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Sondermeldung: Einsichtnahme in die Messreihe, oder: Keine Divergenz – „Kneift“ der BGH in der Sache?

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Gerade hat mir der Kollege Keilhauer aus Kaiserlautern den BGH, Beschl. v. 30.03.2022 – 4 StR 181/21 – übersandt. Da das die lang ersehnte Antwort auf den Vorlagebeschluss des OLG Zweibrücken an den BGH betreffend die Einsicht in die „ganze Messreihe“ ist (zur Vorlage hier Sondermeldung: Einsichtnahme in die gesamte Messreihe, oder: OLG Zweibrücken legt dem BGH vor) will ich den Beschluss schnell online stellen. Also „Sondermeldung“ bzw. „außer der Reihe“.

Wer nun gedacht/gehofft hatte, mit der Antwort des BGH auf die Frage des OLG Zweibrücken wären dann in Zukunft alle Probleme gelöst, der wird durch die „Antwort“ (?)  des BGH m.E. enttäuscht. Denn: Der BGH sagt zu der Frage des OLG Zweibrücken nichts, sondern: Er hat die Sache an das OLG Zweibrücken zurückgegeben. Begründung: Keine Divergenz zum OLG Jena:

„Die Sache ist an das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken zurückzugeben, da die Vorlegungsvoraussetzungen des § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG nicht vorliegen. Die Annahme einer in rechtlicher Hinsicht bestehenden Divergenz durch das vorlegende Oberlandesgericht beruht auf einem nicht mehr vertretbaren Verständnis der Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts vom 17. März 2021 und ist daher für den Bundesgerichtshof im Vorlegungsverfahren nicht bindend (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 1999 — 5 AR (VS) 2/99, NStZ 2000, 222; vgl. Quentin in Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl., § 121 GVG Rn. 21; Feilcke in KK-StPO, 8. Aufl., § 121 GVG Rn. 43 f. jeweils mwN).

1. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG resultierende Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, NJW 2021, 455) dem Betroffenen im Bußgeldverfahren einen Anspruch auf Zugang zu solchen Informationen, die im Verfahren zum Zweck der Ermittlung angefallen, aber nicht Bestandteil der Bußgeldakte geworden sind, weil deren Beiziehung unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht geboten erscheint. Da der Informationszugang des Betroffenen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten einer sachgerechten Eingrenzung bedarf, setzt der Zugangsanspruch in sachlicher Hinsicht voraus, dass die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen aus der maßgeblichen Perspektive des Betroffenen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Dabei ist entscheidend, ob der Betroffene eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf (vgl. BVerfG aaO, Rn. 57). Bei entsprechenden Zugangsersuchen obliegt es den Bußgeldbehörden und den Gerichten, im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das Gesuch innerhalb des durch diese Voraussetzungen gesetzten Rahmens hält (vgl. BVerfG aaO, Rn. 58).

2. Das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken ist durch die Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts vom 17. März 2021 nicht gehindert, das Vorbringen der Betroffenen im Rahmen ihres Auskunftsverlangens einer gerichtlichen Prüfung zu unterziehen. Denn der Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts ist entgegen der Auffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts gerade nicht zu entnehmen, dass jedwedem Informationsverlangen eines Betroffenen ohne gerichtliche Prüfung seiner Berechtigung nachzukommen ist. Das Thüringer Oberlandesgericht knüpft vielmehr ausdrücklich an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, wonach der Anspruch des Betroffenen auf Informationszugang sachlich unter anderem davon abhängig ist, dass den begehrten Informationen durch den Betroffenen verständiger Weise Relevanz für seine Verteidigung beigemessen werden kann und es Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte ist, im Einzelfall zu beurteilen, ob das Gesuch diesen Anforderungen entspricht. Anschließend nimmt es selbst eine sachliche Prüfung der maßgeblich aus der Perspektive des Betroffenen zu beurteilenden Relevanz der begehrten Messdaten für die Bewertung der Verlässlichkeit der den Betroffenen belastenden Geschwindigkeitsmessung vor und gelangt zu dem Ergebnis, dass den Daten aus der am Tattag an der Messstelle durchgeführten Messreihe eine potentielle Beweiserheblichkeit nicht abgesprochen werden kann. Soweit das Thüringer Oberlandesgericht sodann abschließend im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht die alleinige Maßgeblichkeit der Einschätzung des Betroffenen für die Verteidigungsrelevanz einer begehrten Information betont, dienen diese Ausführungen ersichtlich dazu, klarzustellen, dass sich die Reichweite des Informationsanspruchs des Betroffenen einerseits und der dem Gericht obliegenden Amtsaufklärungspflicht andererseits nach verschiedenen Maßstäben beurteilt.

3. Eine der beabsichtigten Entscheidung entgegenstehende rechtliche Divergenz ergibt sich auch nicht aus der erst nach dem Vorlegungsbeschluss ergangenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 3. August 2021 (VRS 140, 319). Denn auch das Oberlandesgericht Stuttgart nimmt hinsichtlich der vom Betroffenen begehrten Informationen über die Daten der gesamten Messreihe eine eigene Bewertung von deren Verteidigungsrelevanz vor und bejaht eine potentielle Beweisbedeutung.

4. Soweit das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken einerseits und das Thüringer Oberlandesgericht sowie das Oberlandesgericht Stuttgart andererseits schließlich die potentielle Beweisbedeutung der im Rahmen der Geschwindigkeitsmessung insgesamt angefallenen Messdaten für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen belastenden Einzelmessung unterschiedlich beurteilen, betrifft dies eine tatsächliche Frage, die weder einen allgemeinen Erfahrungssatz noch allgemein als gesichert anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse zum Gegenstand hat (vgl. Quentin, aaO, § 121 GVG Rn. 16 mwN) und damit als Tatfrage einer Vorlegung nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich ist. Insoweit hat das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken eine Vorlage auch nicht beschlossen.“

Also: Man hat ein wenig den Eindruck, dass der BGH „kneift, wenn er dem OLG Zweibrücken sagt: Sieh zu, wie du mit der Sache fertig wirst.

Im Übrigen: Zurück „auf Null“. Das „Spiel beginnt neu. Aber es ist ja noch eine Vorlage „oben“

Sondermeldung: Einsichtnahme in die gesamte Messreihe, oder: OLG Zweibrücken legt dem BGH vor

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Hier dann – zwischendurch – mal wieder eine Sondermeldung, und zwar zum OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 -, den mir der Kollege Keilhauer aus Kaiserslautern gerade geschickt hat.

Folgender Sachverhalt: Das AG hat die Betroffene wegen fahrlässigen Überschreitens der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu einer Geldbuße von 120 Euro verurteilt. Die Feststellung der gefahrenen Geschwindigkeit beruht auf einer Messung mit dem Gerät ES 3.0 der Firma ESO. Gegen dieses Urteil  hat der Verteidiger  Rechtsbeschwerde eingelegt,

Der Einzelrichter des Senats hat die Sache gem. § 80 Abs. 3 S. 1, Abs..1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen. Der Senat beabsichtigt, die durch den Einzelrichter zugelassene Rechtsbeschwerde als unbegründet umfänglich zu verwerfen. Er sieht sich hieran jedoch durch den Beschluss des OLG Jena v. 17.03.2021 — 1 OLG 331 SsBs 23/20 – gehindert. Er hat die Sache daher dem BGH vorgelegt:

„Der für die Vorlage einzig erheblichen Verfahrensrüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

Der Verteidiger hat nach der am 10. Juli .2020 bewirkten Zustellung des Bußgeldbescheides an die Betroffene Einspruch eingelegt und mit Schriftsatz‘ vom 16. Juli 2020 bei der Verwaltungsbehörde „komplette Akteneinsicht“ beantragt. Ferner hat er um Einsicht in „die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten/Einzelmesswerten sowie Statistikdatei und Caselist“ sowie weitere Urkunden gebeten (zum Begriff der Rohmessdaten s. Thiele, DAR .2020, 614, 615;. Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., Rn. 236). Zur Begründung hat er ausgeführt, aus einer Analyse der Messreihe könne sich ergeben, dass andere Messungen fehlerhaft sind oder technisch nicht nachvollzogen werden können, was Rückschlüsse auf die tatgegenständliche Messung zulasse. Dies gelte insbesondere für die Aspekte atypischer Fotopositionen, einer Divergenz zwischen der Anzahl der erfassten Messungen und der generierten Falldatensätze, der Annulierungsrate des Geräts, möglicher Bewegungen des Messgeräts während der Messung sowie einer, eventuellen Nutzung von Messpunkten außerhalb des Messbereichs. Mit Schreiben vom 31. Juli 2020 lehnte die Verwaltungsbehörde mit Verweis auf die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens die Übersendung „weiterer Unterlagen“ ab. Mit Schriftsatz vom 10. August 2020 beantragte der Verteidiger die Einholung einer gerichtlichen Entscheidung und die Übersendung der Sache an das Amtsgericht. Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht durch Beschluss vom 26. August 2020 ab, weil ein Anspruch auf die Überlassung der Daten der gesamten Messreihe nicht bestehe und aus diesen auch keine Rückschlüsse auf die Messrichtigkeit des Geräts gezogen werden könnten. Der Verteidiger wiederholte nach Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht sein Begehren und erhob gegen den Beschluss vom 26:August 2020 sofortige Beschwerde, die bislang dem Landgericht noch nicht vorgelegt worden ist. In der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2021 beantragte der Verteidiger die Aussetzung des Verfahrens, die er mit der nach wie vor nicht erfolgten Einsicht in die begehrten Messunterlagen begründete. Nach Zurückweisung des Aussetzungsantrages widersprach der Verteidiger der Verwertung der Messdaten und des Messfotos. Das Amtsgericht verlas das Datenfeld des Messfotos und legte dieses ausweislich der schriftlichen Urteilsgründe seiner Überzeugungsbildung zugrunde.

Die Rechtsbeschwerde sieht durch dieses prozessuale Geschehen das Gebot des fairen Verfahrens als verletzt an, weil das Amtsgericht das Recht der Betroffenen auf Einsicht in die begehrten -Unterlagen (gesamte Messreihe) rechtsfehlerhaft missachtet habe. Kern der Vorlage ist damit die Frage, ob es einen reversiblen Verfahrensfehler darstellt, wenn das Tatgericht im Bußgeldverfahren einen Antrag auf Beiziehung und Einsicht in nicht bei den Akten befindliche, tatsächlich aber vorhandene Unterlagen (hier: dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Messdaten) abgelehnt hat, deren Relevanz für das Verteidigungsvorbringen nicht ersichtlich ist.“

Entscheiden soll der BGH daher folgende Frage:

„Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten ( gesamte Messreihe ) auch dann ein Verstoß gegen, den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist?“

Damit geht es nun zum ersten Mal zum BGH. Mal sehen, was der aus der Sache macht. Und vielleicht gibt es ja den ein oder anderen – weiter führenden – Hinweis.