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Sondermeldung: Einsichtnahme in die gesamte Messreihe, oder: OLG Zweibrücken legt dem BGH vor

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Hier dann – zwischendurch – mal wieder eine Sondermeldung, und zwar zum OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 -, den mir der Kollege Keilhauer aus Kaiserslautern gerade geschickt hat.

Folgender Sachverhalt: Das AG hat die Betroffene wegen fahrlässigen Überschreitens der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu einer Geldbuße von 120 Euro verurteilt. Die Feststellung der gefahrenen Geschwindigkeit beruht auf einer Messung mit dem Gerät ES 3.0 der Firma ESO. Gegen dieses Urteil  hat der Verteidiger  Rechtsbeschwerde eingelegt,

Der Einzelrichter des Senats hat die Sache gem. § 80 Abs. 3 S. 1, Abs..1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen. Der Senat beabsichtigt, die durch den Einzelrichter zugelassene Rechtsbeschwerde als unbegründet umfänglich zu verwerfen. Er sieht sich hieran jedoch durch den Beschluss des OLG Jena v. 17.03.2021 — 1 OLG 331 SsBs 23/20 – gehindert. Er hat die Sache daher dem BGH vorgelegt:

„Der für die Vorlage einzig erheblichen Verfahrensrüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

Der Verteidiger hat nach der am 10. Juli .2020 bewirkten Zustellung des Bußgeldbescheides an die Betroffene Einspruch eingelegt und mit Schriftsatz‘ vom 16. Juli 2020 bei der Verwaltungsbehörde „komplette Akteneinsicht“ beantragt. Ferner hat er um Einsicht in „die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten/Einzelmesswerten sowie Statistikdatei und Caselist“ sowie weitere Urkunden gebeten (zum Begriff der Rohmessdaten s. Thiele, DAR .2020, 614, 615;. Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., Rn. 236). Zur Begründung hat er ausgeführt, aus einer Analyse der Messreihe könne sich ergeben, dass andere Messungen fehlerhaft sind oder technisch nicht nachvollzogen werden können, was Rückschlüsse auf die tatgegenständliche Messung zulasse. Dies gelte insbesondere für die Aspekte atypischer Fotopositionen, einer Divergenz zwischen der Anzahl der erfassten Messungen und der generierten Falldatensätze, der Annulierungsrate des Geräts, möglicher Bewegungen des Messgeräts während der Messung sowie einer, eventuellen Nutzung von Messpunkten außerhalb des Messbereichs. Mit Schreiben vom 31. Juli 2020 lehnte die Verwaltungsbehörde mit Verweis auf die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens die Übersendung „weiterer Unterlagen“ ab. Mit Schriftsatz vom 10. August 2020 beantragte der Verteidiger die Einholung einer gerichtlichen Entscheidung und die Übersendung der Sache an das Amtsgericht. Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht durch Beschluss vom 26. August 2020 ab, weil ein Anspruch auf die Überlassung der Daten der gesamten Messreihe nicht bestehe und aus diesen auch keine Rückschlüsse auf die Messrichtigkeit des Geräts gezogen werden könnten. Der Verteidiger wiederholte nach Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht sein Begehren und erhob gegen den Beschluss vom 26:August 2020 sofortige Beschwerde, die bislang dem Landgericht noch nicht vorgelegt worden ist. In der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2021 beantragte der Verteidiger die Aussetzung des Verfahrens, die er mit der nach wie vor nicht erfolgten Einsicht in die begehrten Messunterlagen begründete. Nach Zurückweisung des Aussetzungsantrages widersprach der Verteidiger der Verwertung der Messdaten und des Messfotos. Das Amtsgericht verlas das Datenfeld des Messfotos und legte dieses ausweislich der schriftlichen Urteilsgründe seiner Überzeugungsbildung zugrunde.

Die Rechtsbeschwerde sieht durch dieses prozessuale Geschehen das Gebot des fairen Verfahrens als verletzt an, weil das Amtsgericht das Recht der Betroffenen auf Einsicht in die begehrten -Unterlagen (gesamte Messreihe) rechtsfehlerhaft missachtet habe. Kern der Vorlage ist damit die Frage, ob es einen reversiblen Verfahrensfehler darstellt, wenn das Tatgericht im Bußgeldverfahren einen Antrag auf Beiziehung und Einsicht in nicht bei den Akten befindliche, tatsächlich aber vorhandene Unterlagen (hier: dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Messdaten) abgelehnt hat, deren Relevanz für das Verteidigungsvorbringen nicht ersichtlich ist.“

Entscheiden soll der BGH daher folgende Frage:

„Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten ( gesamte Messreihe ) auch dann ein Verstoß gegen, den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist?“

Damit geht es nun zum ersten Mal zum BGH. Mal sehen, was der aus der Sache macht. Und vielleicht gibt es ja den ein oder anderen – weiter führenden – Hinweis.

OWi I: Standardisierte Messung ohne Rohmessdatenspeicherung, oder: Das BayObLG erklärt dem VerfG Saarland, wie es geht

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Heute dann drei verfahrensrechtliche Entscheidungen, und zwar alle aus dem Bußgeldverfahren. Zwei zu „Einsichtsfragen/Rohmessdaten und eine aus dem Rechtsbeschwerdeverfahren.

Ich eröffne mit dem (aktuellen) BayObLG, Beschl. v. 09.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 – zur Frage des Verstoßes gegen Gebot des fairen Verfahrens bzw. zu einem Verwertungsverbot bei einer standardisierten Messung ohne Rohmessdatenspeicherung. Ja, das ist die Problematik des VerfG Saarland, Urt. von 05.07.2019 – Lv 7/17).

Ich habe lange überlegt, wie ich es schreiben soll: „Das BayObLG nimmt Stellung…“ oder „…. äußert sich zu ….“. M.E. alles zu „schwach“/harmlos, denn das BayObLG rechnet mal wieder mit dem VerfG Saarland ab und erklärt den Richtern dort, was Sache ist. Denn schließlich: Wir sind – zusammen mit den anderen OLG – schlauer und ihr habe es nicht begriffen. Wen wundert es? Mich nicht. Und wer gedacht hatte, dass sich durch den Übergang des OLG Bamberg zum BayObLG etwas ändern würde, der hat falsch gedacht. Warum auch? Denn die agierenden Personen haben sich ja nicht geändert. Nur der Name des Gerichts.

Ich stelle dann hier nur die amtlichen Leitsätze ein.

  1. Die unterbliebene Überlassung von nicht zu den (Gerichts-) Akten gelangten Unterlagen sowie der (digitalen) Messdaten einschließlich der sog. Rohmessdaten oder der Messreihe stellt für sich genommen weder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs noch einen Verstoß gegen das faire Verfahren dar. Vielmehr handelt es sich bei den entsprechenden Anträgen um Beweisermittlungsanträge, deren Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten gerügt werden kann (u.a. Anschluss an OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NZV 2018, 425; OLG Oldenburg, Beschl. v. 13.03.2017 – 2 Ss [OWi] 40/17 = ZfSch 2017, 469 und 23.07.2018 – 2 Ss [OWi] 197/18; OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2017 – 2 RBs 202/16 bei juris und 20.06.2017 – 4 RBs 169/17 = ZD 2018, 374; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 28.02.2018 – 1 OWi 2 SsBs 106/17 = NStZ-RR 2018, 156 = ZfSch 2018, 349 sowie OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018 – 1 OWi 6 SsBs 19/18 bei juris; entgegen VerfGH des Saarlandes, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18 = NZV 2018, 275 = DAR 2018, 557 = ZD 2018, 368).
  2. Von einem Verstoß gegen das faire Verfahren mit der Folge eines Verwertungsverbots ist nicht (allein) deshalb auszugehen, weil durch das zur Verfolgung der Verkehrsordnungswidrigkeit eingesetzte, alle Kriterien eines standardisierten Messverfahrens erfüllende Messgerät neben dem dokumentierten Messergebnis keine sog. Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang aufgezeichnet, abgespeichert, vorgehalten oder sonst nach Abschluss der Messung zur nachträglichen Befundprüfung oder Plausibilitätskontrolle bereitgehalten oder diese Daten unterdrückt werden (u.a. Anschluss an OLG Oldenburg, Beschl. v. 09.09.2019 – 2 Ss [OWi] 233/19; OLG Köln, Beschl. v. 27.09.2019 – 1 RBs 339/19; KG, Beschl. v. 02.10.2019 – 162 Ss 122/19; OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.09.2019 – 1 Rb 28 Ss 300/19 bei juris; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 06.11.2019 – 2 Rb 35 Ss 808/19 bei juris und OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.11.2019 – 1 Ss OWi 381/19 bei juris; entgegen VerfGH des Saarlandes, Urt. v. 05.07.2019 – Lv 7/17 = NJW 2019, 2456 = NZV 2019, 414 = DAR 2019, 500).

Und die Leitsätze bringe ich dann mal mit sämtlichen darin aufgeführten Entscheidungen (wie immer eine Fleißarbeit). Die Unterstreichung stammt nicht von mir, sondern vom BayObLG. Damit will man wohl richtig deutlich machen, wie anders man denkt.

Die Gründe – im Grunde bekannt – mag jeder selbst lesen und sich ein Urteil erlauben.

Nur zwei Anmerkungen noch:

Natürlich entscheidet der Einzelrichter. Warum auch nicht (?)

Und besonders schön finde ich die Passage:

„b) Auch sonst können die im Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 05.07.2019 (a.a.O.) vertretenen (verfassungs-) rechtlichen Standpunkte weder in der Herleitung noch im Ergebnis überzeugen.

aa) Bedenken begegnet schon die der Argumentation des VerfGH des Saarlandes offenbar zugrunde liegende Annahme, den Betroffenen belastende technische Beweise könnten und müssten jederzeit und vollständig rekonstruierbar sein. Ein hiermit korrespondierender Anspruch auf Schaffung neuer, noch nicht existierender und deshalb auch für einen am Verfahren beteiligten potentiellen Antagonisten, etwa die Verfolgungsbehörde, nicht zugänglicher Beweismittel ist dem deutschen Verfahrensrecht fremd; er kann – auch als vermeintliches ‚Recht auf Plausibilisierung‘ (vgl. hierzu kritisch Teßmer, PTB-Mitteilungen 129 [2019] Heft 2, S. 99-102) – insbesondere nicht aus dem fair trial Grundsatz auch in seiner Ausprägung unter dem Aspekt der sog. Waffengleichheit oder dem damit verbundenen sog. Grundsatz der Wissensparität begründet werden (treffend in diesem Sinne und zur Untauglichkeit des vom VerfGH des Saarlandes [a.a.O.] zur Stützung seiner Auffassung bemühten Vergleichs mit den vom Bundesverfassungsgericht zur Zulässigkeit von Wahlautomaten entwickelten Grundsätzen KG a.a.O.).“

„Schön“, nicht wegen ihres sachlichen Gehalts, sondern wegen der zitierten „Lietratur“: „.…kritisch Teßmer, PTB-Mitteilungen 129 [2019] Heft 2, S. 99-102„. Der zitierte Autor ist RiOLG und – wie mir Kollegen berichten – einer der „Scharfmacher“ aus Hessen vom OLG Frankfurt, der in einem Heft der PTB geschrieben hat. Genau die richtige Stelle für solche Dinge. Man kann sich nur noch an den Kopf fassen.

OWi I: OLG Oldenburg, das VerfG Saarland und das „unfaire standardisierte Messverfahren“, oder: „Absurd“

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Und es gibt den nächsten OLG-Beschluss zum VerfG Saarland, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18 (vgl. dazu Paukenschlag beim (Akten)Einsichtsrecht, oder: Der Rechtsstaat lebt…). Er kommt aus Niedersachsen vom OLG Oldenburg. Das hat sich – wie zu befürchten und nicht anders zu erwarten – dem Verdikt aus Bayern (vgl. den OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 und dazu Antwort vom OLG Bamberg: Das VerfG Saarland hat keine Ahnung, oder: Von wegen der Rechtsstaat lebt) im OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.07.2018 – 2 Ss (OWi) 197/18 – angeschlossen.

Die Begründung? Letztlich keine eigene, sondern:

„Der Senat folgt vielmehr dem OLG Bamberg (3 Ss OWI 626/18, Beschluss vom 13.6.2018, juris), das sich ausführlich mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes auseinandergesetzt hat.

Soweit das OLG Bamberg darauf hinweist, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach höchstrichterlicher Rechtsprechung von vornherein ausscheidet, ist dem nichts hinzuzufügen.2

Nun ja, stimm nichtt ganz, denn man hat dann doch noch etwas Eigenes „gefunden“, besser „erfunden“. denn man ist auf die Idee gekommen, dass das VerfG Saarland mit seiner Argumentation „das standardisierte Verfahren als unfair ansieht“:

„Wenn der Verfassungsgerichtshof von einer Beibringungs- bzw. Darlegungslast spricht, dürfte damit gemeint gewesen sein, dass es aus Sicht eines Betroffenen für seine Verteidigung hilfreich sein kann, wenn er -unabhängig von der Aufklärungspflicht des Gerichtes- Anhaltspunkte für mögliche Messfehler darlegen kann.

Wenn der Verfassungsgerichtshof hieraus folgernd einen Anspruch auf Herausgabe der Rohmessdaten unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung eines fairen Verfahrens für gegeben hält, bedeutet das im Ergebnis letztlich nichts anderes, als dass er das standardisierte Verfahren als unfair ansieht:

Das OLG Bamberg hat bereits in seinem Beschluss vom 4.4.2016 (DAR 2016, 337 ff.), der dem Senat Anlass gegeben hatte, seine Rechtsprechung zu überprüfen, auf die Konsequenzen aus der Rechtsprechung des BGH zum standardisierten Messverfahren hingewiesen. Ein Tatrichter muss sich nur dann von der Zuverlässigkeit der Messungen überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind. Das OLG Bamberg hat weiter zutreffend ausgeführt, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung nur dahingehend interpretiert werden könne, dass im Falle eines standardisierten Messverfahrens keine vernünftigen Zweifel mehr an dem Geschwindigkeitsverstoß gegeben seien, wenn und soweit das amtlich zugelassene Messgerät, das im Tatzeitpunkt geeicht gewesen sei, unter Beachtung der Bedienungsanleitung des Zulassungsinhabers durch einen geschulten Messbeamten verwendet worden sei, sich auch sonst keine von außen ergebenden Hinweise auf etwaige Messfehler gezeigt hätten und der Tatrichter die vorgeschriebene Messtoleranzen berücksichtigt habe.

Es komme nach einer durchgeführten Beweisaufnahme, in der sich der Tatrichter zweifelsfrei von der Einhaltung der Prämissen für ein standardisiertes Messverfahren überzeugt habe, im Ergebnis zum Gleichlauf von Aufklärungspflicht und fairtrial- Grundsatz. Denn es würde einen nicht auflösbaren Wertungswiderspruch darstellen, wenn einerseits der durch ein standardisiertes Messverfahren ermittelte Geschwindigkeitswert ausreichende Grundlage für eine Verurteilung des Betroffenen sein solle, andererseits aber gleichwohl einem Antrag auf Überlassung der Messdatei, der allein das Ziel habe, die Richtigkeit des so ermittelten Messwertes zu erschüttern, unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens stattgegeben werden müsste.

Mit seiner Entscheidung entzieht der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes der vom BGH festgestellten Folge aus der amtlichen Zulassung von Geräten und Methoden demgegenüber die Grundlage. Wäre nämlich davon auszugehen, dass sich aus den Rohmessdaten Anhaltspunkte für ein fehlerhaftes Messergebnis ergeben können, wäre letztlich auch das Amtsgericht von Amts wegen verpflichtet, die entsprechenden Daten beizuziehen und sachverständig auswerten zu lassen. Das soll jedoch nach der Rechtsprechung des BGH ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte aber gerade nicht erforderlich sein.

Da sich das Amtsgericht nach Durchführung der Beweisaufnahme davon überzeugt hat, dass derartige Anhaltspunkte nicht vorliegen, konnte es auch den gestellten Beweisantrag rechtsfehlerfrei ablehnen.“

Das ist – wie der Kollege Deutscher in seiner für den VRR vorgesehenen Anmerkung zutreffend schreibt – „gelinde gesagt absurd. Dieses vom BGH anerkannte und auch vom VerfGH Saarland als solches nicht angezweifelte Rechtsinstitut ist ein wichtiges Mittel, um dem Massengeschäft der Verkehrsordnungswidrigkeiten in der Praxis Herr zu werden. Unfair ist nicht das ihm innewohnende Regel-Ausnahme-System, sondern die auf der Rechtsprechung der OLG Bamberg und Oldenburg beruhende Verweigerung auch nur der Chance, im konkreten Fall Mängel der Messung und des Messverfahrens nicht nur ins Blaue zu behaupten, sondern konkret herausarbeiten und vorbringen zu können. Der VerfGH Saarland entzieht diesem Rechtsinstitut also weder die Grundlage noch zieht sein Ansatz eine generelle Beiziehungspflicht des AG nach sich.“

Man könnte auch sagen Teufelskreis 3.0, oder: Inzwischen ist kein Argument zu dumm, um nicht verwendet zu werden.

OWI I: Überprüfung des standardisierten Messverfahrens, oder: „Großzügiger“ ist das KG

In die Gruppe der Entscheidungen zu den Betroffenenrechten beim standardisierten Messverfahren gehört der KG, Beschl. v. 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18, der die Frage der Möglichkeit der Überprüfung des standardisierten Messverfahrens ein wenig großzügiger sieht als das OLG Bamberg (OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18) und mehr in die Richtung des VerfG Saarland geht (vgl.  VerfG Saarland, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18), allerdings den Beschluss noch nicht umsetzt – man achte auf die Beschlussdaten

„Klarstellend merkt der Senat an:

Ob dem von der Betroffenen beauftragten Sachverständigen Einsicht in „sämtliche Falldateien des Messtags“ zu gewähren gewesen wäre oder ob diesem Begehren datenschutzrechtliche oder andere Umstände entgegengestanden hätten, muss dahinstehen.

Allerdings erkennt der Senat an, dass der Verteidiger, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich nicht bei den Akten befinden (vgl. BGHSt 39, 291; 28, 239; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2). Denn die Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen (vgl. Cierniak/Niehaus, aaO). Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (vgl. Senat DAR 2013, 211 [Bedienungsanleitung]). Solch weitreichende Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert, und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (vgl. BGHSt 39, 291; Cierniak, zfs 2012, 664).

Das daraus folgende Recht auf einen „Gleichstand des Wissens“ und auf Zugang zu den jedenfalls den Betroffenen betreffenden Messdaten ist jedoch nicht Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Dieses Verfahrensgrundrecht verlangt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte (vgl. BVerfG 6, 12). Zwar umfasst das Recht auf effektive Stellungnahme auch das Recht auf Informationen über den Inhalt und den Stand des gerichtlichen Verfahrens und damit auf Akteneinsicht (vgl. Senat DAR 2013, 211). Einen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 GG jedoch nicht (vgl. Senat DAR 2017, 593; Cierniak, zfs 2012, 664 und ausführlich Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2). Der hier einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit“, der dem Betroffenen die Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, ist vielmehr Ausfluss der Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. Cierniak/Niehaus, aaO).

Unbeschadet erheblicher Bedenken gegen die Zulässigkeit der hier erhobenen Verfahrensrüge kann mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nur die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend gemacht werden. Eine solche liegt nach dem Ausgeführten nicht vor. Andere Verfahrensgrundsätze, so auch jener des fairen Verfahrens, sind der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht gleichgestellt.“

Mal schauen, wie es weiter geht…..

Antwort vom OLG Bamberg: Das VerfG Saarland hat keine Ahnung, oder: Von wegen der Rechtsstaat lebt

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Auf den Paukenschlag aus dem Saarland mit dem VerfG Saarland, Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18 (vgl. dazu Paukenschlag beim (Akten)Einsichtsrecht, oder: Der Rechtsstaat lebt…) folgt dann schon nach kurzer Zeit die Antwort aus dem Freistaat. Das OLG Bamberg teilt im OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 – mit, was es von der Entscheidung des Verfassungsgerichts hält: Nämlich nichts. Und das in einer Diktion, die mich dann doch erstaunt. Bisher habe ich nämlich noch keinen OLG-Beschluss gesehen/gelesen, in dem das OLG einem Verfassungsgericht so „die Leviten liest“, jedenfalls kann ich micht nicht erinnern. Da heißt es: Das Verfassungsgericht „übersieht“, seine Auffassung ist „unhaltbar“ und sein „Hinweis….. verfängt“ nicht. Wenn man das so liest, hat man den Eindruck, dass man mit dem Verfassungsgericht spricht wie mit einem unartigen Kind, dem man nun endlich mal die Dinge, die es nicht kann/weiß, erklären muss. „Mia san mia“ eben, so wie man (teilweise) „die Bayern“, vor allem aber das OLG Bamberg kennt.

Mich überrascht allerdings nur die Diktion, nicht der Inhalt der Entscheidung. Denn ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass die OLG sich der Auffassung des VerfG Saarland anschließen würden. Das wäre dann ein zweiter Paukenschlag gewesen. Nein, es war zu erwarten, dass diese Antwort – vor allem aus Bayern – kommen würde, vollgestopft mit Zitaten und Hinweisen auf die eigene Rechtsprechung. Passieren wird jetzt Folgendes: Die anderen OLG werden dankbar auf diesen Zug aufspringen und sich dem OLG Bamberg anschließen. Und es wird weiter gehen wie bisher. Ändern wird sich also im Zweifel nichts. Schade. Und da kein OLG den Weg zum BGH gehen oder besser – zu gehen wagt -, werden Verteidiger nach wie vor, um die Einsicht in und die Übersendung von Messdaten pp. kämpfen müssen. Von wegen: „der Rechtsstaat lebt“.

So, das vorab. Und in der Sache erspare ich mir das Einstellen des recht langen Beschlusses und stelle hier nur die Leitsätze ein, so wie sie aus Bamberg gekommen sind – das heißt also mit von den dort bekannten vielen Zitaten der eigenen Rechtsprechung:

„1. Die Ablehnung eines Antrags des Betroffenen auf Beiziehung, Einsichtnahme oder Überlassung digitaler Messdateien oder weiterer nicht zu den Akten gelangter Messunterlagen verletzt weder das rechtliche Gehör noch das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren. Es handelt sich um einen Beweisermittlungsantrag, über den der Tatrichter unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 II StPO) zu befinden hat (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Beschl. v. 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 = DAR 2016, 337 = OLGSt StPO § 147 Nr. 10; 05.09.2016 – 3 Ss OWi 1050/16 = StraFo 2016, 461 = VA 2016, 214; 24.08.2017 – 3 Ss OWi 1162/17 = DAR 2017, 715 und 04.10.2017 – 3 Ss OWi 1232/17 = NZV 2018, 80 = NStZ 2018, 235; entgegen VerfGH Saarbrücken, Beschl. v. 27.04.2018 – 1 Lv 1/18).

2. Die Annahme, den Betroffenen eines Bußgeldverfahrens treffe eine „Darlegungs- und Beibringungslast“ in Bezug auf die geltend gemachte Unrichtigkeit des im Rahmen eines standardisierten Messverfahrens erzielten Messergebnisses ist mit dem geltenden Recht nicht vereinbar.“

Die Unterstreichungen sind nicht von mir.

Im Übrigen meine ich – das nur kurz und in der Diktion des OLG: U.a. die Auffassung des OLG zu Leitsatz 2 ist m.E. nicht haltbar. Es ist zwar richtig, dass den Betroffenen eines Bußgeldverfahrens ebenso wie den Beschuldigten im Strafverfahren nach den Vorgaben der StPO und des GG eine „Darlegungs- und Beibringungslast“ nicht trifft. Nur ist die Aussage des OLG im Hinblick darauf, was die OLG aus dem Satz im Bußgeldverfahren gemacht haben, nicht „haltbar“ und „verfängt“ nicht.

Insgesamt schade. Das OLG Bamberg hat in meinen Augen mal wieder eine Chance vertan, die Rechte des Betroffenen – so wie es der VerfG Saarland getan hat – zu stärken und eine andere Rechtsprechung einzuläuten. Aber vielleicht will man das ja auch gar nicht und will lieber das Süppchen „standardisiertes Messverfahren“ weiter kochen lassen.