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Heute ist RVG-Tag und da gibt es eine AG- und eine OLG-Entscheidung.
Ich beginne mit dem AG Amberg, Beschl. v. 12.10.2022 – 6 Gs 398/21 -, der sich mit der Frage befasst, was eigentlich mit den gesetzlichen Gebühren des Pflichtverteidigers ist, wenn die Pflichtverteidigerbestellung rückwirkend aufgehoben wird. Das AG meint, dass damit dann ein Vergütungsanspruch des Verteidigers entfällt. Das ist schlicht falsch.
Folgender Sachverhalt: Der Kollege Jendricke, der mit den Beschluss geschickt hat, war Verteidiger des Beschuldigten in dem Verfahren mit dem Vorwurf des Verbreitens jugendpornographischer Schriften. Er erhielt am 17.02.2021 Akteneinsicht (in einen Sonderband). Mit Schriftsatz vom 19.o2.2021 beantragte der Verteidiger die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO. Mit Schriftsatz vom 23.02.2021 beantragte er seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Die Staatsanwaltschaft stellte mit Verfügung vom 03.03.2021 das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Mit Beschluss vom 08.03.2021 hat das AG entgegen der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten den Kollegen als Pflichtverteidiger bestellt. Aus den Gründen des Bestellungsbeschlusses ist ersichtlich, dass dies zur Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts erfolgte. Ds LG hat auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Pflichtverteidigerbestellung mit Beschluss vom 08.04.2022 aufgehoben.
Der Kollege hat die Festsetzung seiner Vergütung beantragt. Die Rechtspflegerin hat den Antrag zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Erinnerung des Rechtsanwalts hatte beim AG keinen Erfolg:
„Ein Vergütungsanspruch ist nicht entstanden, da das Landgericht Amberg mit Beschluss vom 08.04.2022 die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben hat.
Die 1. Strafkammer des Landgerichts Amberg hat in seinem Beschluss vom 08.04.2021 u.a. ausgeführt:
„Die Kammer hält an ihrer bisherigen Rechtsprechung fest, dass eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für ein abgeschlossenes Verfahren oder einen abgeschlossenen Instanzenzug unzulässig ist und zwar auch dann, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde und in der Sache hätte Erfolg haben können. Denn die Bestellung des Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Betroffenen oder seines Verteidigers, sondern verfolgt allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensverlauf gewährleistet ist.
Soweit in der (der Kammer bekannten) Rechtsprechung -…- die Auffassung vertreten ‚wird, unter besonderen Umständen sei eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen, namentlich wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und das Begehren in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde, folgt die‘ Kammer dem nicht. Denn das Institut der notwendigen Verteidigung ist dazu bestimmt, dem Beschuldigten einen rechtskundigen Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Die gerichtliche Bestellung eines Verteidigers kann nur für die Zeit ab dem Beiordnungsakt erfolgen weil dieser Akt keinen Einfluss darauf hat, ob in zurückliegenden Verfahrensabschnitten ein Verteidiger tatsächlich mitgewirkt hat oder nicht. Für die erfolgte Verteidigermitwirkung nachträglich eine Bestellung anzuordnen, befriedigte nur noch das Kosteninteresse des Beschuldigten oder des Verteidigers, diente aber nicht mehr dem aufgezeigten Zweck der Sicherung einer Verteidigung.“
Die Pflichtverteidigerbestellung dient nicht – wie etwa die Beiordnung eines ,Rechtsanwalts im Prozesskostenhilfeverfahren – der finanziellen Sicherstellung der Verteidigung, sondern der Gewährleistung des erforderlichen rechtskundigen Beistands und der Sicherung des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs.
In vorliegendem Verfahren erhielt der zu diesem Zeitpunkt bereits durch den damaligen Beschuldigten beauftragte Rechtsanwalt (BI. 5) am 17.02.2021 Akteneinsicht in dem Sonderband.
Mit Schriftsatz vom 19.02.2021 beantragte der Verteidiger die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO.
Mit Schriftsatz vom 23.02.2021 beantragte der Verteidiger die Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Mit Verfügung vom 03.03.2021 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.
Mit Beschluss vom 08.03.2021 bestellte das Amtsgericht Amberg entgegen der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Amberg dem Beschuldigten den bereits von diesem beauftragten Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger. Aus den Gründen des Bestellungsbeschlusses ist ersichtlich, dass dies zur Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts erfolgte.
Die Akteneinsicht durch den vom Beschuldigten beauftragten Rechtsanwalt hatte jedoch bereits vor dem Bestellungsbeschluss und auch schon vor dem Antrag auf Beiordnung stattgefunden.
Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zur Sicherung eines rechtskundigen Beistands für den Beschuldigten und zur Gestaltung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs war zum Zeitpunkt der Bestellung des Pflichtverteidigers nicht mehr erforderlich. da das Verfahren bereits eingestellt war und der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Akteneinsicht durch seinen Wahlverteidiger vertreten war.
Wie in dem Aufhebungsbeschluss des Landgerichts Amberg ausführlich erläutert, würde die Bestellung eines Pflichtverteidigers genau zu dem von der 1. Strafkammer dargestellten Effekt führen, dass die Verteidigung in vorliegendem Verfahren zwar zu jeder Zeit gesichert war und durch die nachträgliche Beiordnung lediglich noch das Kosteninteresse des Beschuldigten bzw. des Verteidigers befriedigt würde.
Aus den Ausführungen der 1. Strafkammer geht hervor, dass genau diese Wirkung durch das Landgericht nicht gewollt war. Es hat deswegen den Bestellungsbeschluss des Amtsgerichts aufgehoben, da nach Ansicht des Landgerichts eine rückwirkende Bestellung für ein abgeschlossenes Verfahren oder einen abgeschlossenen Instanzenzug unzulässig ist.
Der Aufhebungsbeschluss des Landgerichts und das damit beabsichtigte Ergebnis würde vollkommen ins Leere laufen, wenn man nun trotz der Aufhebung der Bestellung eine Pflichtverteidigervergütung zubilligen würde.,
Die Begründung des Aufhebungsbeschlusses des Landgerichts Amberg kann nur so aufgefasst und ausgelegt werden, dass damit die Bestellung des Pflichtverteidigers rückwirkend aufgehoben sein sollte, da eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr erforderlich war.
Dass auch eine rückwirkende Aufhebung möglich ist, davon geht wohl auch das. vom Herrn Verteidiger zitierte Landgericht Kaiserslautern aus.
In dessen Entscheidung vom 11.01.2019, 4 Ks 6034 Js 10590/16 ist in RdNr. 15 ausgeführt:
… Die Aufhebung dieses Beschlusses bewirkte das Ende der Bestellung, allerdings nur für die Zukunft und nicht rückwirkend. Weder aus dem Aufhebungsbeschluss _vom 18:01.2017 noch aus dem weiteren Ablehnungsbeschluss vom 25.01.2017 ergibt sich eine rückwirkende Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung.“
In vorliegendem Verfahren ergibt sich aus dem Aufhebungsbeschluss des Landgerichts Amberg, dass die Pflichtverteidigerbestellung rückwirkend aufgehoben sein sollte.
Im Übrigen ist aus der Entscheidung des Landgerichts Kaiserslautern nicht ersichtlich, dass dort der gleiche Sachverhalt zugrunde lag, nämlich Bestellung des Pflichtverteidigers erst nach Abschluss des Verfahrens.
Die rückwirkende Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung widerspricht auch nicht dem Rechtsgedanken des § 15 Abs. 4 RVG.
§ 15 Abs. 4 RVG regelt, dass es ohne Einfluss auf bereits entstandene Gebühren ist, wenn sich die Angelegenheit vorzeitig erledigt oder der Auftrag endigt, bevor die Angelegenheit erledigt ist.
Der rückwirkende Wegfall der Pflichtverteidigerbestellung führt nicht zum Erlöschen der bereits entstandenen Gebühren, sondern hat hierauf keinerlei Einfluss.
Allerdings führt der rückwirkende Wegfall der Pflichtverteidigerbestellung zum Erlöschen des Erstattungsanspruchs gegen die Staatskasse.
Eine Bearbeitung für den Staat zum „Nulltarif“ wird nicht erwartet, jedoch war in vorliegendem Fall zeitlich nach der Bestellung keine Bearbeitung mehr angefallen und eine Bestellung zur Sicherung der Verteidigung nicht mehr erforderlich, weil das Verfahren bereits vor der Bestellung eingestellt worden war.
Die zum Zeitpunkt der Bestellung beim Verteidiger bereits entstanden gewesenen Gebühren und Auslagen sind nicht erloschen, sondern können weiterhin bei, seinem Auftraggeber geltend gemacht werden.
Eine Erstattung wurde durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle daher berechtigt abgelehnt.“
Eine wortreiche Begründung des AG, aber m.E. leider falsch.
Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung hat entgegen der Auffassung des AG gebührenrechtliche keine Rückwirkung mit der Folge, dass ggf. entstandene Gebührenansprüche des Pflichtverteidigers mit der Aufhebung entfallen. Dafür gibt es keine gesetzliche Grundlage, insbesondere ist nicht ersichtlich, worauf das Erlöschen des anwaltlichen Gebührenanspruchs beruhen soll. Insbesondere kann das nicht auf einem nicht durch eine gesetzliche Grundlage gedeckten landgerichtlichen Beschluss beruhen, wovon das AG offenbar ausgeht. Dagegen spricht – entgegen der Auffassung des AG – der Rechtsgedanke des § 15 Abs. 4 RVG. Dagegen spricht zudem auch § 48 RVG, der für die Höhe und den Umfang des Vergütungsanspruchs des Rechtsanwalts maßgeblich ist. Damit hat dann auch die Regelung in § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG Bedeutung, die das AG völlig übersieht/negiert. Sie regelt (auch hier), dass dem Wahlanwalt, der nachträglich zum Pflichtverteidiger bestellt wird, seine vor der Bestellung liegenden Tätigkeiten honoriert werden, also auch die Akteneinsicht in den Sonderband. Im Übrigen irrt das AG, wenn es meint, dass nach der Einstellung keine Tätigkeiten des Pflichtverteidigers mehr erbracht worden sind, die honoriert werden müssten. Dieser hat dem Mandanten nämlich zumindest die Einstellungsnachricht übermitteln. Diese Tätigkeit wird von der Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG erfasst. Damit bleibt es dabei: Zutreffend sind die bislang zu der Problematik vorliegenden Entscheidungen des LG Kaiserslautern (RVGreport 2019, 135 = JurBüro 2019, 245) und des AG Osnabrück (AGS 2021, 548), die die Frage anders als das AG Amberg entschieden haben. Über beide habe ich hier auch berichtet.
Der Kollege hat (natürlich) Rechtsmittel eingelegt. Ich hoffe, dass sich das LG nicht auch als Gesetzgeber aufspielt, wie es im Grunde das AG getan hat.