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Corona: Nochmals Begriff der „Ansammlung“, oder: Erforderliche Urteilsfeststellungen

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Heute startet dann die Karwoche 2021 – die dann mit dem zweiten „Corona-Ostern“ endet. Das „Monothema“ treffen wir an allen „Ecken und Enden“, so dann heute auch mal wieder hier.

Ich stelle heute nämlich zunächst zwei OLG Entscheidungen vor, die sich (noch) einmal mit dem Begriff der Ansammlung, der ja in allen Corona-VO enthalten ist, befassen. Beide Entscheidungen kommen aber in diesem Posting – dann ist noch Platz für anderes.

Und hier dann:

Zunächst der Hinweis auf den OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.03.2021 – 2 Ss (OWi) 68/21. Es geht noch einmal um den Begriff der Ansammlung. Das AG hatte den Betroffenen vom Vorwurf eines Verstoßes gegen die Corona-VO frei gesprochen und war von folgenden Feststellungen ausgegangen:

„Der Betroffene hielt sich am 09.04.2020 um 21:15 Uhr pp. in seinem Fahrzeug auf und führte durch die geöffnete Fensterscheibe eine Unterhaltung mit drei weiteren Personen, die sich außerhalb seines Fahrzeuges befanden. Aufgrund der sich anschließenden Polizeikontrolle trennten sich die Personen wieder voneinander.“

Das OLG hat aufgehoben und weist ausdrücklich darauf hin, dass das Ansammlungsverbot gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 der Nds. Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona Pandemie vom 07.04.2020 von der Rechtsgrundlage des IfSG gedeckt und es sich grds. um eine Ansammlung gehandelt hat (dazu: Corona II: “Zusammenkunft oder Ansammlung” schon bei zwei Personen, oder: CoronaschutzVO NRW ist ok).  Aber: Da das AG  keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob es sich bei den beteiligten Personen nicht um Angehörige sowie nicht um Personen die in einer gemeinsamen Wohnung gelebt haben, gehandelt hat und darüber hinaus Feststellungen zum subjektiven Tatbestand fehlten, hat das OLG zurückverwiesen.

Und die zweite Entscheidung zu Corona kommt dann noch einmal vom OLG Hamm. Im OLG Hamm, Beschl. v. 11.03.2021 – 4 RBs 57/21 – geht es auch noch einmal um die Ansammlung. In dieser Entscheidung nimmt das OLg zu den erforderlichen Urteilsfeststellungen Stellung, und zwar:

Der Tatrichter muss bei einer Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen das Zusammenkunfts- und Ansammlungsverbot gem. § 12 Abs. 1 CoronaSchVO NW i.d.F. v. 27. April 2020 Feststellungen treffen, die erkennen lassen, dass es sich nicht um eine von dem Verbot ausgenommene Ansammlung oder Zusammenkunft i.S.v. § 12 Abs. 1 S. 2 CoronaSchVO NW i.d.F. v. 27. April 2020 handelt.

Die Themen werden uns sicherlich noch länger beschäftigen.

Corona I: Das „Ansammlungsverbot“ verletzt?, oder: die „bloß zufällig gegebene gleichzeitige Anwesenheit“

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So Wochenanfang. Und ich starte in die 11. KW wieder mit „Corona-Entscheidungen, wie in den letzten Wochen immer am Montag. Leider.

Zunächst noch einmal ein OLG-Beschluss, der sich mit dem „Ansammlungsverbot“ befasst.

Das AG Worms hatte einen Betroffenen wegen der „Teilnahme“ an einer untersagten „Ansammlung von Personen“ im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 der Vierten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz (4. CoBeVO) vom 17.04.2020. Dazu hatte das AG folgende Feststellungen getroffen:

„Nach den getroffenen Feststellungen ging der Betroffene am 27. April 2020 mit dem befreundeten Zeugen pp. zum Sparkassenautomat in der pp. in pp, um dort Geld abzuheben. Dort angekommen, trafen sie auf den Zeugen pp., der vor der Sparkasse mit seinem Mofa wartete. In der Sparkasse hielt sich zu diesem Zeitpunkt gerade eine befreundete vierte Person auf, die mit dem Zeugen pp. zur Sparkasse gekommen war, um ebenfalls Geld abzuheben. Nachdem die vierte Person, deren Namen das Amtsgericht nicht festgestellt hat, aus der Sparkasse gekommen war, standen die vier Personen „ungefähr ein bis zwei Minuten“ vor der Sparkasse im Freien im Halbkreis. Zwischen ihnen stand das „Moped“ (nach der anderweitig getroffenen Feststellung soll es sich um ein Mofa gehandelt haben, Anm. des Senats), so dass insgesamt ein Abstand von 1,5 bis 2 Metern zwischen den Personenpaaren, dem Betroffenen und dem Zeugen pp. einerseits sowie dem Zeugen pp.  und der vierten Person andererseits, gegeben war. Eine Verabredung zwischen ihnen hatte zuvor nicht stattgefunden. Während dieser Zusammenkunft unterhielt sich der Betroffene mit dem ihm bekannten Zeugen pp., wobei Ausgangspunkt des kurzen Gesprächs war, dass der Betroffene dem Zeugen anlässlich des Todes von dessen Großmutter, welche kurze Zeit davor verstorben war, kondolierte. Dabei wurde die Gruppe von Polizeibeamten beobachtet, angehalten und einer Personenkontrolle unterzogen, welche ergab, dass alle vier Personen unterschiedlichen Haushalten angehörten.“

Das AG hat in diesem Verhalten des Betroffenen einen i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 der 4. CoBeVO verbotenen Aufenthalt im öffentlich Raum gesehen. Der Begriff der „Ansammlung“ erfasse im Unterschied zum Versammlungsbegriff auch zufällige Treffen und Zusammenkünfte, auch wenn sich diese nur über einen kurzen Zeitraum erstreckten.

Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, über die das OLG Koblenz mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 08.03.2021 – 3 OWi 6 SsRs 395/20 – entschieden. Das OLG hat die  vom AG angewendeten Vorschriften als wirksam angesehen, dazu bitte selbst lesen. Allerdings:

„3. Nach den vom Amtsgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen war vorliegend in der Zusammenkunft des Betroffenen mit den drei weiteren Personen jedoch keine verbotene Ansammlung im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 der 4. CoBeVO zu sehen.

a) Der Begriff der „Ansammlung“ ist weder in der 4. CoBeVO noch im IfSG definiert. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 19. Januar 2000 (BT-Drs. 14/2530, S. 74 f.), auf deren Grundlage das IfSG erlassen wurde, sollten mit dem Begriff „Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen“ alle „Zusammenkünfte von Menschen, die eine Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen“, erfasst werden. Dies entspricht auch der Definition einer Ansammlung im Versammlungsrecht, wo sie – in Abgrenzung zur Versammlung – als ein bloßes tatsächliches Zusammentreffen von zwei oder mehr Personen ohne gemeinsamen Zweck angesehen wird (vgl. Maunz/Dürig/Depenheuer, GG, 92. EL August 2020, Art. 8. Rn. 44, 46).

b) Allerdings darf der Begriff der Ansammlung in § 4 Abs. 2 Satz 1 der 4. CoBeVO nicht in diesem weiten Sinne ausgelegt werden; dies würde in unverhältnismäßiger Weise das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG einschränken.

Gegen eine derart weite Auslegung des Begriffes der „Ansammlung“ in § 4 Abs. 2 Satz 1 der 4. CoBeVO spricht, dass ansonsten bereits jede bloß kurzzeitige oder zufällige gleichzeitige Anwesenheit von zwei oder mehr Menschen im öffentlichen Raum, etwa im Rahmen des Einkaufens zur Deckung des Lebensbedarf oder bei einem Spaziergang eine Ordnungswidrigkeit darstellen würde, was nicht der Wille des Verordnungsgebers gewesen sein dürfte.

Der Begriff der Ansammlung im Sinne der 4. CoBeVo bedarf deshalb einer verfassungskonformen Auslegung, welche das öffentliche Interesse an der Verhinderung der weiteren Ausbreitung des Infektionsgeschehens in einen angemessenen und vernünftigen Bezug zu den Bedürfnissen und unantastbaren Rechten der Bürger setzt.

Dies hat in erster Linie dadurch zu geschehen, dass einer Ansammlung in diesem Sinn ein innerer Bezug zugrunde liegen muss, d.h. der Wille und die Absicht, für einen längeren als nur flüchtigen Moment an einem bestimmten Ort zu verweilen. Eine Ansammlung im Rahmen der Vorschriften zur Bekämpfung der COVID19-Pandemie erfordert deshalb ein gezieltes Zusammensein von Menschen an einem Ort, um der kollektiven Ansammlung willen, was nicht schon bei jeder bloß zufällig gegebenen gleichzeitigen Anwesenheit von mehrerer Menschen erfüllt ist (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. 13 MN 192/20 v. 11.06.2020 – juris; OLG Hamm, Beschl. 4 RBs 446/20 v. 28.01.2021, Leitsatz 3 n. juris).

Weiter bedarf es einer räumlichen Beschränkung dahingehend, dass eine Ansammlung auch dann nicht gegeben ist, wenn eine über den Mindestabstand von 1,5 Metern (§ 4 Abs. 1 S. 1 d. 4. CoBeVO) hinausgehende deutliche Trennung bzw. Distanz zwischen den Ange-sammelten besteht, welche – insbesondere etwa beim Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes – eine Ansteckung der anderen Betroffenen des Zusammensein von vornherein ausschließt. Denn im Falle der verlässlichen Wahrung eines die Übertragung der Krankheit ausschließenden Sicherheitsabstands ist das Verbot einer Ansammlung als zur Verhinderung der Verbreitung der übertragbaren Krankheit nicht mehr erforderlich anzusehen (OLG Hamm, Beschl. 4 RBs 446/20 v. 28.01.2021, Rn. 35 n. juris mwN.).

Darüber hinaus ist auch der zwischen den Angesammelten bestehende Sozialbezug zu berücksichtigen. Treffen sich Angehörige, Kollegen, oder sonstige bekannte bzw. befreundete Personen aus verschiedenen Haushalten im öffentlichen Raum zufällig, also ohne vorherige Verabredung, so muss es ihnen möglich und gestattet sein, unter Wahrung des Mindestabstands von 1,5 Metern ein kurzes Gespräch zu führen, etwa um sich zu begrüßen, nach dem gegenseitigen Wohlbefinden zu erkundigen oder ein bestehendes Problem kurz anzusprechen. Ein solches, vom Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit geschütztes Verhalten darf aus Gründen der Wahrung des sozialen Friedens unter den Bürgern nicht pönalisiert werden; der Infektionsschutz als öffentliches Interesse hat insoweit zurückzustehen. Zu berücksichtigen ist, dass den Bürgern nach der Fassung der 4. CoBeVO wegen des Mindestabstands bereits das Begrüßen durch Händeschütteln oder eine Umarmung untersagt ist, was bereits einen sehr tiefgreifenden, in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie dagewesenen Eingriff in ihre Freiheitsrechte darstellt.

c) Von einem solchen, verfassungskonform ausgelegten Ansammlungsbegriff ausgehend, ist in dem von dem Amtsgericht festgestellten Verhalten des Betroffenen noch kein Verstoß gegen § 4 Abs. 2 Satz 1 der 4. CoBeVO zu sehen. Eine geplante Zusammenkunft lag dem zufälligen Zusammentreffen mit seinen Freunden bzw. Bekannten vor der Sparkasse nicht zugrunde. Selbst wenn die Verweildauer von ein bis zwei Minuten hier objektiv nicht mehr als rein flüchtige Begegnung angesehen werden kann, so ist zu Gunsten des Betroffenen doch davon auszugehen, dass seine Intention von vornherein nur auf eine kurze Kontaktaufnahme im Rahmen einer solchen ausgerichtet war, nämlich – was sozialadäquat und erwünscht ist – seinem Bekannten zum Tod einer nahen Angehörigen zu kondolieren. Dass das Gespräch hierüber hinausging und der Betroffene sich damit einverstanden gezeigt hätte, die zufällige Begegnung für ein längerfristiges Zusammensein auszunutzen, ist den Feststellungen des Amtsgerichts nicht zu entnehmen. Zwar kann ein mehrere Minuten andauerndes Gespräch ein starkes Indiz für die Intention eines Verweilens an der Örtlichkeit und damit für das Vorliegen einer bußgeldbewehrten „Ansammlung“ im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 der 4. CoBeVO sein, hinreichende Anhaltspunkte hierfür bestehen im vorliegenden Fall allerdings nicht.

Da die Feststellungen des Amtsgerichts ausreichend sind, um das Verhalten des Betroffenen an § 4 der 4. CoBeVO zu messen und weiterer Aufklärungsbedarf nicht besteht, entscheidet der Senat gemäß § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst.

Es kann nicht festgestellt werden, dass sich der Betroffene an einer „Ansammlung“ im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 der 4. CoBeVO beteiligt hat. Da er nach den Feststellungen des Amtsgerichts den gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 der 4. CoBeVO vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten hat und auch kein anderer Ordnungswidrigkeitenverstoß in Betracht kommt, war er mit der Kostenfolge des § 46 Abs. 1 OWiG iVm. § 467 Abs. 1 StPO freizusprechen.“

Zur „Ansammlung“ hatten wir ja bereits auch das OLG Hamm (vgl. Corona II: “Zusammenkunft oder Ansammlung” schon bei zwei Personen, oder: CoronaschutzVO NRW ist ok).

Corona II: Das Nichttragen einer Alltagsmaske, oder: Höhe der Geldbuße ist fraglich

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um ein amtsgerichtliches Urteil, und zwar um das AG Schmallenberg, Urt. v. 17.02.2021 – 6 OWi-211 Js 4/21 OWi-1/20.

Das hat einen Betroffenen wegen „Nichttragens einer Alltagsmaske in geschlossenem Räumlichkeiten im öffentlichen Raum“ zu einer Geldbuße von 150,00 EUR verurteilt. Das AG führt dazu aus:

„Der Betroffene begab sich am Mittwoch, den 04.11.2020 gegen 16.30 Uhr als Kunde in die geschlossenen Räumlichkeiten des B in der C. xx in T. Obwohl durch Schilder vor dem Betreten des Marktes ausdrücklich auf die Pflicht, eine Alltagsmaske zu tragen, hingewiesen wurde und dem Betroffenen dies auch bewusst war, betrat er die Räumlichkeiten und hielt sich darin auf. Als die Zeugin S, die damalige Filialleiterin des B, dieses bemerkte, sprach sie den Betroffenen an und erklärte ihm, dass er nur mit dem vorgeschriebenen Mund- und Nasenschutz den Markt betreten dürfe. Der Betroffene weigerte sich jedoch, einen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen. Auch verließ er dann auf Aufforderung nicht die Räumlichkeiten des Marktes, sondern erklärte, die Marktleiterin solle dann doch die Polizei rufen. Der Betroffene stand dann an den Packbändern an der Kasse bis die Polizei eintraf. Erst dann verließ er den Markt.

Der Betroffene räumte den Sachverhalt im Hauptverhandlungstermin ein. Er ist jedoch der Ansicht, er brauche keine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Dies sei ihm gesundheitlich nicht zumutbar. Zum einen habe er Probleme mit dem Gleichgewichtsnerv. Er sei in N bereits aus einem Laden raus und umgekippt. Zum zweiten beziehe er sich auf ein grundlegendes Thema. Er werde diskriminiert, wenn er rausgeschmissen werde. Er müsse Zugang zu Lebensmitteln haben. Wenn er die Maske aufsetze und ihm passiere etwas, dann hafte niemand dafür. Er kaufe nicht mehr selbst ein, das mache seine Partnerin. Er nehme das Risiko nicht mehr in Kauf. Er sei alles andere als ein Gefahrenbringer und halte auch die Abstandsregeln ein. Er laufe nicht mehr durch Läden, aber es sei eine Schande, dass es in Deutschland so weit gekommen sei. Er habe sich jedoch bewusst kein Attest besorgt. Denn der Arzt müsse ja auch darauf vertrauen, was er ihm sage. Er stelle deshalb seine eigenen Regeln auf, wenn es um seine Gesundheit gehe.

Der Betroffene hat sich der ihm im Bußgeldbescheid zur Last gelegten Ordnungswidrigkeit schuldig gemacht.

An der Rechtmäßigkeit der Verpflichtung des Betroffenen im öffentlichen Raum, also auch in einem öffentlich zugänglichem Verkaufsraum für Lebensmittel, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, besteht auch unter Berücksichtigung der Freiheitsrechte aus Art. 2 GG keinerlei Zweifel. Mit der Anordnung einer Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Personennahverkehr und beim Einkaufen in Ladengeschäften sind keine unverhältnismäßigen Grundrechtsbeeinträchtigungen verbunden (OVG Magdeburg Beschl. v. 11.6.2020 – 3 R 102/20, BeckRS 2020, 12249). Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung mag mit Unannehmlichkeiten verbunden sein. Im Rahmen der hier zu treffenden Abwägung ist jedoch dem Schutz überragend gewichtiger Gemeinwohlbelange wie dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit der Bevölkerung ein höheres Gewicht gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit und ggf. dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit beizumessen (OVG Magdeburg Beschl. v. 11.6.2020 – 3 R 102/20, BeckRS 2020, 12249; OVG MV, Beschluss vom 20. Mai 2020 – 2 KM 384/20 OVG – juris Rn. 23; OVG NRW, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 13 B 557/20.NE – juris Rn. 112; VGH BW, Beschluss vom 18. Mai 2020 – 1 S 1357/20 – juris Rn. 41 ff.; SaarlOVG, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 2 B 175/20 – juris Rn. 23; OVG SH, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 3 MR 14/20 – juris Rn. 24; HessVGH, Beschluss vom 5. Mai 2020 – 8 B 1153/20.N – juris Rn. 43; siehe auch die Folgenabwägung des NdsOVG, Beschluss vom 5. Mai 2020 – 13 MN 119/29 – juris Rn. 49).

Auch soweit sich der Betroffene darauf beruft, aus persönlichen gesundheitlichen Gründen von der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes befreit zu sein, kann dies sein Verhalten weder rechtfertigen noch entschuldigen.

Für die Glaubhaftmachung gesundheitlicher Gründe für eine Befreiung von der Maskenpflicht ist regelmäßig die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung erforderlich. Darauf, ob diese Bescheinigung nachvollziehbare Befundtatsachen sowie eine Diagnose enthalten muss, damit die Verwaltung bzw. das Gericht in die Lage versetzt werden, das Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen in den ärztlichen Bescheinigungen selbständig zu prüfen (so VGH Bayern Beschl. v. 8.12.2020 – 20 CE 20.2875, BeckRS 2020, 34824) oder ob eine solche ärztliche Bescheinigung ohne Diagnose ausreichend ist (so OVG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 4.1.2021 – OVG 11 S 132/20, BeckRS 2021, 2, ), kommt es hier nicht an.

Denn der Betroffene besitzt keine ärztliche Bescheinigung und weigert sich ausdrücklich, auch nach seinen Bekundungen im Hauptverhandlungstermin, eine solche mitzuführen. Daher bestand in jedem Fall eine Verpflichtung zum Tragen des Mund-Nasen-Schutzes. Denn von dieser Verpflichtung bei medizinischen Gründen wird nach § 3 Abs. 4 Nr. 4 S. 2 CoronaSchVO nur derjenige befreit, der diese medizinischen Gründe auch durch ein ärztliches Zeugnis nachweist. Müsste hingegen die Behörde jeweils den Nachweis führen, dass – wie im absolutem Regelfall anzunehmen-  gesundheitliche Bedenken gegen das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes nicht vorliegen, würden nur noch einsichtige Bürger den Schutz tragen und der Infektionsschutz wäre unmöglich. Damit gibt es auch an der Verpflichtung, im Falle eines ausnahmsweise vorliegenden medizinischen Grundes, der das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes unzumutbar macht, diesen durch ärztliche Bescheinigung nachzuweisen auch keinen vernünftigen Zweifel.

Dies führt dazu, dass das Gericht nicht gehalten ist, auf die pauschale Behauptung des Betroffenen, er könne aus medizinischen Gründen keinen Mund-Nase-Schutz tragen, im Wege des Amtsermittlungsverfahrens ein Sachverständigengutachten zu dieser Frage einzuholen.“

Insoweit begegnet des Urteil m.E. aus Rechtsgründen keine Bedenken 🙂 , aber: Mit der Rechtsfolge, nämlich mit der Höhe der Geldbuße, habe ich Probleme. Dazu das AG:

„Der Betroffene hat mithin nach den Feststellungen im Hauptverhandlungstermin aufgrund seiner eigenen Einlassung eine Ordnungswidrigkeit nach den 1 Abs. 5, 3 Abs. 2 Nr. 1, 18 Abs. 2 Nr. 2 CoronaSchVO in der Fassung vom 30.10.2020; 28 Abs. 1, 32, 73 Abs. 1 a Nr. 24 IfSG in der Fassung vom 19.06.2020 begangen. Nach § 73 Abs. 2 IfSG kann eine solche Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße von bis zu 25.000,00 Euro geahndet werden.

Der Bußgeldkatalog zur CoronaSchVO NRW sieht für das Nichttragen einer Alttagsmaske als Kunde einen Betrag von 50,00 Euro vor. Entgegen der Annahme im Bußgeldbescheid lag keine vollziehbare Anordnung, den Verstoß zu beenden im Sinne des öffentlichen Rechts vor, so dass eine Verdoppelung gem. Abs. 4 des Bußgeldkatalogs nicht angezeigt war. Festzuhalten ist allerdings, dass der Bußgeldkatalog das Gericht nicht bindet und nur den Behörden vorschreibt, Verstöße gegen die CoronaSchVO entsprechend zu ahnden. Das Gericht hat die Höhe der Geldbuße nach § 17 OWiG zu bemessen. Dabei liegt die Bemessung der Geldbuße grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters, der sich ein umfassendes Bild von der Tat und dem Täter bilden muss (KK-OWiG/Mitsch, 5. Aufl. 2018, OWiG § 17 Rn. 30).

In diesem Rahmen war eine Geldbuße von 150,00 Euro angemessen. Denn das Verhalten des Betroffenen, den rechtswidrigen Zustand aufrecht zu erhalten und weder einen Mund-Nasen-Schutz anzulegen, noch trotz Aufforderung die Räumlichkeiten zu verlassen, bedeutet nicht nur eine überdurchschnittliche erhöhte Beeinträchtigung des angestrebten Infektionsschutzes, sondern eine bewusste und provokative auf Uneinsichtigkeit beruhende sozialschädliche Verhaltensweise. Letztlich war hier auch der Straftatbestand des Hausfriedensbruches gem. § 123 StGB erfüllt. Dessen Verfolgung scheitert nur am mangelnden Strafantrag. Die Rechtsauffassung des Betroffenen, ein Hausfriedensbruch liege nur vor, wenn er auf Aufforderung der Polizei den Markt nicht verlasse bzw. ein Hausfriedensbruch könne nicht vorliegen, weil er das Recht habe auch ohne Maske Lebensmittel einzukaufen, ist schlicht falsch. Auch in Anbetracht des Einkommens erscheint daher eine solche Geldbuße zur Einwirkung auf den Betroffenen, in Zukunft ein solches Verhalten zu unterlassen, dringend angezeigt.“

Ich habe nämlich erhebliche Zweifel, ob man „das Verhalten des Betroffenen, den rechtswidrigen Zustand aufrecht zu erhalten und weder einen Mund-Nasen-Schutz anzulegen, noch trotz Aufforderung die Räumlichkeiten zu verlassen“ und den „Hausfriedensbruch“ geldbußenerhöhend heranziehen konnte. Vielleicht sagt uns ja das OLG Hamm etwas dazu. Denn der Betroffene wird im Zweifel Rechtsbeschwerde eingelegt haben. Dafür spricht bei dem Verhalten m.E. einiges.

Corona I: Ausgangssperre in Sachsen, oder: Nochmals – der Gerichtsbesuch als „triftiger Grund“

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Auch nach einem Jahr Corona geht kein Weg daran vorbei: Es wird weitere Entscheidungen zur Pandemie bzw. zu Pandemiefragen geben. Und es nutzt nichts. Man muss darüber berichten.

Heute zu der Thematik daher wieder zwei „Corona-Entscheidungen“, und zwar zunächst der BGH, Beschl. v. 06.01.2021 – 5 StR 363/20 – zur Frage der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung in Corona-Zeiten. Der Angeklagte hatte mit der Verfahrensrüge gegen seine Verurteilung durch das LG Dresden einen Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes geltend gemacht. Ohne Erfolg:

„2. Die Revision kann mit der Verfahrensrüge der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§ 169 GVG, § 338 Nr. 6 StPO), ungeachtet der in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts aufgezeigten Zulässigkeitsbedenken, nicht durchdringen. Die aufgrund der COVID-19-Pandemie durch die Allgemeinverfügung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Vollzug des Infektionsschutzgesetzes vom 22. März 2020 angeordneten Ausgangsbeschränkungen stellen kein Verbot dar, als Zuhörer und damit als Teil der Saalöffentlichkeit an einer Hauptverhandlung teilzunehmen (ebenso BGH, Beschluss vom 17. November 2020 – 4 StR 390/20).

a) Der in § 169 GVG niedergelegte Öffentlichkeitsgrundsatz als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (BVerfG, Beschluss vom 14. März 2012 – 2 BvR 2405/11, BVerfGK 19, 352; Urteil vom 24. Januar 2001 – 1 BvR 2623/95, BVerfGE 103, 44) gewährleistet, dass jedermann grundsätzlich die Möglichkeit hat, an Verhandlungen der Gerichte als Zuhörer teilzunehmen (BGH, Urteil vom 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76, BGHSt 27, 13). Dadurch soll eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit – als historisch unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür – ermöglicht werden (BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, BVerfGE 133, 168, 217 f., Rn. 88; vgl. zum Ganzen Wickern, in: Löwe-Rosenberg StPO, 26. Aufl., vor § 169 GVG Rn. 2.ff..mwN).

b) Das Landgericht hat die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens nicht verletzt.

Nach Nr. 1 der sächsischen Allgemeinverfügung ist lediglich das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund untersagt. Welche Gründe triftig sind, zählt Nr. 2 auf, so in Nr. 2.9 die Wahrnehmung unaufschiebbarer Termine bei Behörden, Gerichten, Gerichtsvollziehern, Rechtsanwälten und Notaren. Durch die Formulierung „insbesondere“ wird klargestellt, dass es sich um keine abschließende Aufzählung handelt. Auch die Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen begründet einen triftigen Grund (BGH, Beschluss vom 17. November 2020 – 4 StR 390/20; zur fast wortgleichen bayerischen Regelung OLG München, NJW 2020, 1381; ebenso Rau in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 2. Aufl., § 19 Rn. 83; Meßling in Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19-Corona-Gesetzgebung – Gesundheit und Soziales, § 20 Verfahrensrecht Rn. 60; aA Kulhanek, NJW 2020, 1183,1184; Arnoldi, NStZ 2020, 313, 315).

Dies ist damit in Einklang zu bringen, dass die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen der Allgemeinverfügung auf die Eindämmung des pandemischen Infektionsgeschehens gerichtet sind und einen Ausgleich zwischen dem Schutz vor der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus und der Aufrechterhaltung elementarer Lebensbereiche suchen. Durch Nr. 2.9 der Allgemeinverfügung wird klargestellt, dass die Funktionstüchtigkeit der Justiz als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaats aufrechterhalten bleiben soll. Auch das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit der Gefährdungslage durch die COVID-19-Pandemie darauf hingewiesen, dass die Sicherung des Rechtsfriedens durch das Strafrecht in der Ausnahmesituation einer Pandemie weiterhin eine wichtige Aufgabe staatlicher Gewalt bleibt (BVerfG, Beschluss vom 16. November 2020 – 2 BvQ 87/20, Rn. 50; ebenso SächsVerfGH, NJW 2020, 1285, 1286). Dessen Aufrechterhaltung bedingt nicht nur die Teilnahme der unmittelbar am Gerichtsverfahren Beteiligten, sondern auch die Gewährleistung der Saalöffentlichkeit.

c) Ungeachtet, ob sich Interessierte durch die Ausgangsbeschränkungen von dem Besuch von Gerichtsverhandlungen haben abhalten lassen, wozu die Revision § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Vortrag indes vermissen lässt, gilt Folgendes:

Selbst wenn Einzelne aufgrund der gesundheitspolizeilichen Maßnahmen auf den Besuch einer Hauptverhandlung verzichtet haben sollten, läge auch in diesem Fall keine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch das Tatgericht vor. Denn ein trotz eines nicht bestehenden Teilnahmeverbots vorgenommener Verzicht Einzelner würde in diesen Fällen auf Umständen beruhen, die nicht in den Verantwortungsbereich des Gerichts fielen (vgl. OLG München, NJW 2020, 1381; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 169 Rn. 25a; Arnoldi, NStZ 2020, 313, 316; offen gelassen BGH, Beschluss vom 17. November 2020 – 4 StR 390/20; zur Frage des Vertretenmüssens etwa BGH, Beschluss vom 7. April 2016 – 1 StR 579/15, NStZ-RR 2016, 245; Urteile vom 18. Dezember 1968 – 3 StR 297/68, BGHSt 22, 297, 301 f.; vom 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66, BGHSt 21, 72, 73; Franke, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 338 Rn. 113; MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, § 338 Rn. 134 ff.; KK-StPO/Gericke, 8. Aufl., § 338 Rn. 89; jeweils mwN).

Bei einer von ihm nicht zu vertretenden Sachlage wäre das Tatgericht schließlich nicht verpflichtet, dem Öffentlichkeitsgrundsatz durch eine Unterbrechung oder eine Aussetzung noch weitergehende Wirkung zu verschaffen. Anders als im Einzelfall kurzfristiger Beschränkungen (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 11. Juli 1979 – 3 StR 165/79) kann dies insbesondere dann nicht gelten, wenn die Dauer der möglichen Einschränkungen wie bei der aktuellen Pandemie nicht absehbar ist. Denn die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasst auch in Ausnahmesituationen die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen (BVerfG, Beschluss vom 16. November 2020 – 2 BvQ 87/20, Rn. 50; SächsVerfHG, NJW 2020, 1285, 1286). Durch den – während des hier laufenden Strafverfahrens noch nicht geltenden – § 10 EGStPO sollte ebenfalls nur eine Reduktion des Geschäftsbetriebs ermöglicht, aber keinesfalls ein Stillstand über möglicherweise Wochen oder Monate – in denen Angeklagte sich in Untersuchungshaft befänden, Taten verjährten etc. – herbeigeführt werden (vgl. Arnoldi, aaO, 317).“

Hatten wir schon mal ähnlich: Corona I: Öffentlichkeitsgrundsatz versus Aussgangssperre, oder: Der Gerichtsbesuch als “triftiger Grund”?

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: Gesamtstrafübel, Nebenfolgen und/oder Corona

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Seit meinem letzten Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist wieder einiges an neuen Entscheidungenaufgelaufen. Daher kann ich dann heute wieder einige Entscheidungen vorstellen.

Ich starte mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar zunächst mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 02.202.2021 – 26 Qs 4/21. Gegenstand der Entscheidung: Beiordnung in den Fällen einer Gesamtstrafe. Das LG sagt/meint:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Insoweit nicht viel Neues aus Stralsund, außer: Das haben wir immer schon so gemacht, was dieses Mal auch richtig ist.

Interessanter ist da schon der LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21. In ihm geht es auch um die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Und es geht auch um das sog. Gesamtstrafübel – hier Nebenfolge: Einziehung – und das „gepaart“ mit Corona. Dazu das LG:

„Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“