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Aussage-gegen-Aussage, oder: Ein „leichtsinniges Verhalten“ hat nicht ohne weiteres Auswirkungen auf die Zeugenqualität

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In der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, spielen auch Fragen der Beweiswürdigung eine Rolle. Angeklagt war eine sexuelle Nötigung. Das AG Bremerhaven hatte die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Die ablehnende Entscheidung hat das AG insbesondere damit begründet, dass die Nebenklägerin widersprüchliche Angaben gemacht habe, unabhängige Beweismittel zur Tat nicht existieren würden und daher aufgrund der Aussage gegen Aussage- Konstellation eine Verurteilung des die Tat bestreitenden Angeschuldigten nicht zu erwarten sei.

Das sieht das LG Bremen im LG Bremen, Beschl. v. 28.11.2018 – 60 Qs 384/18 (913 Js 25102/18) – anders. Es bejaht den hinreichenden Tatverdacht und macht für das AG schon mal die Beweiswürdigung:

„Bei seiner Prüfung kann das Gericht schon aufgrund der Aktenlage den einzigen Belastungszeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung unterziehen (OLG Nürnberg, NJW 2010, 3793) und den hinreichenden Verdacht bei einer Sachlage, die von sich im Kernbereich widersprechenden Aussagen dieses Zeugen geprägt ist, mit der Begründung verneinen, dass sich wegen der strengen Anforderungen an die Beweiswürdigung in einer Aussage-gegen-Aussage-Situation eine Prognose, wonach der Angeschuldigte wahrscheinlich verurteilt werde, nicht stellen lasse (OLG Karlsruhe, StV 2012, 459). Jedoch ist bei ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Nichtverurteilung das Hauptverfahren zu eröffnen. wenn zweifelhafte Tatfragen in der Hauptverhandlung geklärt werden und zu einer die Verurteilung tragenden tatsächlichen Grundlage führen können (OLG Stuttgart, NStZ-RR 2011, 318; OLG Koblenz NJW 2013. 98; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 203 Rdn. 2). Dabei ist das Gericht gehalten. seine Beurteilung einerseits aufgrund des gesamten Ermittlungsergebnisses vorzunehmen, andererseits aber auch die besseren Aufklärungsmöglichkeiten der Hauptverhandlung, insbesondere auch durch den persönlichen Eindruck des Gerichts hinsichtlich der Glaubwürdigkeit eines Hauptbelastungszeugen, in Rechnung zu stellen (OLG Koblenz, a.a.O.)

Nach diesem Prüfungsmaßstab ist ein hinreichender Tatverdacht für die hier in Rede stehende Straftat gegeben.

Die Kammer verkennt nicht, dass es sich vorliegend um eine Beweiskonstellation handelt, in der im Wesentlichen die belastende Aussage der Nebenklägerin gegen die Einlassung des Angeschuldigten streitet, und dass deshalb die Aussage dieser einzigen Belastungszeugin — wie bei der amtsgerichtlichen Entscheidung auch geschehen — einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist. Allerdings weichen die von der Nebenklägerin gleich nach dem Vorfall und später bei ihrer polizeilichen Zeugenvernehmung gemachten Angaben nicht derart voneinander ab. dass sie von vornherein als unglaubhaft bezeichnet werden könnten. Jedenfalls im Kernbereich hat die Nebenklägerin im Laufe des Ermittlungsverfahrens gleichbleibende Aussagen zum Tatgeschehen gemacht.

So hat sie jeweils detailliert geschildert. wie sie zunächst Intimitäten verweigert habe und dann vom Angeschuldigten auf das Bett gezogen, dort fixiert und zur Duldung von Küssen und dem Streicheln ihrer Brüste gezwungen worden sei.

Dass die Nebenklägerin aus Sicht des Amtsgerichts nicht plausibel zu erläutern vermag, warum sie sich wieder in die Wohnung des Angeschuldigten begeben hat. wenn dieser doch bereits beim ersten Mal versucht hat, sie zu küssen. macht ihre diesbezüglichen Angaben nicht widersprüchlich. Dass es zumindest aus Sicht der Nebenklägerin plausible Gründe gab, den Angeschuldigten wiederholt aufzusuchen. folgt daraus. dass sie sich davon versprach, einen Betrag i.H.v. € 200,00 geliehen zu bekommen. Darüber hinaus konnte sie in dessen Wohnung Kokain konsumieren.

Dass die Nebenklägerin zum Angeschuldigten in das Schlafzimmer ging und sich auf dessen Bettkante freiwillig setzte, obwohl sie zuvor hätte gewarnt sein können, wirft Fragen auf, deren Klärung allerdings der Hauptverhandlung vorbehalten bleibt. Ein unter Umständen als leichtsinnig zu bezeichnendes Verhalten der Geschädigten wirkt sich jedenfalls nicht ohne weiteres auf ihre Qualität als Zeugin aus.

Für eine tatsachenfundierte Schilderung spricht ihre Aussage. das Verhalten des Angeschuldigten nicht dramatisiert zu haben. Bei einer Falschbelastung hätte es nahe gelegen. das Ausmaß an Gewalt drastischer darzustellen, um so die ausweglose Zwangslage noch plausibler erscheinen zu lassen. Auf die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin weist zudem ihre schlechte psychische Verfassung sowohl gegenüber ihrer Freundin als auch gegenüber ihrer Tante hin.

Hingegen ist die Einlassung des Angeschuldigten, er habe die Nebenklägerin weder angefasst noch sie geküsst und sei nur angezeigt worden, weil die Nebenklägerin auf ihn eifersüchtig und enttäuscht gewesen sei. weil er ihr das Geld nicht gegeben habe, nicht nachvollziehbar. Aus dem zwischen beiden am 25.06.2017 gewechselten Chatverkehr ergibt sich, dass die Nebenklägerin dem Angeschuldigten auf dessen Mitteilung, sie könne arbeiten und er wolle ihr nur helfen. geschrieben hat, sie glaube, er habe etwas ganz anderes vor. sie „wieder zu zwingen“, mit ihr zu schlafen; „wie letztes Mal“. Sie habe nicht gewollt. er habe sie nicht in Ruhe gelassen.

Der Angeschuldigte erwidert darauf: „Ja hast recht okay ich mach das nicht wieder“.

Mich würde man interessieren, in wie viel Fälle sich solche Chats für die Beschuldigten/Angeklagten im Laufe eines Strafverfahrens als nachteilig herausgestellt haben.

Aussage-gegen-Aussage, oder: Lagertheorie

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Author Bagnuk

Heute dann mal Entscheidungen zu Beweisfragen.

Und da stelle ich zunächst den KG, Beschl. v. 12.12.2018 – (2) 161 Ss 150/18 (53/18) – vor, der sich zur Konstellation „Aussage-gegen-Aussage“ verhält. Es geht um die Anwendung/das Vorliegen der sog. Lagertheorie. Das KG hat die aber die strengen Anforderungen an die Beweiswürdigung in den Fällen nicht herangezogen:

„Zu Unrecht geht der Beschwerdeführer hier von einer „Aussage-gegen Aussage-Konstellation“ aus. Er ist der Auffassung, dass eine solche auch gegeben sei, wenn die einzigen Belastungszeugen in einem Lager stünden (hier zwei Passanten, die von dem angeklagten Taxifahrer nach einer verbalen Auseinandersetzung jeweils geschlagen wurden); dies sei „im Ergebnis nicht anders zu werten als die klassische ‚Eins-gegen-Eins-Situation‘, vgl. OLG Frankfurt a.M.“ Soweit ersichtlich hat das OLG Frankfurt a.M. eine solche Ansicht im Beschluss vom 6. November 2009 – 1 Ss 390/08 (= StV 2011, 12 = BeckRS 2011, 328) vertreten. Dort war der Angeklagte vom Tatgericht u.a. wegen Widerstandes gegen (vier) Vollstreckungsbeamte verurteilt worden; insoweit hatte das OLG lediglich ausgeführt: „Im vorliegenden Verfahren wird die Überführung des Angeklagten letztlich allein auf die Aussagen der Polizeibeamten … gestützt, die sämtlich demselben Lager zuzuordnen sind, so dass Aussage gegen Aussage steht“. In der Folge wendet das OLG Frankfurt dann die vom BGH (allein) für die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ entwickelten besonders strengen Beweiswürdigungsregeln an (vgl. zu letzterem BGHSt 44, 153; 44, 257; BGH NStZ-RR 2016, 87; NStZ-RR 2018, 188; vgl. zudem mwN Schmandt StraFo 2010, 446). Das OLG Karlsruhe (StraFo 2015, 250) und der 3. Strafsenat des Kammergerichts (Beschluss vom 21. November 2018 – 3 Ws 278/18 –, juris) vertreten die Ansicht, dass eine Beweissituation, in der die einzigen Belastungszeugen „einem Lager“ angehören, den Fällen nahekomme, in denen Aussage gegen Aussage stehe und in denen deshalb erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen seien. Dem ist nicht zu folgen.

Die Annahme der Revision, dass eine Aussage-gegen-Aussage Konstellation vorliegt, trifft hier schon deshalb nicht zu, da hier – worauf die Generalstaatsanwaltschaft überzeugend hinweist – weitere die Zeugenaussagen stützende sachliche Beweismittel vorlagen, wie etwa Lichtbilder und ein Arztbericht, die die Angaben der Zeugen bestätigten. Ungeachtet dessen stehen der Aussage des Angeklagten nicht nur eine einzelne Aussage, sondern die Angaben zweier Zeugen gegenüber. Die offenkundige Annahme deren – wie auch immer geartete – Verbindung führe letztlich zu der „Verschmelzung“ zweier Aussagen zu einer und der Anwendbarkeit der oben genannten Grundsätze überzeugt nicht (so auch KK-StPO/Ott, 7. Aufl. § 261 Rn. 29b). Zwar wird der Tatrichter bedenken müssen, dass bei Beweispersonen, die eng miteinander in Verbindung stehen, im Vorfeld ihrer Vernehmungen ein Austausch stattgefunden haben kann oder gar eine Absprache erfolgt ist (vgl. instruktiv dazu Eisenberg, Beweisrecht 10. Aufl. Rn. 1456 ff. unter dem Stichwort „Gruppenaussagen“). Doch ändert dies nichts daran, dass es sich um zwei oder mehr eigenständige Aussagen handelt, die jeweils für sich kritisch hinterfragt und gegenüber gestellt werden können. Sie bilden – soweit sie sich im Wesentlichen entsprechen – grundsätzlich ein verlässlicheres Fundament für die Ermittlung der materiellen Wahrheit als die Aussage nur einer Beweisperson. Anlass auch für diese Konstellation dem Grundsatz der „freien“ Beweiswürdigung aus § 261 StPO grundsätzlich widersprechende Beweisregeln (vgl. BGHSt 29, 18; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 61. Aufl. § 261 Rn. 11 mwN) aufzustellen, besteht nicht.“

OWi III: Rotlichtverstoß und Beweiswürdigung, oder: Wenn der Anzeigeerstatter sich nicht mehr erinnert

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Bei der dritten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um das AG Dortmund, Urt. v. 08.10.2018 – 729 OWi-252 Js 1513/18-250/18. Sie passt ganz gut zu dem gerade vorgestellten OLG Düsseldorf, Beschl. v. 03.01.2019 – IV-1 RBs 189/18.

„In dem AG-Urteil geht es auch um den Vorwurf eines Rotlichtverstoßes. Der Bußgeldbescheid war offenbar von einem „qualifizierten Rotlichtverstoß“ ausgegangen. Den hat das AG aber nicht feststellen können. Der Betroffene hatte den Roltichtverstoß zwar eingeräumt, er hatte aber nicht sagen können, wie lange die Rotlichtzeit gedauert hatte (wie auch?). Das AG hatte den Polizeibeamten, der die Anzeige erstattet hat, als Zeugen vernommen. Seine Angaben haben dem AG dann aber nicht für eine Verurteilung wegen eines qualifizierten Verstoßes gereicht:

Das Gericht hat den Anzeige erstattenden Polizeibeamten B als Zeugen vernommen. Dieser konnte sich an den Vorfall nicht mehr erinnern. Erst nach Vorhalt des gesamten Anzeigentextes konnte der Zeuge B sich noch bruchstückhaft erinnern. Während der Betroffene meinte, das Polizeifahrzeug habe sich neben ihm befunden, übernahm der Zeuge B die Gewähr für die Richtigkeit der Angaben in seiner polizeilichen Anzeige, wonach etwa 30 Meter Abstand zwischen dem Fahrzeug des Betroffenen und dem Polizei-fahrzeug zur Zeit der Feststellung des Verstoßes gewesen seien. Ansonsten konnte sich der Zeuge B außer an die äußeren Gegebenheiten nicht mehr an den Verstoß selbst erinnern. Ihm wurde das von ihm für den Verstoß ausgefertigte Beiblatt vor-gehalten. Er bestätigte die Richtigkeit der Angaben des Beiblattes (Bl. 6 d.A.). Hieraus ergab sich, dass es sich bei der Maßnahme der Polizei nicht um eine gezielte Überwachung handelte. Der eigene Standort war mit 30 Meter hinter dem Fahrzeug angegeben. Eine Zeitmessung oder eine Angabe zur Rotlichtzeit fand sich in dem Beiblatt nicht. Zur Strecke vor der Haltelinie bis zum Überfahren des Rotlichts ist die Zahl „0“ angegeben. Dem Polizeibeamten konnte dann noch seine Vorwurfschilderung zur Konkretisierung der Tat vorgehalten werden. Dort hatte er die Tatbestandsnummer 1376018 eingetragen und die stichwortartige Konkretisierung: „Rotlicht missachtet über eine 1 Sekunde“. Der Zeuge bestätigte insoweit jedoch, dass es sich bei dieser Bezeichnung lediglich um eine Tatbezeichnung gehandelt habe, die die Tatbestandsnummer konkretisieren sollte, also letztlich nur der Sicherheit der eigenen Aufzeichnungen dient, nicht der Beschreibung der eigentlichen Tat.

Dementsprechend war der Betroffene wegen fahrlässigen Rotlichtverstoßes gemäß §§ 37 Abs. II, 49 StVO, 24 StVG zu verurteilen…..“

OWi II: Qualifizierter Rotlichtverstoß, oder: Beweiswürdigung

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Die zweite OWi-Entscheidung kommt vom OLG Düsseldorf. Es handelt sich um den OLG Düsseldorf, Beschl. v. 03.01.2019 – IV-1 RBs 189/18, den mit der Kollege Momberger aus Düsseldorf gesandt hat.

Er behandelt einen Rotlichverstoß, und zwar mehr als „1 Sekunde Roltichtzeit“. Das OLG „hält“ die Verurteilung wegen des (allgemeinen) Rotlichtverstoßes, hebt im Rechtsfolgenausspruch dann aber auf. der Betroffene sich eines – jedenfalls einfachen – Rotlichtverstoßes schuldig gemacht hat. Begründung: Einfacher Verstoß nach den Feststellungen ja, für einen qualifizierten Verstoß reicht hingegen die Beweiswürdigung nicht:

„b) Der Rechtsfolgenausspruch kann hingegen keinen Bestand haben, weil die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes – Missachten des Lichtzeichens bei schon länger als eine Sekunde dauernder Rotphase – und damit die Bemessung des Bußgeldes sowie die Festsetzung des Fahrverbots auf einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung beruht. Zwar ist die Beweiswürdigung grundsätzlich alleinige Aufgabe des Tatrichters. Die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist bzw. wenn sie gegen Denkgesetze, Gesetze der Logik oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH NStZ-RR 2000,171). Um dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung der richtigen Anwendung des sachlichen Rechts zu ermöglichen, hat sich der Tatrichter mit allen wesentlichen für und gegen den Betroffenen sprechenden Umständen auseinanderzusetzen und die Ergebnisse der Beweisaufnahme, die Grundlage der tatsächlichen Feststellungen sind, erschöpfend darzustellen und zu würdigen. Dabei muss erkennbar sein, dass die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen auf einer festen Tatsachengrundlage beruhen und sich nicht nur als bloße Vermutungen erweisen, die nicht mehr als einen Verdacht begründen.

Gemessen an diesen Grundsätzen erweist sich im vorliegenden Fall die Beweiswürdigung des Amtsgerichts zur Dauer der vorwerfbaren Rotlichtzeit jedoch als lückenhaft und widersprüchlich.

So bieten die Urteilsgründe bereits keinen Aufschluss darüber, auf welcher Grundlage der Amtsrichter zu der Überzeugung gelangt ist, dass die für den Betroffenen maßgebliche Lichtzeichenanlage im Zeitpunkt des Abbiegens nach rechts bereits „mindestens vier Sekunden“ Rotlicht gezeigt habe. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus den im Urteil wiedergegebenen Aussagen der Zeugen pp. und pp., die ohne konkrete Bezifferung lediglich bekundet haben, dass der Angeklagte die „einige“ Sekunden Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage überfahren habe.

Zudem bleibt unklar, auf welchen Bezugspunkt das Amtsgericht bei der Berechnung der vorwerfbaren Rotlichtzeit letztlich überhaupt abgestellt hat. Während sich im Feststellungsteil des Urteils lediglich Ausführungen zur Dauer der Rotphase beim Einbiegen des Betroffenen in den geschützten Kreuzungsbereich finden, knüpft der Tatrichter im Rahmen der Beweiswürdigung ausdrücklich an das Überqueren der Haltelinie an, von der zuvor noch gar keine Rede war. Insoweit bleibt schon offen, wie das Amtsgericht überhaupt die Überzeugung vom Vorhandensein einer Haltelinie gewonnen hat, denn diese findet in den mitgeteilten Bekundungen der Zeugen pp. und pp. keine Erwähnung.

Auch hat das Amtsgericht nicht in einer für den Senat nachvollziehbaren Weise dar-gelegt, wie es zu der Annahme gelangt ist, dass der Betroffene die Haltelinie bei einer Rotlichtzeit von mehr als einer Sekunde Dauer überfahren habe. Der Tatrichter stützt seine diesbezügliche Überzeugung offenbar allein auf Schlussfolgerungen, die er aus den Bekundungen der Zeugen zur Position des Betroffenen beim Umspringen der Lichtzeichenanlage auf Rotlicht sowie zu dessen anschließendem Fahrverhalten — Fahrbahnwechsel nach Anfahren fast aus dem Stand — gezogen hat. Die im Urteil mitgeteilten Begleitumstände des Verstoßes ermöglichen eine solche Schlussfolgerung jedoch nicht, weil wesentliche Anknüpfungstatsachen fehlen.

Den Urteilsfeststellungen ist lediglich zu entnehmen, dass das Fahrzeug des Betroffenen im Zeitpunkt des Phasenwechsels „mindestens drei Wagenlängen von der Kreuzung“ entfernt war. Dies bietet jedoch keinen hinreichenden Aufschluss darüber, welche Entfernung der Betroffene innerhalb der Rotlichtzeit bis zur Haltelinie zurückgelegt hat, denn es fehlen jegliche Feststellungen dazu, wieweit diese der Kreuzung vorgelagert war. Schon aus diesem Grunde vermag der Senat nicht auszuschließen, dass der Betroffene die — gegenüber dem Erreichen des Kreuzungsbereichs in jedem Falle kürzere Strecke — in weniger als einer Sekunde zurückgelegt hat, zumal er nach den Feststellungen in der Annäherungsphase sein Fahrzeug beschleunigt hat und konkrete Erkenntnisse über die gefahrene Geschwindigkeit fehlen. Im Übrigen bleibt auch von vornherein unklar, auf welcher Grundlage das Amtsgericht überhaupt eine Entfernung von „mindestens drei Wagenlängen“ festgestellt hat. In den im Urteil wiedergegebenen Bekundungen der Zeugen heißt es hierzu lediglich „einige Meter“.“

Verkehrsrecht I: Trunkenheitsfahrt, oder: Wenn im AG-Urteil aber auch gar nichts stimmt

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Heute dann mal ein wenig Verkehrsrecht. Und den Reigen eröffne ich mit dem OLG Celle, Beschl. v. 26.09.2018 – 3 Ss 25/18 -, den mir der Kollege Stahl aus Parchim geschickt hat. Er behandelt eine Verurteilung wegen einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StB) durch das AG Burgdorf, bei der aber auch gar nichts gestimmt hat. Das OLG holt zum „Rundumschlag“ aus und gibt auch einige „weiterführende Hinweise“:

„Das Urteil des Amtsgerichts ist auf die allgemeine Sachrüge hin aufzuheben. Die Feststellungen sind lückenhaft und die Beweiswürdigung des Amtsgerichts hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts, das sich unter dem um-fassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu bilden hat (§ 261 StPO). Das Revisionsgericht ist auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts mit Rechtsfehlern behaftet ist, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesicherten Erfahrungswissen nicht übereinstimmt oder sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen. (BGH, Urteil vom 12. Januar 2017 — 1 StR 360/16 —, Rn. 10, juris m.w.N.).

Gemessen an diesem Maßstab erweist sich die Beweiswürdigung des Amtsgerichts in mehreren Punkten als rechtsfehlerhaft.

1. Es bestehen bereits Widersprüche zwischen den Feststellungen und der Beweiswürdigung. Soweit das Amtsgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte gegen 3:00 Uhr im Rahmen der verfahrensgegenständlichen Fahrt öffentliche Straßen befuhr und im Rahmen der Beweiswürdigung hingegen den Rückschluss zieht, frühestens um 2:30 Uhr sei es zum Unfall gekommen, steht dieses in einem unauflösbaren Widerspruch zueinander. Wenn das Unfallereignis um 2:30 Uhr eingetreten ist, kann der Angeklagte nicht um 3:00 Uhr die Fahrt auf der angegebenen Strecke vorgenommen haben. Dieses ist insoweit auch nicht unerheblich, da der Zeitpunkt des Fahrtendes für die hier vorgenommene Rückrechnung entscheidend ist.

2. Die der Rückrechnung zugrundeliegenden Feststellungen erweisen sich – gemessen an den oben dargestellten Maßstäben — lediglich als Vermutungen.

Die Berechnung bzw. Feststellung des Alkoholisierungsgrades beruht zunächst auf der Fest-stellung, dass der Unfall um frühestens 2:30 Uhr stattgefunden hat und nicht zwischen 1:30 Uhr — 1:45 Uhr wie vom Angeklagten angegeben. Als Feststellungsgrundlagen hat das Gericht hier den Umstand, dass es sich um eine um diese Uhrzeit befahrene Straße handelt sowie das Qualmen des Motors beim Eintreffen des Zeugen herangezogen.

Das Amtsgericht teilt bereits schon nicht mit, welche indizielle Bedeutung der Umstand der Straßennutzung für die Überzeugungsbildung hatte. Auch die Feststellung des qualmenden Motors lässt einen Schluss auf den vom Gericht festgestellten Unfallzeitpunkt nicht zu. Ein Erfahrungssatz, wie lange Qualm maximal nach einem Unfall aus dem Motorraum aufsteigt, existiert nicht. Insoweit hätte festgestellt und nachvollziehbar dargelegt werden müssen, warum ein Qualmen nicht über einen längeren Zeitraum hätte erfolgen können. Dieses wäre ¬ggf. unter Beteiligung eines Sachverständigen — unter ergänzender Feststellung wesentlicher Anknüpfungstatsachen wie etwa der Grund des Qualmens aufzuklären gewesen.

3. Die Feststellungen des Amtsgerichts zu der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Angeklagten sind zudem unzureichend und halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäben ist die Annahme einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit vorliegend rechtsfehlerhaft.

Relative Fahruntüchtigkeit ist gegeben, wenn die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zur Tatzeit zwar unterhalb des Grenzwertes liegt, aber aufgrund zusätzlicher Tatsachen der Nachweis alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit geführt werden kann (BGH, Urteil vom 22. April 1982 — 4 StR 43/82 —, BGHSt 31, 42-46, Rn. 6).

Dabei sind die an eine konkrete Ausfallerscheinung zu stellenden Anforderungen umso geringer, je höher die Blutalkoholkonzentration und je ungünstiger die objektiven und subjektiven Bedingungen der Fahrt des Angeklagten sind (BGH, Urteil vorn 22. April 1982 — 4 StR 43/82 BGHSt 31, 42-46, Rn. 8). Für die Annahme alkoholbedingter Ausfallerscheinungen ist eine Gesamtwürdigung sämtlicher Tatumstände unter Einbeziehung des Unfallhergangs und von Darlegungen zu der Kausalität zwischen der festgestellten Alkoholisierung und dem Unfallereignis erforderlich (Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. August 2015 — 2 Rv 104/15 —, Rn. 9, juris). Das Amtsgericht stellt insoweit darauf ab, dass aufgrund der auf dem Lichtbild erkennbaren Fahrspuren und dem nicht geplatzten Reifen ein alkohol-bedingter Fahrfehler gegeben sei. Insoweit hätte das Amtsgericht im Hinblick auf die hier vergleichsweise geringe Alkoholisierung klären müssen, dass es sich nicht um einen Fahrfehler handelt, der auch einem nicht alkoholisierten Fahrzeugführer hätte passieren können. Das Amtsgericht hätte daher weitere Feststellungen wie etwa zum Straßenverlauf, zur gefahrenen Geschwindigkeit und zu den Lichtverhältnissen treffen müssen.

Soweit das Amtsgericht hinsichtlich der Spurenlage anhand der Inaugenscheinnahme von Lichtbildern die Überzeugung hinsichtlich eines alkoholbedingten Fahrfehlers gewinnt, genügen diese Ausführungen bereits nicht den Darstellungserfordernissen an ein Urteil.

Das Amtsgericht teilt lediglich mit, dass auch die auf den Lichtbildern erkennbaren Fahrspuren deutlich ein Schleudern des Fahrzeuges erkennen lassen. Insoweit kann der Senat nicht nachvollziehen, aufgrund welcher Fahrspuren hier ein alkoholbedingter Fahrfehler gegeben sein soll.

Auch ist es dem Senat insoweit verwehrt, selbst Einblick in Lichtbilder zu nehmen. Eine ordnungsgemäße Verweisung gern. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO enthält das Urteil nicht. Hinsichtlich der Fahrspuren führt das Amtsgericht lediglich aus, dass Lichtbilder in Augenschein genommen worden seien. Es teilt bereits nicht mit, um welche Lichtbilder es sich handelt und verweist in diesem Zusammenhang auch auf keine Lichtbilder.

Soweit das Amtsgericht unter II. des Urteils im Rahmen der Feststellungen hinsichtlich der Unfallsituation gern. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO auf die Lichtbilder BI. 125 a,b,c, verweist, ist eine Verweisung in dieser Form nicht zulässig. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO erlaubt wegen der weiteren Einzelheiten auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, zu verweisen. Die Formulierung, dass hinsichtlich der Unfallsituation Bezug genommen werde, ist indes eine pauschale Bezugnahme auf eine Gesamtsituation und nicht auf Einzelheiten. Die Schilderung des „Aus-sagegehaltes“ der Abbildung darf nicht entfallen. Zudem ist eine Beschreibung des Wesentlichen in knapper Form erforderlich (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 267, Rn. 10 m.w.N.).

4. Soweit das Amtsgericht angeführt hat, dass der Angeklagte jedenfalls bei der Entnahme der Blutprobe eine lallende Aussprache, ein schwankendes Gleichgewicht und eine verzögerte Reaktion hatte, ist nicht auszuschließen, dass diese Umstände ebenfalls für die Bewertung einer relativen Fahruntüchtigkeit herangezogen wurden. Sofern das Amtsgericht davon ausgeht, dass ein Nachtrunk in der angegebenen Höhe stattgefunden hat, kann es die im Rahmen der Blutprobe dokumentierten Ausfallerscheinungen nicht heranziehen. Diese alkoholbedingten Ausfallerscheinungen stünden dann in einem kausalen Zusammenhang mit dem erheblichen Nachtrunk.“

Die „Segelanweisungen“ dann bitte im Volltext nachlesen…..,