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Gebühren im Gesamtstrafenverfahren, oder: LG Bonn hält an seiner Mindermeinung fest

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Ob im (nachträglichen) Gesamtstrafenverfahren nach § 460 StPO für den Verteidiger, der den Angeklagten bereits im Erkenntnisverfahren vertreten hat, die Gebühr Nr. 4204 VV RVG entsteht, ist umstritten. Das LG Bonn hatte die Frage 2017 in einer Einzelrichterentscheidung verneint (vgl. LG Bonn, Beschl. v. 23.03.2017 – 29 Qs-660 Js 405/14-5/17).

Die überwiegende Meinung in der Rechtsprechung hat das in der Folgezeit aber anders gesehen (s. OLG Bamberg, Beschl. v. 11.6.2019 – 1 Ws 265/19; OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.07.2018 – 2 Ws 106/18; LG Cottbus, Beschl. v. 20.04.2018 – 23 KLs 34/14; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 13.12.2019 – 12 Qs 33/19; LG Osnabrück, Beschl. v. 02.06.2020 – 2 Qs 26/20).

Das interessiert das LG Bonn aber nicht. Denn das LG Bonn hat jetzt im LG Bonn, Beschl. v. 31.08.2ß21 – 29 Qs 6/21 – an seiner Mindermeinung festgehalten. Das will das LG mit der Entstehungsgeschichte des RVG und anderen Nachtragsverfahren begründen, die auch nicht von eigenen Gebühren erfasst würden, was die Auffassung aber nicht trägt.

Soweit das LG im Übrigen einen Pflichtverteidiger insoweit auf eine Pauschgebühr nach § 51 RVG verweist, ist das das bekannte „Spiel“. Denn eine Pauschgebühr wird infolge der restriktiven Rechtsprechung der OLG zu § 51 RVG vom zuständigen OLG im Zweifel doch nicht gewährt werden.

StPO III: Das Erstellen eines sog. „Gaffer-Videos“, oder: Anfangsverdacht für eine Durchsuchung?

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Die dritte Entscheidung, die ich vorstelle, ist dann der LG Bonn, Beschl. v. 13.07.2021 – 50 Qs-410 Js 78/21-18/21. Er behandelt u.a. die Frage nach dem Anfangsverdacht für die Anordnung einer Durchsuchung, und zwar in einem „Gaffer-Video-Fall“. Zugrunde lag folgender Sachverhalt:

„Unter dem 22.03.2021 hat das Amtsgericht Bonn einen Durchsuchungsbeschluss in einem gegen den Beschwerdeführer geführten Ermittlungsverfahren erlassen, in dem u.a. die Durchsuchung seiner Wohnräume und sonstiger Räume zum Zwecke der Auffindung von Mobilfunktelefonen mit Videofunktion, Kameras und Computer als Tatwerkzeuge sowie eines X-Videos angeordnet wurde. Zur Begründung hat das Amtsgericht Bonn ausgeführt, dass der Beschuldigte im Verdacht stehe, auf einem von ihm betriebenen X-Kanal eine am pp.2021 gefertigte achtminütige Aufnahme eines schweren Verkehrsunfalls auf der B pp. in P veröffentlicht zu haben, in welchem über eine Sequenz von zwei Minuten die Bergung des schwer verletzten und im PKW eingeklemmten Geschädigten K durch mehrere Einsatzkräfte der Feuerwehr gezeigt werde. Hierbei sei das Gesicht des Geschädigten zwar verpixelt worden, dessen Identifizierung gleichwohl möglich. Den Wunsch der Schwester des Geschädigten nach Löschung des Videos habe der Beschwerdeführer mit Hinweis auf die Pressefreiheit abgelehnt. Hierdurch sei er – so das Amtsgericht Bonn in seiner Begründung – einer Strafbarkeit nach § 201 a Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 StGB hinreichend verdächtig. Auf § 201 a Abs. 4 StGB könne sich der Beschwerdeführer nicht berufen, so das Amtsgericht Bonn weiter, da es sich bei dem Video mangels journalistischredaktionellen Inhalt nicht um Presseberichterstattung handele, sondern das Video lediglich der Meinungsäußerungsfreiheit zuzuordnen sei. Die Staatsanwaltschaft habe zudem das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf Bl. pp. ff. d.A., verwiesen.“

Mit seiner Beschwerde hat sich der Beschuldigte darauf berufen, „es habe sich um eine Berichterstattung über „Vorgänge des Zeitgeschehens“ gehandelt, so sei über den Unfall bspw. auch in der Lokalpresse berichtet worden, was dessen Presserelevanz verdeutliche. Deswegen könne er sich auf § 201 a Abs. 4 StGB berufen. Darüber hinaus sei § 201 a StGB eng auszulegen, so dass der Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers in jedem Falle unverhältnismäßig gewesen sei.2

Das hat das LG anders gesehen:

„Die zulässige Beschwerde des Beschwerdeführers hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Amtsgericht Bonn die Durchsuchung der Wohnung und der sonstigen Räume des Beschwerdeführers angeordnet, §§ 102, 105 StPO.

Gemäß § 102 StPO kann bei dem als Täter oder Teilnehmer einer Straftat Verdächtigen eine Durchsuchung dann angeordnet werden, wenn das Auffinden von Beweismitteln zu vermuten ist. Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen in Betracht kommenden Durchsuchung genügt daher der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es nicht (st. Rspr.; vgl. BVerfG NJW 2007, 1443; 2007, 2749, 2751 m. w. N.; BGH NJW 2000, 84, 85).

Gemessen an den aufgezeigten Maßstäben liegt ein Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen gemäß § 201 a StGB vor. Gemäß § 201 a Abs. 1 Nr. 2 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt. Die Hilflosigkeit muss durch die Abbildung zur Schau gestellt werden. Erforderlich ist, dass die Hilflosigkeit der Aufnahme selbst zu entnehmen ist. Daran fehlt es, wenn die Gefahrensituation für das Opfer selbst auf der Aufnahme nicht zu erkennen ist (BGH NStZ 2017, 408, Cornelius NJW 2017, 1893). Zudem muss die Hilflosigkeit objektiv in den Fokus gerückt und nicht lediglich völlig „untergeordnetes Beiwerk“ der Aufnahme sein. Darüber hinaus ist die Bestimmungsbefugnis der Person über Informationen ihres höchstpersönlichen Lebensbereichs als Teil des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. Die auf den Bildaufnahmen abgebildete Person muss für Dritte nicht identifizierbar sein. Dies vorweg geschickt, verbreitete der Beschwerdeführer durch das Hochladen des Unfallvideos auf seinem X-Kanal die Bildaufnahmen an eine unbestimmte Anzahl Dritter. Wenngleich der Beschwerdeführer das Gesicht des Geschädigten verpixelt hatte, steht dies nach vorstehenden Ausführungen der Tatbestandserfüllung nicht entgegen. Denn durch die Bildaufnahmen der schweren Verletzung sowie der Bergung des Geschädigten, die mit einer Dauer von zwei Minuten den zentralen Teil des Videos einnehmen, stand der Geschädigte als Person im Fokus der Bildaufnahmen. Trotz der Verpixelung ist eine Identifizierung des Geschädigten – bspw. durch Familienangehörige oder sich selbst – ohne weiteres möglich.

Soweit der Beschwerdeführer sich auf die Voraussetzungen des § 201 a Abs. 4 StGB beruft, dringt er mit seinem Vorbringen nicht durch. Gemäß § 201 a Abs. 4 StGB gilt u.a. § 201 a Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht für Handlungen, die in Wahrnehmung überwiegender berechtigter Interessen erfolgen, namentlich der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dienen. Zu Recht hat das Amtsgericht Bonn ausgeführt, dass das auf dem X-Kanal des Beschwerdeführer gezeigte Video des Geschädigten nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Tätigkeit als Pressevertreter gerecht wird, da der Kanal keinen journalistischredaktionellen Inhalt aufweist, da es sich um eine reine unbearbeitete Übermittlung und Aneinanderreihung von Informationen ohne redaktionelle Aufbereitung oder journalistischer Herangehensweise handelt. Es fehle insoweit an einer pressemäßigen „Vermittlungsleistung“. Diesen Ausführungen schließt das Beschwerdegericht sich vollumfänglich an. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob es sich um „Vorgänge des Zeitgeschehens“ – wie der Beschwerdeführer meint – handelt.

Die Durchsuchung war schließlich auch verhältnismäßig.

Durchsuchungen stellen regelmäßig einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen dar. Wohnungsdurchsuchungen sind stets ein tiefgreifender Grundrechtseingriff (vgl. BVerfG NJW 2006, 976). Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist daher bei der Anordnung und Durchführung der Maßnahme besondere Beachtung zu schenken. Die Maßnahme muss in Hinblick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sowie gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich sein. Das ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen, die den Ermittlungszweck nicht gefährden. Schließlich muss der jeweilige Eingriff im angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachtes stehen (BVerfG NJW 2011, 2275; Beschl. v. 26.10.2011, 2 BvR 1774/10, Abs. 22 = BeckRS 2011, 56244; NJW 2008, 1937).

Die Durchsuchung war zur Auffindung von Beweismitteln geeignet. Es war anzunehmen, dass sich auf den aufzufindenden Datenträgern die vom Beschwerdeführer gefertigten Aufnahmen – auch im unbearbeiteten Zustand – befinden und diese als Beweismittel zur Überführung in einer Hauptverhandlung in Betracht kommen können. Die Durchsuchungsanordnung stand schließlich auch im angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachtes. Der Anordnung lag -wie gezeigt- ein begründeter Verdacht einer Strafbarkeit wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen nach § 201 a Abs. 1 Nr. 2 StGB zugrunde. Der Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer war – und ist es noch – hinreichend begründet und übersteigt deutlich das Maß an Verdachtsgründen für einen Anfangsverdacht. Ausweislich des gesamten Inhalts der Akte ergeben sich zahlreiche Anhaltspunkte, dass die Tat durch den Beschwerdeführer begangen wurde, wobei dieser dies ohnehin nicht abstreitet. Wenngleich hier das geringere Strafmaß zu berücksichtigen ist, ändert dies nichts an der Angemessenheit der Durchsuchung. Der Gesetzgeber unterscheidet in der Vorschrift des § 102 StPO gerade nicht zwischen einem Verbrechen und einem Vergehen. Vielmehr gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die durchzuführende Durchsuchung im Einklang mit den schutzbedürftigen Interessen des Beschwerdeführers und des Strafverfolgungsinteresse gebracht werden. Die so bezeichneten Interessen des Beschwerdeführers stehen dahinter zurück. Denn in der Abwägung zu berücksichtigen ist – neben dem starken Verdachtsgrad – auch, dass der Beschwerdeführer das Video durch die Veröffentlichung in seinem X-Kanal und Verbreitung im Internet einer unbegrenzten Anzahl von Personen zur Verfügung gestellt hat, der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Geschädigten sich vor diesem Hintergrund mithin als besonders schwerwiegend darstellt. Die dagegen abzuwägenden Grundrechte des Beschwerdeführers überwogen nicht derart, dass der Erlass des Beschlusses als unverhältnismäßig im engeren Sinne anzusehen ist.“

Pflichti I: Und immer wieder nachträgliche Beiordnung, oder: Was heißt „unverzügliche“ Antragsweiterleitung?

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Heute dann wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen. Der Strom von Entscheidungen reißt nicht ab – auf das die Sammlung anwächst.

Ich stelle dann zunächt wieder einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung vor. Zunächst weise ich hin auf den LG Halle, Beschl. v. 15.4.2021 – 3 Qs 41/21. Das LG teilt der Staatsanwaltschaft mehr als deutlich mit, was es davon hält, wenn ein Beiordnungsantrag nicht „unverzüglich“ an das Gericht weitergeleitet wird und wann eine Weiterleitung nicht mehr „unverzüglich“ ist, nämlich:

Die Weiterleitung eines Antrags auf Beiordnung als Pflichtverteidiger drei Wochen nach Antragstellung – ist auch unter Berücksichtigung einer Prüfungs- und Überlegungsfrist nicht unverzüglich im Sinne von §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. 1 Satz 2 StPO.

Ebenso deutlich der LG Halle, Beschl. v. 20.04.2021 – 10a Qs 42/21. Auch da hatte die StA den Beiordnungsantrag rund sechs Wochen liegen lassen und dann eingestellt. Das LG meint: So nicht. Und dann – aller guten Dinge sind drei – noch einmal das LG Halle im LG Halle, Beschl. v. 20.04.2021 – 10a Qs 43/21. In allen drei Beschlüssen weist das LG übrigens darauf hin, dass auch die Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, wonach eine Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, zu keinem anderen Ergebnis führt. Diese Regelung gilt nur für den Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers ohne Antrag nach § 141 Abs. 2 StPO.

Richtig wird dann aber nicht nur in Halle entschieden, sondern auch beim LG Hamburg, wie sich aus dem LG Hamburg, Beschl. v. 21.05.2021 -601 Qs 18/21 – ergibt. Das LG macht es – zumindest teilweise anders – als das „überordnete“ OLG.

Anders als die wohl zumindest h.M. in der landgerichtlichen Rechtsprechung macht es das LG Bonn im LG Bonn, Beschl. v. 18.05.2021 – 63 Qs 41/21. Das sieht die nahcträgliche Beiordnung als unzulässig an und bemüht mal wieder das Kostenargument. Dabei wird m.E. immer übersehen, dass es letztlich nicht auf die Frage der „Bedürftigkeit“ des Beschuldigten ankommen kann. Denn der muss ja nach Nr. 9007 KV GKG die Kosten des Pflichtverteidigers tragen, wenn er verurteilt wird.

StPO III: Wohnungsdurchsuchung im Hinblick auf die Tagessatzhöhe, oder: Ich will wissen, wie du lebst

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Und als dritte Entscheidung dann noch der LG Bonn, Beschl. v. 28.10.2020 – 50 Qs-857 Js 721/20-36/20. Der nimmt zur Verhältnismäßigkeit einer Wohnungsdurchsuchung Stellung. Die war vom AG angeordnet worden zur Aufklärung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten im Hinblick auf die Festsetzung der Tagessatzhöhe.

Das LG hat die Rechtswidrigkeit der Maßnahme festgestellt:

„Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, da die Durchsuchungsanordnung des Amtsgerichts Bonn vom 15.09.2020 rechtswidrig war. Die Anordnung der Durchsuchung ist, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt des Verfahrens, nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar.

Bei der Anordnung von Durchsuchungen der Wohnung muss aufgrund der Schwere des damit verbundenen Eingriffs in das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in besonderem Maße beachtet werden (BVerfGE 20, 162/187; 42, 212/220). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, dass die Durchsuchung unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zur Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet und erforderlich ist. Dies ist nicht der Fall, wenn mildere, weniger einschneidende Maßnahmen zur Verfügung stehen oder die Durchsuchung zur Bedeutung der Sache völlig außer Verhältnis stehen würde.

Vorliegend wurde die Durchsuchung mit Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 15.09.2020 ausschließlich zur Ermittlung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten angeordnet. Aus den Gründen der Entscheidung lässt sich des Weiteren entnehmen, dass das erkennende Gericht aufgrund des Schweigens des Angeklagten im Parallelverfahren zu seinen persönlichen Verhältnissen, ein entsprechendes prozessuales Verhalten des Angeklagten auch in der anstehenden Hauptverhandlung vermutet und zur Vermeidung einer Schätzung der monatlichen Einkünfte bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe (§ 40 Abs. 3 StGB) im Falle einer Verurteilung des Angeklagten die Durchsuchung zur Ermittlung des „Lebenszuschnitts“ des Angeklagten angeordnet hat.

An eine Durchsuchung, die ausschließlich der Feststellung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten im Rahmen der Festsetzung der Tagessatzhöhe (§ 40 Abs. 2 S. 1 StGB) dient, sind angesichts des damit verbundenen Grundrechtseingriffs besonders strenge Anforderungen zu stellen, da das Gesetz in § 40 Abs. 3 StGB ausdrücklich die Möglichkeit einer Schätzung der Einkünfte des Täters vorsieht (vgl. OLG Dresden, StraFo 2007, 329 f.; Thüringer OLG, Beschluss v. 12.02.2009, 1 Ss 160/08, Rn. 15 f.; Brandenburgisches OLG, Beschluss v. 23.11.2009, 1 Ss 104/09, Rn. 15 f. – jeweils zitiert nach juris). Eine solche Durchsuchung ist allenfalls dann denkbar, wenn anhand der zur Verfügung stehenden Beweismittel eine Schätzung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten nicht möglich ist (OLG Dresden aaO), was nur in eng begrenzten Ausnahmefällen der Fall sein dürfte. So liegt es hier indessen nicht. Dem Amtsgericht hätten naheliegend andere Aufklärungsansätze hinsichtlich der Erwerbstätigkeit des Angeklagten zur Verfügung gestanden: es hätte bspw. eine behördliche Auskunft der Bafin oder der Deutschen Rentenversicherung einholen – wofür angesichts der erst eineinhalb Monate später anberaumten Hauptverhandlung auch ausreichend Zeit zur Verfügung stand – oder die ohnehin zum Termin geladene Lebensgefährtin des Angeklagten zu dessen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vernehmen können. Des Weiteren ist auch zu berücksichtigen, dass generell die Anforderungen an eine Schätzung nicht überspannt werden dürfen und als Schätzgrundlage bspw. auf die sich aus den allgemein zugänglichen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes sowie der Statistischen Landesämter ergebenden Durchschnittseinkommen von Arbeitnehmern zurückgegriffen werden kann, sofern eine Erwerbstätigkeit des Angeklagten feststeht. Vor zu hohen Schätzungen kann der Angeklagte sich durch eine Offenlegung seiner Verhältnisse – spätestens in der Berufungsinstanz – schützen. Darüber hinaus konnte vor dem ersten Hauptverhandlungstermin nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte wie im Parallelverfahren keine Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machen werde, zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass das dortige Schweigen aus anderen Gesichtspunkten erfolgte.

Bei seiner Entscheidung verkennt die Kammer nicht, dass es grundsätzliche Aufgabe des erkennenden Gerichts ist, sich Kenntnis vom Werdegang und den Lebensverhältnissen des Angeklagten zu verschaffen, da die Kenntnis dieser Umstände für eine an anerkannten Strafzwecken ausgerichtete Strafzumessung wesentlich ist (vgl. BGHSt 16, 351/353; BGH NStZ-RR 1998, 17 f.). Von dieser Verpflichtung wird das Gericht nicht schon dann frei, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung Angaben zu seinem Lebenslauf verweigert (BGH NJW 1StV 1992, 463) und es ist verpflichtet, sich um die Aufklärung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu bemühen. Unabhängig davon, dass das Amtsgericht seine Durchsuchungsanordnung nicht auf die Ermittlung für die Strafzumessung relevanter Umstände gestützt hat, wären auch bei dieser Zielsetzung von gerichtlichen Anordnungen unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zunächst die genannten, weniger grundrechtsrelevanten Ermittlungsansätze (Zeugenvernehmung, Behördenauskünfte) zu verfolgen.“

Pflichti I: Nachträgliche Beiordnung, oder: Weitere Rechtsprechung

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Heute dann noch einmal ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen. Da ist nach meinem letzten Posting zu dem Themenbereich einiges an Entscheidungen hereingekommen. Und einen Teil davon stelle ich heute vor.

Zunächst noch einmal zur Frage: Nachträgliche Beiordnung (also i.d.R. nach einer Einstellung nach § 154 StPO) zulässig oder nicht. Dazu hatte ich ja auch schon einige Entscheidungen zum neuen Recht vorgestellt. Hier kommen dann noch ein paar mehr, aus denen man m.E. den Schluss ziehen kann: Die LG halten an ihrer weiten Auffassung, dass die nachträgliche Beiordnung zulässig ist. Sie kommen im Grunde mit einer: Jetzt erst recht Argumentation unter Hinweis auf das neue Recht. Zu nennen ist da  dann auch nochLG Bonn, Beschl. v. 28.04.2020 – 21 Qs 25/20. Auch das AG Amberg, Beschl. v. 09.04.2020 – 6 Gs 591/20 – ordnet nachträglich bei, allerdings ohne auf das neue Recht einzugehen.

Es gibt natürlich leider auch noch andere Entscheidungen, wie z.B. den LG Essen, Beschl. v. 05.03.2020 – 57 Qs 6 Js 651/19-39/20. Wenn ich den lese frage ich mich allerdings, ob die gesetzlichen Neuregelungen an der Kammer vorbeigegangen sind. Man sollte ggf. dann vielleicht doch mal die Rechtsprechung überdenken und jetzt alte Zöpfe abschneiden. Zumindest sollte man sich mit der neuen Rechtslage auseinander setzen.