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Corona I: Sperrung von Sitzungssälen wegen Corona, oder: Hemmung der Unterbrechungsfrist

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In die 33. KW. starte ich dann erneut mit zwei Entscheidungen zu Corona.

Den Opener mache ich mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.06.2021 – 1 Ss 235/20. Der Angeklagte ist nach Freispruch durch das AG vom LG wegen Urkundenfälschung verurteilt worden. Mit der Verfahrensrüge hat er einen Verstoß gegen § 229 StPO geltend gemacht. Ohne Erfolg:

„b) Ergänzender Ausführungen bedarf es nur bezüglich der – im Ergebnis nicht durchgreifenden – Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte einen Verstoß gegen die Unterbrechungsvorschrift des § 229 StPO geltend macht, wonach die Hauptverhandlung mehr als drei Wochen lang unterbrochen gewesen sei, ohne dass ein Beschluss nach § 229 Abs. 5 StPO oder ein solcher nach § 10 EGStPO getroffen worden sei.

aa)  Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Die Hauptverhandlung über die Berufung des Angeklagten, die am 21. August 2020 begonnen hatte, wurde noch am selben Tag unterbrochen und erst am 17. September 2020 wieder fortgesetzt. Ein Beschluss nach § 229 Abs. 5 StPO bzw. § 10 Abs. 1 Satz 2 EGStPO (in der ab dem 28. März 2020 gültigen Fassung) erfolgte nicht.

Ausweislich der vom Senat deswegen freibeweislich (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 18.02.2016 – 1 StR 590/15, NStZ-RR 2016, 178) eingeholten dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden waren nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie bereits im März 2020 drei kleinere Sitzungssäle des Landgerichts Oldenburg, die zuvor insbesondere für die Sitzungen der kleinen Strafkammern zur Verfügung gestanden haben, gesperrt worden, da in diesen Sälen die Abstands- und Hygieneregeln nicht eingehalten werden konnten. Insofern hatten ab März 2020 nur noch drei Sitzungssäle für Strafsachen zur Verfügung gestanden, welche jedoch regelmäßig aufgrund vorrangig zu verhandelnder Haft- und sonstiger Eilsachen „überbucht“ waren. Dieser Zustand dauerte zum Zeitpunkt der Sitzungsunterbrechung am 21. August 2020 noch an. Zwar stand zu diesem Zeitpunkt bereits fest, dass im September angemietete Container als Sitzungssäle zur Verfügung stehen würden; tatsächlich konnten diese jedoch erst ab dem 7. September 2020 als Ausweichmöglichkeit genutzt werden.

Aus einer vom Vorsitzenden zugleich übermittelten Übersicht ergibt sich wiederum, dass im gesamten September 2021 die regulären, den Abstands- und Hygieneregeln entsprechenden Sitzungssäle bereits durch die vorrangigen Strafsachen mehr als ausgelastet waren.

bb) Vor diesem Hintergrund liegt ein Verstoß gegen die dreiwöchige Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO nicht vor, da diese gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO wegen Infektionsschutzmaßnahmen gehemmt war.

Nach dieser Vorschrift ist der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate; diese Fristen enden frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung.

(1) Der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO ist bewusst weit gefasst worden und umfasst sämtliche Gründe, die der ordnungsgemäßen Durchführung einer Hauptverhandlung aufgrund von Infektionsschutzmaßnahmen der Gerichte und Gesundheitsbehörden entgegenstehen können (vgl. BT-Drs. 19/18110, S. 32). Die Unmöglichkeit der Durchführung der Hauptverhandlung kann auf Anordnungen und Empfehlungen der Gerichtsverwaltung oder der Gesundheitsbehörden beruhen, sie kann sich aber auch daraus ergeben, dass ein Gericht auf Notbetrieb geschaltet hat oder dass die Abstände zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht eingehalten werden können (vgl. BT-Drs. 19/18110, S. 33).

In Ansehung dessen handelt es sich bei der Sperrung der kleineren Sitzungssäle durch die Gerichtsverwaltung ersichtlich um Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus. Denn diese Maßnahme erfolgte aufgrund des Umstandes, dass in diesen Räumlichkeiten die pandemiebedingten Abstands- und Hygieneregeln nicht eingehalten werden konnten. Die in diesem Zusammenhang vorgenommene Priorisierung der Haftsachen mit der Folge der fehlenden bzw. schlechten Verfügbarkeit der Säle für Nichthaftsachen, insbesondere auch für Berufungsverfahren, stellt sich als mittelbare Auswirkung dieser Schutzmaßnahmen dar, die nach dem Willen des Gesetzgebers ebenfalls vom Tatbestand des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO gedeckt ist (vgl. BT-Drs. 19/18110, S. 33).

(2) Dabei steht der Annahme der Hemmung von vornherein nicht entgegen, dass die Strafkammer keinen Beschluss über den Beginn und das Ende der Hemmung gefasst hat. Denn die Hemmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO tritt kraft Gesetzes ein (vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 2020 – 4 StR 431/20, NJW 2021, 1025; Beschluss vom 11.03.2021 – 1 StR 458/20, BeckRS 2021, 7948). Der – hier fehlende – Feststellungsbeschluss hat nur insoweit konstitutive Wirkung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststellt (vgl. BGH, a.a.O.; Beschluss vom 18.02.2016 – 1 StR 590/15, NStZ-RR 2016, 178).

(3) Da es sich bei der Frist in § 229 Abs. 1 StPO um eine Zwischenfrist handelt, in deren Berechnung weder der Tag, an dem die Unterbrechung angeordnet wird, noch derjenige, an dem die Verhandlung fortgesetzt wird, einzurechnen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 28.07.2020 – 6 StR 114/20, NStZ 2020, 622 m.w.N.), umfasst hier der Unterbrechungszeitraum im Ausgangspunkt 26 Tage. Nimmt man nunmehr den Eingangs dargestellten Verfahrensablauf in den Blick, war jedenfalls im Zeitraum vom 1. September 2020 – eine Übersicht über die Belegung der regulären Sitzungssäle für die Zeit vom 22. bis zum 31. August 2020 liegt nicht vor – bis zum 7. September 2020, mithin dem Zeitpunkt, ab dem die Container zur Nutzung zur Verfügung standen, der Lauf der Frist des § 229 Abs. 1 StPO gehemmt. Zieht man diesen Zeitraum von sieben Tagen vom Unterbrechungszeitraum ab, so umfasst Letzterer nur 19 Tage, so dass die Unterbrechungsfrist noch nicht ausgeschöpft worden ist. Überdies lief die Frist gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz EGStPO ohnehin frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung, demnach erst am 17. September 2020 ab, so dass die Verfahrensrüge – auch unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen im Schriftsatz des Verteidigers vom 28. Mai 2021 – keinen Erfolg hat.“

OWi II: Neues zu Leivtec XV 3, oder: Weiterhin nicht standardisiert, Auslagenerstattung, Wiederaufnahme

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Im Gespräch ist/war das Messverfahren Leivtec XV3. Darüber, insbesondere über die derzeit diskutierten Fragen der Verwertbarkeit, habe ich hier ja auch schon berichtet. Und auch zu dieser Problematik gibt es neuere Rechtsprechung, die ich in diesem Posting vorstelle. Und zwar:

Zunächst hier der OLG Oldenburg, Beschl. 19.07.2021 – 2 Ss (OWi) 170/21 –, über den der Kollege Gratz ja gestern auch schon berichtet hat. Er befasst sich mit der Verwertbarkeit von Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV 3 nach Abschluss der Untersuchungen durch die PTB. Das OLG meint: Auch danach ist das Messverfahren derzeit nicht als standardisiertes Messverfahren anzusehen. Das OLG ist – so habe ich den Eindrick – leicht „verschnupft“ über die zuständigen Behörden, denn:

„Der Senat hat erwogen, Messungen, bei denen diese kritischen Konstellationen vorgelegen haben, nicht mehr als standardisiert anzusehen, das Messverfahren im Übrigen aber schon.

Diese Überlegung hat der Senat allerdings verworfen:

Gemäß § 55 MessEG haben nämlich die zuständigen Behörden die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass Messgeräte nicht entsprechend den Anforderungen des Abschnittes 3 verwendet werden.

Der Senat hat deshalb mit Schreiben vom 18. Juni 2021 die zuständige Eichdirektion in Hessen zunächst mit der Bitte um Stellungnahme, ob und gegebenenfalls wie auf die Problematik reagiert werden solle, angeschrieben und – nachdem von dort mitgeteilt worden war, dass die Eichbehörden vom Hersteller und der PTB eine Anpassung der Messbedingungen und Auswerterichtlinien erwarten würden – mit Schreiben vom 23.06.2021 unter Hinweis auf § 55 MessEG zum Ausdruck gebracht, dass dringender Handlungsbedarf gesehen werde. Daraufhin hat die für die Marktüberwachung zuständige Eichdirektion mitgeteilt, nach ihrer Auffassung seien die „wesentlichen Anforderungen nach § 6 Abs. 2 [MessEG] unter Einhaltung der Verkehrsfehlergrenzen“ zu bejahen, nur der „Stand der Technik“ habe sich geändert und sei bei der Durchführung von Messungen vom Verwender zu berücksichtigen. Es bestehe keine Möglichkeit, den Hersteller bzw. die PTB zur Anpassung der Auswerterichtlinien bzw. der Bedienungsanleitung zu zwingen.

Unter Berücksichtigung der im Gesetz verankerten Zuständigkeiten sieht der Senat es aber nicht als seine Aufgabe an, quasi anstelle der zum Tätigwerden berufenen Beteiligten (Hersteller, Behörden) die Bedienungsanleitung fortzuschreiben.“

Und zur Abrundung dann der AG Eilenburg, Beschl. v. 14.06.2021 – 8 OWi 308/21 – zur Frage der Auslagenerstattung nach Einstellung eines Leivtec XV 3-Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWi. Das AG meint:

Ein Betroffener, dem ein Geschwindigkeitsverstoß festgestellt mit dem Messgerät LEIVTEC XV3 zur Last gelegt wurde, hat auch im Rahmen einer behördlichen Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 1 OWiG seine notwendigen Auslagen selbst zu tragen.

Das ist m.E. falsch – zutreffend a.A. ja dann auch das AG Landstuhl (vgl. z.B. AG Landstuhl, Beschl. v. 17.03.2021 – 2 OWi 4211 Js 2050/21).  Wenn das AG Eilenburg seine Entscheidung letztlich damit begründet: „Dem Gericht sind aus anderen Verfahren diverse Gutachten namhafter Sachverständiger bekannt, die eine Berechnung der Mindestgeschwindigkeit in derartigen Fällen erlauben.„. übersieht es dabei, dass ein Messgerät eingesetzt worden ist, dass eine unverwertbare Messung geliefert hat. Warum soll der Betroffene dann die Kosten des Verfahrens tragen.

Und dann zum Schluss noch der AG Oldenburg, Beschl. v. 28.06.2021 – 29 OWi 775 Js 56106/21. Das hat im Hinblick auf die Rechtsprechung des OLG Oldenburg zu Leivtec XV 3 die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht ausgeschlossen, „weshalb konkrete Tatsachen vorliegen, die eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit an der Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund des Wiederaufnahmeantrags des Betroffenen begründen und in dessen Folge auch eine geringere Bestrafung in Betracht käme.“

OWi I: Leivtex XV 3 ist (derzeit) nicht standardisiert, oder: Das ist aber nicht „Schuld“ des Betroffenen

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Heute dann ein OWi-Tag.

Und den eröffne ich mit zwei Entscheidungen zu Leivtec XV3. Zunächst stelle ich den OLG Celle, Beschl. v. 18.06.2021 – 2 Ss (OWi) 69/21 – vor. Es geht (noch einmal) um die Frage der Verwertbarkeit von Leivtec XV3 Messungen. Das OLG sagt nach Darstellung der Erkenntnisse der PTB: Derzeit kein standardisiertes Messverfahren und daher reichten die Feststellungen nicht aus:

„b) Der Senat erachtet unter Berücksichtigung der dargelegten Erkenntnisse der PTB beim Messgerät Leivtec XV3 die Richtigkeit des ermittelten Geschwindigkeitswertes derzeit ins-gesamt nicht mehr für garantiert. Eine Differenzierung danach, ob das sog. Messung-Start-Foto – wie vorliegend – die in der am 14. Dezember 2020 geänderten Gebrauchsanweisung genannten Anforderungen erfüllt (vgl. hierzu: OLG Oldenburg (Oldenburg), Be-schluss vom 20. April 2021 – 2 Ss (OWi) 92/21 –, juris; OLG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 16. März 2021 – 2 Ss (OWi) 67/21 –, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Juni 2021, 1 Ss (OWi) 218/20) erachtet der Senat insoweit nicht für geboten. Viel-mehr bieten Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 auch unabhängig davon, ob es sich um eine Rechts-, Links- oder Geradeausmessung handelt, derzeit keine hinreichende Gewähr mehr für die Annahme, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung zuverlässig ausgewiesen wurde.

c) Der Senat hat bei der Beurteilung dieser Frage in die Bewertung eingestellt, dass die Messwertabweichungen lediglich vereinzelt auftraten und nach Angabe der PTB zudem jeweils gemein hatten, dass die Länge der Messstrecke weniger als 12,2 m betrug. Ausweislich der abschließenden Mitteilung der PTB traten Messwertabweichungen zu Ungunsten des Betroffenen zudem ausschließlich bei Rechtsmessungen auf.

Es bleibt indes festzuhalten, dass lange Versuchsreihen der PTB jedenfalls in Einzelfällen unzulässige Messwertabweichungen sowohl zu Gunsten, als auch zu Lasten Betroffener zu Tage förderten, die außerhalb des Toleranzbereiches liegen. Bereits dieser Umstand stellt das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens in Frage.

Maßgebliche Bedeutung kommt zudem dem Umstand zu, dass gegenwärtig selbst bei Einhaltung der Maßgaben der ergänzten Gebrauchsanweisung vom 14.12.2020 über der Toleranzgrenze liegende Messwertabweichungen nicht auszuschließen sind, denn diese regelt zur Verwertbarkeit der Beweisbilder zwar ergänzende Bedingungen und Anforderungen für das sog. Messung-Start-Bild, lässt aber Rechtsmessungen, bei denen auch in den Versuchen der PTB außerhalb des Toleranzbereiches liegende Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener zu beobachten waren, explizit zu. Zudem enthält die Bedienungsanleitung keine Vorgaben bzgl. der Einhaltung einer Mindestlänge der Messtrecke.

Auch in Fällen, bei denen die Anforderungen der am 14. Dezember 2020 geänderten Gebrauchsanweisung eingehalten wurden und das sog. Messung-Start-Foto das komplette Kennzeichen innerhalb des Messfeldrahmens ausweist, waren zudem bereits im Zeitpunkt der Erstellung des Zwischenstandes durch die PTB am 27. Mai 2021 – wie dargelegt – unzulässige Messwertabweichungen, wenn auch ausschließlich zu Gunsten Betroffener, zu beobachten.

Der Senat kann die Frage offenlassen, ob bei ausschließlich zu Gunsten des Betroffenen zu beobachtenden Messwertabweichungen noch von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann (diesbezüglich verneinend: OLG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 20. April 2021 – 2 Ss (OWi) 92/21 –, juris), denn nach dem Abschlussbericht der PTB bleibt zu konstatieren, dass auch Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener auftraten, die außerhalb des vorgegebenen Toleranzwertes lagen.

Der Senat hat aufgrund der Tatsache, dass die PTB unzulässige Abweichungen zu Ungunsten Betroffener nur bei Rechtsmessungen beobachten konnte, erwogen, eine Differenzierung dahingehend vorzunehmen, ob im jeweiligen Einzelfall eine Links-, Rechts oder Geradeausmessung vorlag. Allerdings lässt die derzeitige Gebrauchsanweisung des Messgerätes – wie dargelegt – auch Rechtsmessungen explizit zu. Zudem erschöpft sich der Abschlussbericht der PTB in der Mitteilung, alle Fälle unzulässiger Abweichungen, die zu Ungunsten des Betroffenen ausgefallen wären, seien bei einer Rechtsmessung aufgetreten, ohne indes eine eindeutige Aussage dahingehend zu treffen, dass unzulässige Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener in Fällen von Links- und Geradeaus-messungen kategorisch ausgeschlossen wären. Der abschließenden PTB-Stellungnahme sind auch keine statistischen Daten zu entnehmen, die einen Rückschluss des Senates auf eine solche Einschätzung zulassen würden. Sie enthält keine Angaben darüber, in wie vielen Fällen von Links- und Geradeausmessungen keine Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener zu beobachten waren und ab welcher Anzahl unauffälliger Messungen eine derartige Aussage zulässig ist.

Nach alledem liegt jedenfalls derzeit bei sämtlichen Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 kein vereinheitlichtes (technisches) Verfahren mehr vor, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob eine andere Bewertung dieser Frage für Links- und Geradeausmessungen geboten wäre, wenn unzulässige Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener in diesen Fällen nach den üblichen Maßstäben der PTB mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit auszuschließen wären.

Da es sich im vorliegenden Fall nach alledem nicht um eine Geschwindigkeitsmessung im standardisierten Messverfahren handelt, wird die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung durch die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils nicht tragfähig belegt. Diese erweist sich vielmehr als lücken- und somit rechtsfehlerhaft. Auf diesem Rechtsfehler beruht das angefochtene Urteil.“

Aber: Anders als die OLG, die sich bislang mit der Frage befasst haben, stellt das OLG Celle das Verfahren nicht ein, sondern hat an das AG zurückverwiesen mit folgendem „Auftrag“ an das AG:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgende Umstände hin:

1. Das Amtsgericht wird mithilfe eines Sachverständigen zu prüfen haben, ob es bei der vorliegenden Geschwindigkeitsmessung zu unzulässigen Messwertabweichungen gekommen sein könnte. Der Sachverständige wird sich, ggf. nach Rücksprache mit der PTB bzw. den von der PTB zitierten Sachverständigen, mit möglichen Fehlerquellen bei der Messung auseinanderzusetzen haben, die sich zulasten des Betroffenen ausgewirkt haben könnten.

2. Für den Fall, dass die weitere Sachaufklärung erneut eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 37 km/h ergeben und das Amtsgericht erneut die Verhängung eines Fahrverbotes für geboten erachten sollte, wird das Amtsgericht in den Blick zu nehmen haben, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein Absehen vom Fahrverbot gem. § 25 StVG erst in Betracht kommt, wenn seit dem Verkehrsverstoß eine Verfahrensdauer von zwei Jahren oder mehr gegeben ist und der Betroffene sich zwischen-zeitlich verkehrsgerecht verhalten hat (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 23. Dezember 2004 – 211 Ss 145/04 (OWi) –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 02. Juli 2007 – 3 Ss OWi 360/07 –, juris; KG Berlin, Beschluss vom 05. September 2007 – 2 Ss 193/073 Ws (B) 459/07 –, juris). Selbst wenn der erforderliche 2-Jahres-Zeitraum überschritten sein sollte, wird das Amtsgericht in die Bewertung einzustellen haben, dass die Ursache für die Verfahrensverzögerung jedenfalls teilweise allein auf das Verhalten des Betroffenen zurückzuführen war (OLG Celle a.a.O.).“

So weit, so gut, oder auch nicht. Nachvollziehen kann ich ja noch die Aufhebung, obwohl die Einstellung sicherlich angebrachter gewesen wäre. Nicht nachvollziehen kann ich aber die Auffassung des OLG zum 2-Jahres-Zeitraum beim Fahrverbot. Abgesehen davon, dass der noch lange nicht erreicht ist, erschließt sich mir nicht, warum denn eine ggf. eingetretene Verfahrensverzögerung „allein auf das Verhalten des Betroffenes zurückzuführen“ sein soll.  Grund für die Verzögerung ist das miese Messverfahren. Dessen Verwendung kann man doch nicht dem Betroffenen anlasten; andere Umstände, die der Betroffene zu „vertreten“ hätte, ergeben sich aus dem Beschluss nicht. Das OLG Celle ist schon manchmal „komisch“.

Zur Abrundung dann noch der OLG Oldenburg, Beschl. v. 20.04.2021 – 2 Ss (OWi) 92/2. Das hat – entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung – ein Verfahren mit einer Leictex XV3 Messung eingestellt, was m.E. auch verhältnismäßig ist.

Corona I: Rachenabstrich/Schnelltest in der Schule, oder: Keine Körperverletzung im Amt

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Nun, die Inzidenzen sinken und es scheint ein wenig Normalität einzukehren, aber: Es gibt natürlich nach wie vor Entscheidungen zu/um/mit Corona. Und zwei stelle ich heute mal wieder vor.

Bei der ersten handelt es sich um den OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.5.2021 – 1 Ws 141/21. Ergangen ist der Beschluss in einem sog. Klageerzwingungsverfahren (§§ 172 ff. StPO). Dem Verfahren liegt nach der PM des OLG folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Mutter eines Schulkindes hat Strafanzeige gegen Mitarbeiter des Gesundheitsamtes erstattet. Das Kind der Mutter sowie Klassenkameraden seiner 4. Klasse hatten Kontakt zu einem Corona-positiv getesteten Kind. Nachdem das Gesundheitsamt hiervon Kenntnis erlangt hatte, führte es am nächsten Morgen in dieser Klasse einen Schnelltest bei allen Schülerinnen und Schülern durch.

Die Mutter hat den zuständigen Mitarbeiter des Gesundheitsamts wegen Körperverletzung im Amt angezeigt. Sie legte dazu ein Attest einer Allgemeinärztin vor, nach dem ihr Kind durch die Testung u.a. eine schwere psychische Traumatisierung erlitten haben soll. Die Staatsanwaltschaft lehnte eine Strafverfolgung ab und begründete dies damit, dass kein hinreichender Tatverdacht für eine Körperverletzung vorliege. Gegen die Einstellung des Verfahrens hat die Mutter Beschwerde zur Generalstaatsanwaltschaft eingelegt, die die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bestätigte und ebenfalls eine Anklageerhebung gegen den Gesundheitsamtsmitarbeiter ablehnte. Dagegen hat die Mutter Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 172 StPO) gestellt. Das OLG hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen, dabei aber auch zur Begründetheit der Entscheidung Stellung genommen:

„Im Übrigen wäre der Antrag auch in der Sache nicht begründet. Insoweit teilt der Senat die in dem – außerhalb des Klageerzwingungsantrags zur Kenntnis genommenen – Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Aurich vom 23. Dezember 2020 geäußerte Auffassung, dass auf Grund der Beweislage ein hinreichender Tatverdacht bezüglich einer Körperverletzung im Amt nach § 340 StGB oder anderer Delikte nicht in Betracht kommt. Denn angesichts des Ermittlungsergebnisses, wonach die Gesundheitsbehörde erst am Morgen des Schultages, an welchem der Schnelltest durchgeführt wurde, Kenntnis davon erlangt hatte, dass ein Kind, mit welchem auch der Antragsteller zuvor gemeinsam den Unterricht besucht hatte, positiv auf das Coronavirus SARS-CoV-2 getestet worden war, durfte die Gesundheitsbehörde nach § 25 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 IfSG den Rachenabstrich bei dem Antragsteller unverzüglich in der Schule durchführen. Diese Maßnahme war auch geeignet (vgl. BayVGH, Beschluss vom 08.09.2020 – 20 NE 20.2001, juris Rn. 28) und verhältnismäßig (vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 14.10.2020 – Au 9 S 20.1967, juris Rn. 21; Beschluss vom 20.05.2020 – Au 9 S 20.852, juris Rn. 28), um einer weiteren möglichen Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 entgegen zu wirken.

Dem steht auch das vom Antragsteller vorgelegte (undatierte) ärztliche Attest nicht entgegen. Denn der Beweiswert dieses Attestes ist denkbar gering, weil sich dieses fast ausschließlich in der Wiedergabe der vom Antragsteller und seiner Mutter gegenüber der Ärztin mitgeteilten Sach- und Befindlichkeitslage erschöpft, so dass es – den Anfangsverdacht des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 278 StGB begründend (vgl. Fischer, StGB68, § 278 Rn. 4 m.w.N.) – bereits mehr als fraglich erscheint, wie die ausstellende Fachärztin (für Allgemeinmedizin!) durch einen einzigen Vorstellungstermin des Antragstellers am TT. MM 2020 zur Diagnose einer „schweren psychischen Traumatisierung, depressiven Phasen (anhaltendem Weinen), aggressivem Verhalten, Schlafstörungen, Alpträumen und Unsicherheit“ gelangt sein will, die der Antragsteller „durch die Testung des Gesundheitsamts und das Verhalten der (…) Schule“ erlitten haben soll.

Aber selbst bei einer gegebenen Traumatisierung des Antragstellers wäre der durchgeführte Rachenabstrich verhältnismäßig, da im Gegensatz dazu die Schäden, die bei einer weiteren und vor allem ungebremsten Verbreitung des Virus und einem deutlichen Ansteigen der Erkrankungs- und Todeszahlen für eine sehr große Zahl von Menschen zu gewärtigen wären, von deutlich höherem Gewicht sind. Daher muss auch das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der getroffenen Untersuchungsanordnung überwiegen. Bei den widerstreitenden Grundrechten des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hat deshalb das Individualgrundrecht der von der Untersuchungsanordnung betroffenen Einzelperson hinter dem überragenden Schutzgut der menschlichen Gesundheit im Gesamten zurückzutreten (so VG Augsburg, Beschluss vom 20.05.2020 – Au 9 S 20.852, juris Rn. 28; ebenso Beschluss vom 14.10.2020 – Au 9 S 20.1967, juris Rn. 11, 21 gerade auch unter Berücksichtigung einer Traumatisierungslage des Untersuchten).“

Eine m.E. zutreffende Entscheidung mit dem zudem mehr als deutlichen Hinweis des OLG an die Staatsanwaltschaft, gegen die Ärztin, die das im Verfahren vorgelegte Attest ausgestellt hatte, ein Verfahren wegen des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 278 StGB einzuleiten. Den erforderlichen Anfangsverdacht will das OLG offenbar bejahen.

Corona I: Ansammlungs/Aufenthaltsverbot – Bußgeldbewehrung, oder: OLGe Karlsruhe/Oldenburg

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Ich starte in die 18. KW. dann noch einmal – hoffenlich nicht mehr all zu lange – mit Corona-Entscheidungen.

Hier im ersten Posting stelle ich erneut zwei OLG-Entscheidungen vor, und zwar einen Beschluss des OLG Oldenburg und einen Beschluss des OLG Karlsruhe. Beide nehmen u.a. auch VerfGH Thüringen, Urt. v. 01.03.2021 – VerfGH 18/20 – Stellung. Das hatte einige Bußgeldtatbestände für nichtig erklärt hat, weil sich hierfür nicht bereits aus dem Infektionsschutzgesetz eine Bußgeldbewehrung entnehmen lasse. Anders die OLG, und zwar:

§ 28 IfSG in der Fassung vom 27. März 2020 ist hinsichtlich einer Beschränkung von Ansammlungen eine ausreichende Rechtsgrundlage für eine bußgeldbewehrte Landesverordnung (hier: Nds. VO zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus vom 17. April 2020; Abgrenzung zu VerfGH Thüringen, Urt. v. 01.03.2021 – 18/20).

Nach Auffassung des OLG „ist nämlich bereits im Gesetz selbst durch die Formulierung „die zuständige Behörde (kann) Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten“ angelegt, dass derartige Verstöße auch mit einem Bußgeld sanktioniert werden können.“

1. Das Infektionsschutzgesetz enthält mit den in §§ 28, 32, 73 Abs.1a Nr. 24 getroffenen Regelungen eine ausreichende, verfassungskonforme Ermächtigung für die in § 3 Abs.1 CoronaVO BW angeordnete Beschränkung des Aufenthalts im öffentlichen Raum und deren Bußgeldbewehrung in § 9 Nr. 1 CoronaVO BW.

2. Das Verbot des gemeinsamen Aufenthalts mit mehr als einer nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Person im öffentlichen Raum ist im Hinblick auf den durch die gesetzliche Ermächtigung gezogenen Rahmen dahin auszulegen, dass es nur Zusammenkünfte erfasst, bei denen der Mindestabstand von 1,5 Metern unterschritten wird.