Im Moment „rappelt“ es im Strafvollzug, meint: Derzeit werden doch eine ganze Reihe von Entscheidungen des BVerfG veröffentlicht, die ein in meinen Augen nicht allzu gutes Licht auf den Strafvollzug werfen und auch nicht auf die Art und Weise, wie damit bei den LG und OLG umgegangen wird. Nach dem BVerfG, Beschl. v. 05.03.2015 – 2 BvR 746/13 (vgl. dazu Der entkleidete Gefangene, oder: Guantanamo ist wohl doch überall) ist gestern die PM zum BVerfG, Beschl. v. 18.03.2015 – 2 BvR 1111/13 – über die Ticker gelaufen.
In ihm geht es mal wieder um einen entkleideten/nackten Gefangenen. Der mittlerweile entlassene Gefangene war 2010 in der JVA Kassel I, Abteilung für psychisch auffällige Gefangene, untergebracht, wo er für den 08. 09. 2010 zur Zahnarztsprechstunde vorgesehen war. Nachdem die JVA die Behandlung an diesem Tag nicht gewährleisten konnte, begann der Gefangene gegen seine Haftraumtür zu schlagen und zu treten. Im weiteren Verlauf wurde er unter Anlegung von Handfesseln in einen besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände mit durchgehender Kameraüberwachung verbracht und dort nach Entfernung der Handfesseln vollständig entkleidet. Am 09. 10. 2010 erhielt er eine Hose und eine Decke aus schnell reißendem Material. Am 10. 09. 2010 wurde er in seinen Haftraum zurückverlegt. Eine nach seiner Rückverlegung erhobene Dienstaufsichtsbeschwerde wies der Anstaltsleiter zurück. Es sei kein dienstaufsichtsrechtliches Fehlverhalten der von dem Gefangenen genannten Bediensteten ersichtlich. Letztlich hat dann sein Antrag auf gerichtliche Entscheidung weder beim LG noch beim OLG Frankfrut Erfolg. Das OLG hat seine Rechtsbeschwerde als unzulässig, u.a. weil die Verfahrensrüge nicht ausreichend begründet war, verworfen.
Die Verfassungsbeschwerde hatte dann jetzt aber Erfolg. Nach Ausführungen zur Zulässigkeit führt das BVerfG zur Begründetheit u.a. aus:
cc) Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss des Landgerichts nicht gerecht. Die durch das Landgericht vorgenommene Abwägung beruht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
Der Beschwerdeführer war nach seiner gewaltsamen Entkleidung einen Tag lang, die Nachtzeit mit eingeschlossen, gänzlich unbekleidet der ständigen Beobachtung durch Vollzugsbedienstete ausgesetzt. Die Justizvollzugsanstalt hat die vollständige Entkleidung des Beschwerdeführers mit dem alleinigen Hinweis auf dessen durch das Trommeln an die Zellentür bedingte Selbstgefährdung begründet. Aus diesem Verhalten wird bereits die Erforderlichkeit der vollständigen Entkleidung nicht ersichtlich. Das Verhalten des Beschwerdeführers war auch nach der Beschreibung der Justizvollzugsanstalt nicht final darauf ausgerichtet, sich selbst Verletzungen zuzuführen, sondern die Verletzungsgefahr für den Beschwerdeführer rührte mittelbar aus dessen Gesamtverhalten in der Zelle her. Insoweit erschließt sich bereits nicht, wieso der Beschwerdeführer in dem besonders gesicherten Haftraum plötzlich dazu hätte übergehen sollen, sich mit den eigenen Kleidungsstücken selbst zu verletzen, was ohnedies aufgrund der Videoüberwachung sofort hätte unterbunden werden können. Umso schwerer wiegt, dass die Justizvollzugsanstalt das sich an die Entkleidung anschließende vollständige Vorenthalten von Ersatzkleidung nicht einmal mit konkreten Anhaltspunkten für eine diesbezügliche Selbstgefährdung begründet hat, sondern damit, dass der Beschwerdeführer mit der zur Verfügung gestellten Papierbekleidung seinen Forderungen durch Verstopfen der Toilette zusätzlich hätte Ausdruck verleihen können. Dieser Versuch der Rechtfertigung stellt bloße Ordnungsbelange über den die Würde berührenden Intimbereich des Beschwerdeführers. Er ist auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil ein etwaig versuchtes Verstopfen der Toilette aufgrund der permanenten Videoüberwachung des Beschwerdeführers unmittelbar hätte verhindert werden können.
Das Landgericht hat diese Maßnahmen als nach § 88 Abs. 2 Nr. 1 StVollzG zulässig erachtet und dabei festgestellt, dass die allgemeinen Erwägungen der Justizvollzugsanstalt hinsichtlich der Erforderlichkeit der Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen (Gewalttätigkeiten gegen die Zelleneinrichtung und damit verbundene Selbstverletzungen) auch ihre Entscheidung für die vollständige Entkleidung des Beschwerdeführers trügen. Mit dieser Erwägung hat das Landgericht die Zulässigkeit der Maßnahme angenommen, obwohl die Justizvollzugsanstalt die den Entzug der Kleidungsstücke allein rechtfertigende Gefahr der Selbstverletzung inhaltlich in keiner Weise konkretisiert hat. Damit verkennt es bereits, dass bei einer kumulativen Anordnung einzelner Sicherungsmaßnahmen die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme detailliert zu begründen ist (vgl. hierzu anschaulich OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 26. Februar 2002 – 3 Ws 132/02 -, NStZ-RR 2002, S. 155 <156 f.>; siehe auch Schwind/Grote, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 6. Aufl. 2013, § 88 Rn. 5; ähnlich Feest/Köhne, in: Feest/Lesting, StVollzG, 6. Aufl. 2012, § 88 Rn. 10). Das Landgericht hat mithin vollständig verkannt, dass bereits die Entkleidung eines Gefangenen aufgrund einer lediglich abstrakt festgestellten, aus randalierendem Verhalten gefolgerten Gefahr nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 88 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 StVollzG gedeckt sein kann. Auch die Bestätigung der Maßnahme als rechtmäßig, obwohl dem Beschwerdeführer keine Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung gestellt wurde, verdeutlicht die grundsätzliche Verkennung der Bedeutung der durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Intimsphäre des Beschwerdeführers durch das Landgericht.
Die weiteren Ausführungen des Landgerichts, bei der Feststellung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sei zu berücksichtigen, dass die Eingriffsintensität dadurch abgemildert worden sei, dass der besonders gesicherte Haftraum dauerhaft beheizt gewesen und von außen nur durch einzelne Vollzugsbedienstete per Kameraüberwachung einsehbar gewesen sei, gehen ebenfalls fehl. Die ausreichende Beheizung eines besonders gesicherten Haftraums (die im Übrigen vorliegend strittig war), ist eine Selbstverständlichkeit und gerade nicht dazu geeignet, als besonderes Entgegenkommen der Justizvollzugsanstalt einen so schwerwiegenden Eingriff wie die vollständige Entkleidung eines Gefangenen als verhältnismäßig zu rechtfertigen. Sie steht in keiner Beziehung zu der hier in Frage stehenden Verletzung der durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Intimsphäre des Betroffenen und ist im Übrigen Mindestvoraussetzung dafür, dass bei der einschneidenden Unterbringung nicht noch weitere Grundrechte des Gefangenen – etwa dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – verletzt werden. Ebenso wenig sind die Ausführungen des Landgerichts, das Schamgefühl des Beschwerdeführers sei dadurch geschont worden, dass der Haftraum nur durch einzelne Vollzugsbedienstete per Kameraüberwachung einsehbar gewesen sei, geeignet, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu begründen. Die diesbezügliche Feststellung des Landgerichts entbehrt bereits einer Tatsachengrundlage. Aus dem Vorbringen der Justizvollzugsanstalt ist nicht ersichtlich, wie viele Vollzugsbedienstete den besonders gesicherten Haftraum des Beschwerdeführers einsehen konnten. Insbesondere geht aus dem Vortrag der Justizvollzugsanstalt nicht hervor, dass die Überwachung des Beschwerdeführers nur durch gleichgeschlechtliche Bedienstete erfolgt ist (vgl. zu diesem Gebot zur Wahrung des Schamgefühls des Betroffenen Arloth, StVollzG, 3. Aufl. 2011, § 88 Rn. 8). Im Übrigen ändert die Frage, wie viele Bedienstete durch die Kamera tatsächlich den besonders gesicherten Haftraum einsehen konnten, nichts daran, dass sich der Beschwerdeführer bereits durch das Bewusstsein der permanenten Beobachtung durch die Videokameras bei gleichzeitig vollständiger Entkleidung erniedrigt und in seiner Intimsphäre verletzt fühlen musste….“
Das alles wird man in Kassel und in Frankfurt nicht so gerne lesen: „grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts„, „nicht nachvollziehbar„, „verkennt“ , „gehen fehl“ sind deutliche Worte, die, wenn nicht eine „schallende Ohrfeige“ und/oder „Klatsche“, dann aber doch einen „dicken Rüffel“ aus Karlsruhe bedeuten.
Das einzig unschöne an der Entscheidung des BVerfG: Warum kommt sie erst nach gut zwei Jahren?