereitung der Hauptverhandlung geführten Korrespondenz ist zu entnehmen, dass Rechtsanwalt V. dem Beschwerdeführer zwecks Sicherung der Hauptverhandlung zum weiteren Pflichtverteidiger bestellt wurde. Wegen der anfänglichen urlaubsbedingten Verhinderungen Rechtsanwalts F. wären der zur Wahrung des Beschleunigungsgebots notwendige Beginn und die zügige Durchführung der Hauptverhandlung nicht möglich gewesen, auch musste mit Blick auf die anzuberaumenden zahlreichen Hauptverhandlungstermine und der zu erwartenden Terminskollisionen Rechtsanwalts F. gewährleistet werden, dass der Beschwerdeführer an allen Hauptverhandlungstagen jedenfalls durch einen Verteidiger verteidigt wird.

Nach dem Abschluss des Tatsachenrechtszugs ist es nicht mehr notwendig, mit der Aufrechterhaltung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers den Fortgang der Hauptverhandlung zu sichern (vgl. OLG Düsseldorf StV 1990, 348; OLG Köln NStZ-RR 2012, 287; ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, vgl. etwa Beschlüsse vom 13. Juni 2001 – 3 Ws 312/01 – bei juris und 23. März 2009 – 4 Ws 25/09 –;  Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, StPO 26. Aufl., § 143 Fn. 37 zu Rdn. 8). Die Rücknahme der Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers nach Beendigung der Hauptverhandlung ist daher nicht zu beanstanden, wenn nicht ausnahmsweise besondere weitere Gründe für den Fortbestand der zusätzlichen Bestellung eines Pflichtverteidigers ersichtlich sind (vgl. KG, Beschluss vom 13. Juni 2001 – 3 Ws 312/01 – a.a.O.). Ein solcher Fall, bei dem für die sachgerechte Verteidigung des Beschwerdeführers auch im Revisionsverfahren noch die Tätigkeit eines zweiten Verteidigers erforderlich schiene, ist nicht gegeben, zumal der Beschwerdeführer gegen Ende der Hauptverhandlung ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls und des Nichtabhilfevermerks des Strafkammervorsitzenden die gegen ihn erhobenen Vorwürfe weitgehend eingeräumt hat.

Auch Gründe des Vertrauensschutzes (vgl. dazu näher KG, Beschluss vom 20. September 2013 – 4 Ws 122/13 – bei juris m.w.N.) gebieten es nicht, es bei der Bestellung des zweiten Pflichtverteidigers zu belassen. Denn der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes ist dann nicht einschlägig, wenn sich die für die Pflichtverteidigerbestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; KG, Beschluss vom 20. September 2013 – 4 Ws 122/13 –). So verhält es sich hier. Entgegen dem Vorbringen Rechtsanwalts V. im Schriftsatz vom 2. Juli 2015 war es für den Beschwerdeführer erkennbar, dass die Bestellung der Sicherung der Hauptverhandlung diente. Zwar enthielt der Beschluss, mit dem der Strafkammervorsitzende Rechtsanwalt V. zum weiteren Pflichtverteidiger bestellte, nicht den – von vornherein für Klarheit sorgenden und empfehlenswerten – Zusatz „zur Sicherung der Hauptverhandlung“. Allerdings ergab sich dies aus dem Schreiben des Vorsitzenden vom 6. Mai 2014, mit dem er dem Beschwerdeführer Gelegenheit gab, einen weiteren Verteidiger neben Rechtsanwalt F. als Pflichtverteidiger zu benennen. Der Vorsitzende teilte dem Beschwerdeführer in diesem Schreiben mit, dass die Bestellung des weiteren Verteidigers wegen des Umfangs der im Einzelnen benannten zahlreichen Hauptverhandlungstermine in Betracht komme, und er wies auf das Erfordernis hin, dass dem Beschwerdeführer „in jedem Termin zumindest einer der beiden Verteidiger zur Verfügung steht“. Damit war der Zweck der weiteren Pflichtverteidigerbestellung für den Beschwerdeführer hinreichend sicher erkennbar. Anlass darauf zu vertrauen, dass die Bestellung auch über den Schluss der Hauptverhandlung fortbestehen werde, bestand nicht.“