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Pflichti III: Entpflichtung des Sicherungsverteidigers, oder: Wenn der Sicherungsverteidiger nicht gehen darf

Und als letzten Beschluss zur Pflichtverteidigung in 2021 dann noch der OLG Celle, Beschl. v. 21.12.2021 – 5 StS 1/21. Er betrifft ein Verfahren wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung u.a.. In dem hat das OLG den Angeklagten am 25.10.2021 verurteilt. Gegen das Urteil hat der Wahlanwalt Revision eingelegt.

Nun hat der dem Angeklagten vom OLG bestellte Sicherungsverteidiger Aufhebung seiner Bestellung beantragt. Dieser war dem Angeklagten am 02.03.2021 als zusätzlicher, zweiter Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Zur Begründung dieser Entscheidung hatte der OLG darauf verwiesen, dass der Umfang der gesamten Verfahrensakten einschließlich aller Beiakten mehr als 80 Leitzordner nebst weiteren umfangreichen Strukturakten umfasse. Zudem werde dem Angeklagten ein Verstoß gegen § 18 AWG beruhend auf einer tatsächlichen Konstellation des Tatverdachts zur Last gelegt, die bislang soweit ersichtlich weder durch die Obergerichte noch durch den BGH entschieden worden sei.

Das OLG hat die Entbindung abgelehnt:

„Der Antrag von Rechtsanwalt P ist unbegründet. Zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens ist die Mitwirkung von Rechtsanwalt P als zusätzlicher Pflichtverteidiger trotz Verkündung des Urteils erster Instanz und der konkludent in dem Entpflichtungsantrag enthaltenen Erklärung, an der Revisionsbegründungschrift und dem anschließenden Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof nicht mitwirken zu wollen, weiterhin iS von § 144 Abs. 1 StPO „erforderlich“.

Gemäß § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem gewählten oder gemäß § 141 StPO bestellten Verteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist.“ Aus ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut ergibt sich, dass Prämisse und zentrale Voraussetzung dieser Norm – neben den weiteren Voraussetzungen des Falles einer notwendigen Verteidigung und der bereits erfolgten Beauftragung bzw. Bestellung eines Verteidigers – ist, dass die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens erforderlich, mithin notwendig sein muss Eine die Durchführung des Verfahrens beschleunigende Wirkung muss der Beiordnung, wie die Verwendung des Adjektivs „zügig“ vermuten lassen könnte, hingegen nicht zukommen. Der Gesetzgeber dürfte hier vielmehr seiner Hoffnung Ausdruck verliehen haben, dass durch die Beiordnung das Verfahren auch weiterhin „zügig“ durchgeführt werden kann. Soweit der Gesetzgeber beispielhaft „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, hat er sich ersichtlich eines Regelbeispiels bedient und dabei einen der Hauptanwendungsfälle benannt, in welchem die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers in Frage kommt (vgl. Senatsbeschluss v. 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, BeckRS 2020, 8474).

Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO liegen trotz des nach Urteilsverkündung nunmehr absehbaren Abschlusses des Verfahrens erster Instanz weiterhin vor. Aufgrund der Tatsache, dass Rechtsanwalt E eine nicht beschränkte Revision eingelegt hat, kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung sowohl über den Schuld- als auch den Rechtsfolgenausspruch an einen anderen Senat zurückverwiesen werden könnte. In diesem Fall müsste dem Angeklagten, würde dem Antrag von Rechtsanwalt P entsprochen und dieser jetzt entpflichtet, jedenfalls wegen des vorstehend unter I. skizzierten Umfangs des Verfahrens eventuell erneut ein zusätzlicher Pflichtverteidiger bestellt werden. Ob Rechtsanwalt P, der sich zwischenzeitlich in das umfangreiche Verfahren eingearbeitet hat, in diesem Fall abermals als solcher zur Verfügung stünde, kann nicht verlässlich vorhergesagt werden. Wäre dies nicht der Fall, müsste sich ein anderer zusätzlicher Pflichtverteidiger vor einer erneuten Verhandlung erst in das sehr umfangreiche Verfahren einarbeiten, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer – durch die Aufrechterhaltung der Beiordnung von Rechtsanwalt P – vermeidbaren Verzögerung führen würde.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem vorstehend aufgezeigten Verfahrensgang lediglich um einen möglichen und – statistisch gesehen – weniger wahrscheinlichen Fall als den der Verwerfung der Revision handelt. Es reicht aus, dass der vorstehend aufgezeigte Verfahrensgang lediglich möglich ist. Rechtsanwalt P hat weder Umstände dargelegt noch sind solche erkennbar, aufgrund derer er im Falle der Aufrechterhaltung seiner Bestellung gewichtigere andere berufliche bzw. sonstige Verpflichtungen nicht einhalten könnte. Derartige Umstände könnten zwar die Erforderlichkeit der Mitwirkung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht berühren, wohl aber die Zumutbarkeit für Rechtsanwalt P, diese Aufgabe weiterhin wahrzunehmen.

Die Mitwirkung von Rechtsanwalt P ist somit weiterhin „erforderlich“ iS des § 144 Abs. 1 StPO und diesem auch zumutbar. Damit liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung seiner Bestellung nach § 144 Abs. 2 StPO, der in einem komplementären Verhältnis zu Abs. 1 steht, nicht vor. Für eine solche Auslegung des § 144 Abs. 1 und 2 StPO in Fällen der vorliegenden Art, in denen mithin aufgrund des Umfangs des Verfahrens ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist und gegen das Urteil erster Instanz ein nicht beschränktes Rechtsmittel eingelegt wurde, sprechen auch die mit dem Wortlaut der Norm zwanglos in Einklang zu bringende Motive des Gesetzgebers. Danach soll die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers dann aufzuheben sein, wenn die speziellen Voraussetzungen der Bestellung entfallen seien, was bei Bestellung zur Sicherung der Durchführung einer umfangreichen Hauptverhandlung „in der Regel erst mit deren Abschluss der Fall“ sei (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 50).

Die Bestellung von Rechtsanwalt P hat mithin fortzudauern. Sie würde bei unveränderter Sachlage gemäß § 143 Abs. 1 StPO erst mit dem „rechtskräftigen Abschluss“ des Verfahrens oder mit dessen Einstellung enden.“

Das kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Warum denn jetzt noch einen Sicherungsverteidiger? Allein wegen der Möglichkeit der Aufhebung des OLG-Urteils durch den BGH? Das überzeugt mich nicht. Man kann ja, wenn der BGH aufheben sollte, den Pflichtverteidiger erneut bestellen. Dem entgegen zu halten, dass der ggf. nicht zur Verfügung steht, ist ein wenig viel „Blick in die Zukunft“-

Pflichti III: „Wahlpflichtverteidiger“ fehlt in der HV, oder: Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts?

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Und zum Schluss der heutigen „Pflichtverteidigungsreihe“ dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 16. 02. 2021 – III – 5 RVs 3/21. Thematik: Rechtsmittelverzicht in Abwesenheit des „Wahlpflichtverteidigers“.

Das AG hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. In der Hauptverhandlung war der vom Angeklagten gewählte Pflichtverteidiger nicht anwesend. Das AG  hat daher – gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten – diesem einen Sicherungsverteidiger beigeordnet. Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung erklärt der Angeklagte dann, dass er auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil verzichtet. Später dann die Sprungrevision, die Erfolg hatte:

„1. Die form- und fristgerecht erhobene Revision des Angeklagten ist trotz des von ihm erklärten Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 StPO) zulässig, da dieser wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam ist. .

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelverzicht wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam, wenn er auf einer vom Gericht zu verantwortenden unzulässigen Einwirkung mit: solchen Beeinflussungsmitteln beruht, die nicht von § 136a StPO verboten sind (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3 StR 214/19, Rn. 22, 23, juris; BGH, Urteil vorn 21.04.1999 – 5 StR 714/98, juris). Eine derartige Einwirkung kommt insbesondere, dann in Betracht, wenn dem Angeklagten vom Gericht, eine Erklärung über den Rechtsmittelverzicht abverlangt wird, ohne ihm zunächst Gelegenheit zu geben, sich dazu erst nach einer Beratung mit -seinem Verteidiger zu äußern, der Rechtsmittelverzicht mithin praktisch unter Umgehung oder Ausschaltung des Verteidigers erwirkt wird (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3-StR 214/19 -,Rn. 30 – 31, juris; BGH, Urteil vom 17:09.1963 – 1 StR 301/63,.juris).

Ausgehend von diesem Maßstab ist vorliegend eine unzulässige Beeinflussung seitens des Gerichts anzunehmen. Ausweislich der dienstlichen Stellungnahme des erstinstanzlichen Richters ist der Angeklagte nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich von ihm danach befragt worden, ob er auf Rechtsmittel verzichten wollte. Gelegenheit, diese Fragestellung vor Abgabe der betreffenden Erklärung mit, dem von ihm gewählten, und im Hauptverhandlungstermin nicht anwesenden Pflichtverteidiger zu erörtern, ist ihm hierbei nicht eingeräumt worden. Der Angeklagte konnte vielmehr ausschließlich Rücksprache, mit dem weiteren Verteidiger nehmen. Diese Beratungsmöglichkeit ist indes nicht ausreichend, da die Bestellung von pp. zum sogenannten Sicherungsverteidiger (§ 144 StPO) nicht nur gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten; sondern auch verfahrensfehlerhaft erfolgte. Bleibt – wie vorliegend – der Verteidiger im Falle der notwendigen Verteidigung in der Hauptverhandlung aus, ist dem Angeklagten vor der Bestellung eines neuen Verteidigers Gelegenheit zu geben, einen Vorschlag zu unterbreiten. Dieses Vorschlagsrecht dient dem Recht des Angeklagten auf den Verteidiger seines Vertrauens-sowie der effektiven Verteidigung und gilt-unabhängig davon, ob – wie vorliegend – die Bestellung auf § 144, StPO oder – wie an sich zutreffend – auf § 145 StPO gestützt wird (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, 1. Aufl. 2014, § 145 StPO Rn. 8; Krawczyk, in: BeckscherOK, Stand: 01.10:2020, § 145 StPO Rn. 6). Einer Entscheidung, ob überhaupt die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines neuen Verteidigers gegeben wären, bedurfte es daher nicht. Denn bei beiden Vorgehensweisen besteht aus den genannten Gründen zunächst ein Auswahlrecht des Angeklagten (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, a.a.O., § 145 StPO Rn. 8). Da dieses Auswahlrecht seitens des Gerichts übergangen wurde, ist dem Angeklagten die Möglichkeit genommen worden, die Frage des Rechtsmittelverzichts mit dem Verteidiger seines Vertrauens zu beraten. Die unzureichende Beratungsmöglichkeit ist daher-durch die Justiz zu vertreten, so dass ein Rechtsmittelverzicht nicht vorliegt.

2. Die Revision ist ferner begründet, weil der Angeklagte durch die gegen seinen Willen erfolgte Beiordnung des Sicherungsverteidigers Rechtsanwalt pp.in erheblicher Weise in seinen Verteidigungsrechten (§ 338 Nr. 8 StPO) eingeschränkt worden ist.

a) Die diesbezügliche Verfahrensrüge des Angeklagten genügt den Begründungsanforderungen des § 344 Abs.-2 Satz 2 StPO und ist damit zulässig erhoben.

b) Sie hat ferner auch in der Sache Erfolg. Hierbei kann erneut offenbleiben, ob die tatbestandlichen Vorrausetzungen der §§ 144, 145 StPO für die Bestellung eines weiteren Verteidigers gegeben waren. Denn durch die Missachtung des Auswahlrechtes des Angeklagten wäre dieser nicht hinreichend verteidigt. Insofern wird auf die Ausführungen zur Unzulässigkeit des Rechtsmittelverzichts verwiesen.“

Pflichti II: Kein Sicherungsverteidiger wegen Corona-Pandemie, oder: Aber Rechtsmittel zulässig

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Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 05.05.2020 – 4 Ws 94/20. Den hat der Kollege Urbanzyk aus Coesfeld erstritten.

In dem Verfahren, in dem der Kollege tätig war – Vorwur der sexuellen Nötigung – ist ein Sicherungsverteidiger beantragt worden (jetzt § 144 StPO). Begründet worden ist das mit der Corona-Pandemie und dem Risiko, dass ggf. Verfahrensbeteiligte, also auch der Verteidiger, nicht (weiter) an der Hauptverhandlung teilnehmen können. Das hat das LG abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die das OLG zurückgewiesen hat. Hier die Begründung, wobei es mir um die Ausführungen des OLG zur Zulässigkeit des Rechtsmittels geht:

„Der Senat nimmt gleichfalls Bezug auf die zutreffenden Erwägungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft. Ohne weitere Anhaltspunkte (etwa konkrete Krankheitsverdachtsfälle im näheren Umfeld des ersten Pflichtverteidigers o.ä.) ergibt sich derzeit aus der Ansteckungsgefahr mit der Covid-19-Erkrankung kein Risiko, welches nennenswert über das allgemeine Risiko, dass Verfahrensbeteiligte krankheitsbedingt an der Hauptverhandlung nicht teilnehmen können, hinausgeht. Die Zahl der Infektionen bzw. Neuinfektionen war und ist – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – sehr gering. Zudem bestünde selbst im Falle einer Infektion angesichts des meist milden Krankheitsverlaufs und – nach derzeitigem Stand – nach dem Ablauf von zwei Wochen nach einer Infektion nicht mehr bestehender Ansteckungsgefahr eine erheblich überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Hauptverhandlung bei krankheitsbedingtem Ausfall einzelner Hauptverhandlungstage immer noch innerhalb der Fristen des § 229 StPO fortgesetzt werden kann.

Ergänzend bemerkt der Senat, dass das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nach § 144 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 7 StPO auch in den Fällen statthaft ist, in denen die erstmalige Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (Sicherungsverteidigers) abgelehnt wurde. Zwar spricht die Einordnung der Regelung über die Geltung des § 142 Abs. 7 StPO als S. 2 von § 144 Abs. 2 StPO zunächst einmal dafür, dass sich der Verweis auch nur auf Rechtsmittel gegen Entscheidungen nach § 144 Abs. 2 S. 1 StPO (also die Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers) bezieht. Abgesehen davon, dass kein vernünftiger Grund erkennbar ist, warum die Bestellung oder Nichtbestellung eines (ersten) Pflichtverteidigers nach § 142 Abs. 7 StPO sowie die Aufhebung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, nicht aber die Bestellung oder Ablehnung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein soll, geht der Gesetzgeber selbst von einer entsprechenden Anfechtbarkeit aller dieser Fälle aus (BT-Drs. 19/13829 S, 50; vgl. auch: Beck-OK-StPO-Krawczyk, 36. Ed., § 144 Rdn. 12).

Der Angeklagte hat auch ein Rechtsschutzinteresse bzgl. eines Rechtsmittels gegen die Nichtbestellung eines Sicherungsverteidigers. § 144 Abs. 1 StPO dient nicht nur dem öffentlichen Interesse der Verfahrenssicherung im Sinne einer effektiven Strafrechtspflege, sondern auch dem Interesse des Angeklagten an der Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. BT-Drs. 19/13829 S, 49 f.).“

Corona II: U-Haft, oder: Sicherungs(pflicht)verteidiger?

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Und auch die zweite „Corona-Entscheidung“ stammt aus dem Bereich der sog. Sechsmonatshaftprüfung. Es handelt sich erneut um einen Beschluss des OLG Stuttgart, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 72/20.

Er liegt auf der Linie der bisherigen zu den „Corona-Fragen“ bekannt gewordenen Entscheidungen. Daher hier zunächst nur die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar.
  2. Ein solcher wichtiger Grund kann auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.
  3. Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach § 121 ff. StPO nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu.
  4. Dabei wird allerdings – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn al-lein das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte.

Zu 1 – 3 ist das – wie gesagt – die bisherige Rechtsprechung. Darüber hinaus geht aber Leitsatz 4, zu dem das OLG ausführt:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 mwN). Falls sich entgegen der Annahme des Vorsitzenden des Schöffengerichts die Gefährdungslage zum 21. April 2020 noch nicht in einem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schöffengerichts umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Amtsgerichts, zu erwägen sein. Auch wird – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein noch das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte. Jedenfalls sind die Anstrengungen des Gerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“

Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach Freispruch, oder: Sicherungsverteidiger

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Die zweite gebührenrechtliche Entscheidung kommt auch vom OLG Celle. Es handelt sich um den OLG Celle, Beschl. v. 10.09.2018 – 1 Ws 71/18. Der ist – fast hätte ich geschrieben: ausnahmsweise 🙂 – richtig.

Es geht im Beschluss um die Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach einem Freispruch. Dem ehemaligen Angeklagten ist im Verfahren ein versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Ihm wurde bereits im Ermittlungsverfahren im Rahmen der Haftbefehlsverkündung Rechtsanwalt Dr. T als Pflichtverteidiger beigeordnet. Im weiteren Verlauf ordnete der Kammervorsitzende des LG dem Angeklagten Rechtsanwalt Dr. M. als zweiten Pflichtverteidiger bei. Eine nähere Begründung findet sich in dem Beiordnungsbeschluss nicht. In einem Vermerk legte der Vorsitzende jedoch dar, dass aufgrund der zu erwartenden Dauer der Hauptverhandlung die Beiordnung eines zusätzlichen Verteidigers zur Sicherung des Verfahrens insbesondere vor dem Hintergrund des in Haftsachen zu beachtenden Grundsatzes der Beschleunigung geboten sei. Nach 21-tägiger Hauptverhandlung wurde der frühere Angeklagte durch Urteil des LG freigesprochen, wobei die Strafkammer die notwendigen Auslagen der Landeskasse auferlegte.

Beider Verteidiger haben dann aus abgetretenem Recht beantragt, die dem früheren Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen unter Berücksichtigung bereits erhaltener Pflichtverteidigergebühren festzusetzen. Dem ist der Rechtspfleger des LG bei der Dr. M. weitgehend nachgekommen – er war der erste. Bei der Rechtsanwalt Dr. T ebenfalls sind die zu erstattenden notwendigen Auslagen nur zu einem geringen Teil festgesetzt worden. Zur Begründung hat das LG ausgeführt, dass eine Erstattung der notwendigen Auslagen nach § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO nur insoweit in Betracht komme, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. Demzufolge setzte es Gebühren ab, die bereits gegenüber dem weiteren Verteidiger Dr. M festgesetzt worden waren.Das hat das OLG anders gesehen.

„3. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

a) Im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 464b StPO wird die Höhe der Kosten und Auslagen festgesetzt, die ein Beteiligter einem anderen zu erstatten hat (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Rn. 1). Dabei geht das Landgericht zunächst zutreffend davon aus, dass nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Kosten mehrerer Verteidiger grundsätzlich nur insoweit zu erstatten sind, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Auflage, § 464a StPO Rn. 13). Dieser Grundsatz gilt auch für umfangreiche und schwierige Verfahren, insbesondere auch in Schwurgerichtssachen (vgl. KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online m.w.N.) und wird weder durch das durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Recht des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren noch das Recht auf Hinzuziehung von bis zu drei Verteidiger gemäß § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO relativiert (vgl. BVerfG NJW 2004, 3319, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO aaO).

b) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass dieser Grundsatz dann eine Ausnahme erfährt, wenn die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden Gründen – wie etwa zur Sicherung des Fortgangs des Verfahrens – erfolgt (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 2 Ws 176/12 –, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. September 2011 – 1 Ws 417/11 –, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 19. Oktober 2006 – 1 Ws 206/06 –, juris; OLG Köln, Beschluss vom 09. August 2002 – 2 Ws 191/02 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Juli 2014 – III-1 Ws 305/14 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 13, beck-online; aA Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 10. November 1993 – 1b Ws 255/93 –, juris).

Der überwiegenden Ansicht liegt die Erwägung zugrunde, dass der Freigesprochene durch den Umstand einer ihm nicht zuzurechnenden Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nicht benachteiligt werden darf. Dies steht auch in Einklang mit der verfassungsrechtlichen Vorgabe, wonach bei der Auslegung der gesetzlichen Verweisung in § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO auf § 91 Abs. 2 ZPO der Sinnzusammenhang aller einschlägigen Regelungen der Strafprozessordnung zu berücksichtigen ist und § 91 Abs. 2 ZPO lediglich als Grundsatzregel zu verstehen ist, die Ausnahmen zugänglich ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

c) Der Senat schließt sich der herrschen Ansicht an. Da jede Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 52 Abs. 1 Satz 1 RVG für diesen den vollen gesetzlichen Vergütungsanspruch entstehen lässt, auch wenn sie gegen den Willen des Angeklagten erfolgt (vgl. BeckOK RVG/Sommerfeldt/Sommerfeldt RVG § 52 Rn. 1, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online), wäre eine Versagung eines Erstattungsanspruchs nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO dann nicht gerechtfertigt, wenn die Umstände nicht in der Sphäre des Angeklagten liegen, sondern auf anderen ihm nicht zuzurechnenden Faktoren – wie etwa der Verfahrenssicherung – beruhen. Nur auf diese Weise wird dem Umstand hinreichend Rechnung getragen, dass bei einem freigesprochenen Angeklagte vorangegangenes strafbaren Verhaltens nicht als Grund für eine finanzielle Haftung in Betracht kommt und dieser daher nicht mit Kosten belastet werden darf, die aus von ihm selbst nicht zu vertretenen Gründen entstanden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

Gemessen an diesen Grundsätzen waren vorliegend die Auslagen in Höhe der Wahlverteidigergebühren unter Anrechnung bereits erhaltener Vergütung als Pflichtverteidiger als notwendige Auslagen des Angeklagten dem Grunde nach erstattungsfähig. Zwar findet sich im Beiordnungsbeschluss vom 20. Juli 2017 keine Begründung für die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers. Dem zuvor gefertigten Vermerk des Vorsitzenden Richters vom 18. Juli 2017 lässt sich diese hingegen zureichend entnehmen. Danach erfolgte die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers vor allem deshalb, um dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot unter Berücksichtigung der Interessen des Angeklagten an der Verteidigung durch den von ihm gewünschten Verteidiger seines Vertrauens hinreichend Rechnung zu tragen. Die zusätzliche Beiordnung war demnach nicht einem Verhalten des früheren Angeklagten, sondern dem Umstand geschuldet, dass der zunächst beigeordnete Verteidiger seines Vertrauens erklärt hatte, an einigen avisierten Hauptverhandlungsterminen verhindert zu sein. Die Verfahrenssicherung erfolgte damit aus Fürsorgegesichtspunkten zur Sicherung eines reibungslosen Verfahrens.“