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StPO II: BGH-Beweiswürdigung in EncroChat-Fällen, oder: BGH-Beweiswürdigung mit DNA-Gutachten

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Und dann im zweiten Posting zwei Entscheidungen zur Beweiswürdigung.

Zunächst das BGH, Urt. v. 18.11.2024 – 5 StR 348/24. Der BGH ist bei einem Freispruch mit der Beweiswürdigung des Strafkammer betreffend Erkenntnisse aus einer EncroChat-Überwachung nicht einverstanden. Er hat daher aufgehoben und zurückverwiesen. Er beanstandet in der Entscheidung, dass „das Landgericht …. sich jedes Indiz lediglich einzeln vor Augen geführt und durch eine isolierte Abhandlung vorschnell entwertet (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2022 – 5 StR 309/22 Rn. 15 mwN) [hat]. Bedeutung erlangen Indizien aber gerade durch die Zusammenschau mit anderen Indizien und nicht nur bei gesonderter Betrachtung (vgl. BGH, Urteile vom 1. Februar 2024 – 5 StR 419/23 Rn. 19; vom 5. November 2014 – 1 StR 327/14 , NStZ-RR 2015, 83).

In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 05.06.2024 – 2 StR 397/23 – geht es noch einmal um ein DNA-Gutachten im Rahmen der Beweiswürdigung:

„a) Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten insbesondere auf die „ohne Zweifel“ dem Angeklagten „zuzurechnen(de)“ DNA-Spur gestützt, die vom rechten Schultergurt des vom Täter im Fall II. 3. der Urteilsgründe zurückgelassenen Rucksacks gesichert werden konnte. „Darüber hinaus wurde keine weitere DNA gefunden und eine andere Erklärung als die, dass der Angeklagte, der keine Handschuhe trug […], den Rucksack an dem rechten Riemen angefasst und angezogen bzw. ausgezogen hat, ist nicht ersichtlich“.

b) Die Darstellung der Ergebnisse der molekulargenetischen Gutachten entspricht nicht den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung daran stellt (vgl. nur BGH, Beschluss vom 28. August 2018 – 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187, 188 ff. mwN).

Den Urteilsgründen lässt sich schon nicht entnehmen, ob es sich bei der am rechten Schultergurt des Rucksacks gefundenen Spur um eine Einzel- oder eine Mischspur handelt. Der Umstand, dass an beiden Schultergurten auch DNA des Mitangeklagten K. gefunden wurde, deutet vielmehr darauf hin, dass es sich um eine Mischspur handelt.

Während bei Einzelspuren jedenfalls das Gutachtenergebnis in Form einer numerischen biostatistischen Wahrscheinlichkeitsaussage mitgeteilt werden muss, woran es hier fehlt, ist bei Mischspuren grundsätzlich darzulegen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer anderen Person zu erwarten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. August 2018 ? 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187, 188 f., und vom 13. Februar 2024 – 4 StR 353/23, Rn. 5, jeweils mwN). Daran fehlt es ebenfalls. Die bloße Feststellung, dass die Spur „ohne Zweifel“ dem Angeklagten zuzurechnen ist, genügt in keinem Fall.

3. Der Senat kann angesichts der begrenzten Aussagekraft der übrigen Beweisanzeichen nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht, zumal der Angeklagte in seiner in den Urteilsgründen wiedergegebenen polizeilichen Vernehmung auf Vorhalt der DNA-Analyse lediglich allgemein einen Aufenthalt beim Mitangeklagten K. als denkbare Erklärung einer (sekun-dären) Spurenverursachung eingeräumt hat, womit sich die Strafkammer im Sinne eines Alternativszenarios allerdings erkennbar nicht befasst.“

StPO I: Ohne Einlassung, Feststellungen und Beweise, oder: Setzen, ungenügend!!

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Heute ist hier ein StPO-Tag mit drei BGH-Entscheidungen.

Ich stelle zunächst das BGH, Urt. v. 11.09.2024 – 5 StR 236/24 – vor. Ergangen ist es im Sicherungsverfahren. Das LG Leipzig hat die Unterbringung des Beschuldigten im psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„Nach der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Antragsschrift der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 21. November 2022 liegt dem Beschuldigten zur Last, als Heranwachsender im Zustand der Schuldunfähigkeit in der Nacht vom 14. auf den 15. März 2020 die Tochter der Nebenkläger, Ze., getötet zu haben. Das Landgericht hat sich nicht von der Täterschaft des Beschuldigten überzeugen können und deshalb seine Unterbringung aus tatsächlichen Gründen abgelehnt.

II.

Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Revisionsführerin beanstandet zu Recht, dass das Urteil in mehrfacher Hinsicht den rechtlichen Anforderungen nicht entspricht.

1. Das Urteil teilt schon nicht mit, wie sich der Beschuldigte zur Sache eingelassen hat. Dies stellt – auch im Sicherungsverfahren – einen auf die Sachrüge hin zu beachtenden Fehler der Beweiswürdigung dar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Dezember 2020 – 4 StR 371/20, NStZ 2022, 228; vom 12. Dezember 2019 – 5 StR 444/19, NStZ 2020, 625).

2. Das Urteil enthält keinen Feststellungsteil, so dass unklar bleibt, von welchem Geschehensablauf sich das Landgericht überzeugt hat und wovon es sich nicht überzeugen konnte. Spricht das Tatgericht einen Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei, muss es regelmäßig in einer geschlossenen Darstellung die als erwiesen angesehenen Tatsachen feststellen, bevor es in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können; nur so kann das Revisionsgericht die Entscheidung auf mögliche Rechtsfehler nachprüfen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 14. April 2021 – 5 StR 102/20 Rn. 23 mwN). Nichts Anderes kann gelten, wenn das Tatgericht – wie hier – im Sicherungsverfahren die Unterbringung eines Schuldunfähigen wegen Nichterweislichkeit von Anlasstat oder Täterschaft ablehnt. Demgegenüber vermischt das landgerichtliche Urteil einzelne Feststellungen zur Sache mit einer Darstellung von Ergebnissen der Beweisaufnahme, mit deren Würdigung und mit Schilderungen zum Verfahrensgang zu einem letztlich unübersichtlichen Konglomerat. Auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe wird nicht klar, wovon sich das Landgericht überzeugt hat.

3. Schließlich werden die für eine Täterschaft des Beschuldigten sprechenden Indizien nicht in der gebotenen Gesamtschau gewürdigt, sondern lediglich einzeln abgehandelt. Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich jedoch regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb ihrer Inbezugsetzung zueinander im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 2. Februar 2022 – 2 StR 442/21, NStZ-RR 2022, 213 mwN).

4. Auf diesen Rechtsfehlern beruht das Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO). Soweit es Feststellungen enthält, waren diese schon deshalb aufzuheben, weil der Beschuldigte sie mangels Beschwer nicht angreifen konnte.“

Wenn man das liest, fragt man sich: Was machen die in Leipzig? Ist denn kein Kammermitglied da, dass die Notleine zieht und darauf hinweist, dass man so ein Urteil nicht begründen kann. In der Schule würde man sagen: Setzen sechs.

StGB III: Gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr, oder: Feststellungen und Fahrlässigkeit

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Und dann noch der OLG Köln, Beschl. v. 04.04.2024 – 1 ORs 45/24, und zwar zum gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr.

Zum Tatgeschehen hat das AG Folgendes festgestellt:

„Die Betroffene befuhr am 06.05.2022 mit einem Pkw Audi R8 mit dem amtlichen Kennzeichen pp. unter anderem den Rheinparkweg in Köln. Sie befand sich mit ihrem Ehemann auf der Rückfahrt von einem Konzert vom Tanzbrunnen. Sie fuhr das Fahrzeug nicht oft. Bei der Ausfahrt aus dem dortigen Kreisverkehr auf den Auenweg gegen 23:33 Uhr beschleunigte die Angeklagte den Pkw zu stark. Nach 300 m brach das Heck des Fahrzeugs aus und die Angeklagte verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Pkw fuhr unkontrolliert über die Gegenspur und den Gehweg. Hinter dem Gehweg befand sich, abgetrennt durch einen Gitterzaun und Sträucher, das Gleisbett des [gemeint: der] Deutschen Bahn AG. Der Pkw durchbrach den Zaun und das Gebüsch und befand sich sodann auf dem Gelände der Deutschen Bahn AG, wobei er in den Schienenverkehr hineinragte. Nachdem die Zugstrecke durch die Polizei gesperrt worden war, näherte sich gleichwohl gegen 23:44 Uhr, als sich die Polizeibeamten und der Ehemann der Angeklagten dem Fahrzeug genähert und die Papiere aus dem Handschuhfach entnommen hatten, ein ICE auf den Gleiches [wohl gemeint: „Gleisen].“ Der Zugführer übersah den dort befindlichen Pkw und touchierte die Front des Pkw mit einer Geschwindigkeit von 35-40 km/h, wodurch diese erheblich beschädigt wurde. Am ICE entstand nur ein leichter Sachschaden. Der Zusammenstoß war von dem Zugführer gar nicht bemerkt worden.“

Verurteilt worden ist wegen Verstoßes gegen § 315 Abs. 1 Nr. 2 StG. Die Sprungrevision hatte Erfolg. Dem OLG genügen die Feststellungen des AG nicht:

„a) Zunächst bestehen allerdings keine Bedenken, soweit das Amtsgericht davon ausgegangen ist, dass die Angeklagte ein Hindernis im Sinne von § 315 Abs. 1 Nr. 2 StGB bereitet hat, indem sie infolge zu starker Beschleunigung die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren hat, welches daraufhin unkontrolliert über die Gegenspur und den Gehweg fuhr, einen Gitterzaun und das Gebüsch durchbrach und sich daraufhin auf dem Gelände der Deutschen Bahn AG befand, wo es in den Schienenverkehr hineinragte.

Unter einem Hindernisbereiten ist jede Einwirkung im Verkehrsraum zu verstehen, die geeignet ist, den reibungslosen Verkehrsablauf zu hemmen oder zu verzögern (BGH NStZ-RR 2020, 183 m.w.N.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 9 m.w.N.). In Fällen, in denen ein Fahrzeug – wie hier – auf die Schienen gelangt, ist die Erfüllung dieses Tatbestandes besonders augenfällig (BGH NJW 1959, 1187).

b) Auch kann aufgrund der getroffenen Feststellungen davon ausgegangen werden, dass das Verhalten der Angeklagten zu einer Beeinträchtigung der Sicherheit des Schienenbahnverkehrs geführt hat.

Die Verkehrssicherheit ist beeinträchtigt, wenn die normale abstrakte Verkehrsgefahr gesteigert worden ist (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 13 m.w.N.). Dies ist in Anbetracht der erfolgten Kollision zwischen ICE und Pkw belegt.

c) Demgegenüber wird der Eintritt einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben anderer Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert im Urteil nicht tragfähig begründet.

Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (BGH NStZ 2022, 228; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 14). Ist ein Schaden tatsächlich eingetreten, kann die (zuvor konkret drohende) Gefahr nicht geringer, wohl aber größer gewesen sein (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16b).

Das Amtsgericht begründet die Annahme einer konkreten Gefährdung mit der Erwägung, dass ein Zusammenstoß mit einem schienengeführten Verkehrsmittel (immer) die konkrete Gefahr des Entgleisens und dadurch entstehenden ungleich größeren Schäden beinhalte.

Nach obigen Maßgaben ist ein konkreter Gefahrerfolg hierdurch nicht belegt.

Zwar mag es naheliegen, dass im Falle einer Zugentgleisung erhebliche Gefahren für die Zuginsassen und für fremde Sachen von bedeutendem Wert drohen. Fahrgäste eines Zuges sind nicht angeschnallt. Nicht selten stehen sie oder bewegen sich in den Abteilen und Gängen, so dass im Falle einer Zugentgleisung Stürze und Verletzungen zu besorgen sind (vgl. OLG Oldenburg NStZ 2005, 387 zum Fall einer erzwungenen Notbremsung eines etwa 80 km/h schnell fahrenden Eisenbahnzuges).

Jedoch muss die Annahme eines Beinahe-Unfalls in der konkreten Tatsituation nachvollzogen werden können. Hierfür genügt es nicht, auf allgemeine Gefahren von Entgleisungen abzustellen. Vielmehr hätte dargelegt werden müssen, dass in der konkreten Tatsituation die konkrete Gefahr einer Entgleisung bestand, so dass es nur noch vom Zufall abhing, ob Rechtsgüter verletzt wurden. Insoweit hätte es einer Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Einzelfalles bedurft.

Dem Urteil lässt sich hierzu lediglich entnehmen, dass der ICE mit einer Geschwindigkeit von 35-40 km/h herangenaht war und der Lokführer den Pkw übersehen haben soll. Zudem wird mitgeteilt, der Pkw habe „in den Schienenverkehr hineingeragt“. Nicht dargestellt wird jedoch, wie weit der Pkw in den Schienenverkehr hineinragte, ob also das Fahrzeug beispielsweise nur wenige Zentimeter in das Gleisbett hineinragte oder ob es sich etwa mittig auf dem Schienenkörper befand. Ohne Kenntnis der genauen Einzelfallumstände ist der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht nachzuvollziehen.

Der Gefahrerfolg lässt sich auch nicht anhand der weiteren Urteilsbegründung ableiten: Ausweislich der Urteilsgründe hat es keine Personenschäden gegeben. Am ICE soll durch den Zusammenstoß „nur leichter Sachschaden“ entstanden sein. Zwar handelt es sich bei dem ICE zweifellos um eine fremde Sache von bedeutendem Wert. Die Höhe des am ICE entstandenen Sachschadens wird indes weder beziffert noch sonst in einer Weise beschrieben, dass der Senat davon auszugehen vermag, dass an dem ICE bedeutender Schaden entstanden ist. Dass einer fremden Sache von bedeutendem Wert nur ein unbedeutender Schaden droht, reicht für die Verwirklichung des Tatbestandes nicht (BGH NJW 1990, 194f.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16b).

Hinsichtlich des von der Angeklagten gefahrenen Fahrzeugs teilt das Amtsgericht mit, dass dessen Front durch den Zusammenstoß mit dem ICE „erheblich“ beschädigt worden sei. Unabhängig von der nicht einheitlich beantworteten Frage, ob das von dem Täter selbst geführte Fahrzeug im Rahmen von § 315 Abs. 1 StGB überhaupt taugliches Gefährdungsobjekt sein kann (vgl. hierzu näher Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16; Pegel in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. § 315 Rdn. 70 ff.), teilt das angefochtene Urteil nicht mit, in wessen Eigentum der Pkw stand, so dass jedenfalls schon nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Angeklagte selbst Eigentümerin des Fahrzeugs, mithin das Fahrzeug nicht „fremd“ ist.

2. Auch die Feststellungen zur Fahrlässigkeit sind lückenhaft. Hierauf weist die Verteidigung zu Recht hin.

a) Anhand der Urteilsgründe kann zunächst allerdings nachvollzogen werden, dass die Angeklagte objektiv sorgfaltswidrig handelte, indem sie den von ihr gefahrenen Pkw, den sie nicht oft fuhr, nach der Ausfahrt aus dem Kreisverkehr „zu stark“ beschleunigte, so dass sie über diesen die Kontrolle verlor und das Fahrzeug unkontrolliert über die Gegenfahrbahn und den Gehweg bis in das Gleisbett schleuderte. Nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVO darf derjenige, der ein Fahrzeug im Straßenverkehr führt, nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Nach § 3 Abs. 1 S. 2 StVO ist die Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Hiergegen hat die Angeklagte ersichtlich verstoßen.

b) Nicht hinreichend belegt wird jedoch, dass der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges für die Angeklagte – als mit den Örtlichkeiten nicht vertraute Fahrerin – zur Tatzeit vorhersehbar gewesen ist.

Ein (objektiv) fahrlässiges Verhalten verlangt, dass der wesentliche Kausalverlauf und der eingetretene Erfolg nicht so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung liegen dürfen, dass vernünftigerweise nicht damit gerechnet werden brauchte (BGHSt 12, 75). Dabei müssen nicht alle Einzelheiten des Geschehensablaufs prognostiziert werden können; es genügt, dass der Erfolg im Endergebnis voraussehbar gewesen ist (OLG Nürnberg NStZ-RR 2006, 248).

Das Amtsgericht trifft zu dieser Frage keine ausreichenden Feststellungen.

Es beschränkt sich auf die allgemeine Erwägung, in einer Großstadt müsse stets damit gerechnet werden, dass hinter einem Zaun auch Schienen verlaufen können.

Dem vermag der Senat – in dieser Allgemeinheit – nicht zu folgen.

Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrer Vorlageverfügung zutreffend aus, dass darzulegen gewesen wäre, warum die mit den Örtlichkeiten nicht vertraute Angeklagte zur Tatzeit damit hätte rechnen müssen, bei pflichtwidriger Beschleunigung und Kontrollverlust über das schleudernde Fahrzeug in das Gleisbett der Deutschen Bahn zu gelangen und dort ein Hindernis für den Bahnverkehr zu bereiten. Hierfür hätte es näherer Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten, der Lichtverhältnisse und der Erkennbarkeit der Bahnstrecke bedurft. Ohne eine nähere Beschreibung der Tatörtlichkeit und einer Auseinandersetzung mit der Frage, was für einen Autofahrer, der die Örtlichkeiten nicht kennt, in der konkreten Tatsituation vorhersehbar gewesen ist, vermag der Senat nicht nachzuprüfen, ob das Geschehen möglicherweise so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung lag, dass ein mit den Örtlichkeiten nicht vertrauter Autofahrer vernünftigerweise nicht damit hatte rechnen müssen…..“

BGH III: Darlegungsmängel bei der Beweiswürdigung, oder: Wenn der wesentliche Inhalt der Einlassung fehlt

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Und als dritte Entscheidung stelle ich den BGH, Beschl. v. 05.12.2023 – 4 StR 421/23 – vor.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs „eines“ Kindes in 37 Fällen, verurteilt.  Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG, die weise zum Tatgeschehen weist durchgreifende Darlegungsmängel auf:

„b) Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Sachverhalt wie folgt begründet: Der Angeklagte habe die Taten so wie festgestellt gestanden. Sein Geständnis sei glaubhaft. Es stehe im Einklang mit der Zeugenaussage der Nebenklägerin. Die Feststellungen zu den Folgen der Taten für die Nebenklägerin seien anhand ihrer eigenen glaubhaften Angaben getroffen worden.

c) Diese Beweiserwägungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.

aa) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 2. März 2017 – 4 StR 397/16 Rn. 4; Urteil vom 22. November 2016 – 1 StR 329/16 Rn. 18; Urteil vom 12. Februar 2015 – 4 StR 420/14 Rn. 9; jeweils mwN). Dabei verpflichten §§ 261 und 267 StPO den Tatrichter, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19 Rn. 4 mwN). Die wesentlichen Beweiserwägungen müssen daher – über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus – in den schriftlichen Urteilsgründen so dargelegt werden, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (BGH, Urteil vom 30. März 2023 – 4 StR 234/22 Rn. 12; Beschluss vom 22. November 2022 – 2 StR 262/22 Rn. 12; Beschluss vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20).

Die sachlich-rechtliche Begründungspflicht umfasst die Verpflichtung, auch die geständige Einlassung des Angeklagten jedenfalls in ihrem wesentlichen Inhalt wiederzugeben (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 2015 – 2 StR 322/15 Rn. 6). Denn ein Geständnis enthebt das Tatgericht nicht seiner Pflicht, es einer kritischen Prüfung auf Plausibilität und Tragfähigkeit hin zu unterziehen und zu den sonstigen Beweismitteln in Beziehung zu setzen. Erforderlich ist außerdem, dass das Tatgericht in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegt und begründet, weshalb es das Geständnis für glaubhaft erachtet. Hierbei hängt das Maß der gebotenen Darlegung von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2013 – 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212 Rn. 14). Es steht – wie der weitere Aufklärungsbedarf (§ 244 Abs. 2 StPO) – in einer umgekehrten Wechselbeziehung zu der inhaltlichen Qualität des Geständnisses (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2020 – 2 StR 552/19 Rn. 20; Beschluss vom 7. November 2018 – 1 StR 143/18 Rn. 7; Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 Rn. 9 ff.; MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 267 Rn. 188 ff.; s. auch BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2023 – 2 BvR 2103/20 Rn. 49 ff.). Bei einem detaillierten Geständnis des Angeklagten können knappe Ausführungen genügen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2003 – 3 StR 368/02 Rn. 21; s. hingegen zum „Formalgeständnis“ etwa BGH, Urteil vom 26. Januar 2006 – 3 StR 415/02 Rn. 3). Decken sich die Angaben des Angeklagten mit sonstigen Beweisergebnissen und stützt der Tatrichter seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit des Geständnisses auch auf diese Beweisergebnisse, so ist er zu deren jedenfalls gedrängter Wiedergabe verpflichtet, da anderenfalls eine revisionsgerichtliche Überprüfung seiner Überzeugungsbildung nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 2015 – 2 StR 322/15 Rn. 6).

bb) Den sich hieraus ergebenden Darlegungsanforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die Strafkammer teilt schon den wesentlichen Inhalt der Einlassung des Angeklagten nicht mit, von dem die weiteren Anforderungen an die Überzeugungsbildung und deren Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen abhingen. Es bleibt unklar, ob er in eigenen Worten ein detailliertes Geständnis hinsichtlich der insgesamt 132 Taten, begangen im Zeitraum von 2011 bis 2019, abgelegt und Nachfragen beantwortet oder etwa pauschal – ggf. über eine von ihm bestätigte Verteidigererklärung – die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als zutreffend bezeichnet hat. Eine auch nur gedrängte Wiedergabe des Inhalts des Geständnisses ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die zusammenfassende Wertung, der Angeklagte habe die Taten „so wie festgestellt“ gestanden, genügt hierfür nicht. Denn sie lässt den inhaltlichen Gehalt der Einlassung selbst nicht erkennen. Auch eine (nachvollziehbare) Bewertung des Geständnisses für sich genommen enthalten die Urteilsgründe nicht.

An die weitere Überprüfung des Geständnisses sind zwar geringere Anforderungen zu stellen, wenn es mit Angaben des Tatopfers übereinstimmt und das Tatgericht diese Angaben nachvollziehbar für glaubhaft erachtet. Hieran fehlt es aber. Die Urteilsgründe teilen den wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin auch nicht gedrängt mit. Die Glaubhaftigkeit dieser Aussage wird zudem nur pauschal behauptet, vom Landgericht jedoch nicht mit beweiswürdigenden Erwägungen begründet. Dessen Überzeugungsbildung vermag der Senat daher nicht zu überprüfen.

Darüber hinaus lassen die Urteilsgründe nachvollziehbare Erwägungen vermissen, aus welchen Gründen sich die Strafkammer von den Zeitpunkten und der Anzahl der abgeurteilten Taten überzeugt hat. Die Tatzeiten sind dabei mit Blick auf das jeweilige Alter der Geschädigten für die Anwendbarkeit der von der Strafkammer herangezogenen Straftatbestände der § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 und § 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB aF entscheidend. Von dem Alter der Nebenklägerin hängt auch der Schuldspruch im Fall 131 der Urteilsgründe ab, in dem das Landgericht neben einer Vergewaltigung tateinheitlich den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern bejaht hat. Zu näheren Beweiserwägungen hierzu musste sich das Landgericht mit Blick auf die Vielzahl und Komplexität der Tatvorwürfe und das naheliegend nur noch eingeschränkte Erinnerungsvermögen des geständigen Angeklagten an Einzelheiten des Tatgeschehens gedrängt sehen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 2 StR 53/22 Rn. 11; Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 Rn. 9 mwN). Nach den Feststellungen beging er eine Vielzahl der abgeurteilten Taten serienhaft und vor langer Zeit. Zusätzlich überlagerten sich verschiedene sexuelle Handlungen (Berührungen, Oralverkehr) in zeitlicher Hinsicht. Ist – wie hier – eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingegrenzt hat und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten in diesem Zeitraum gründet (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 2022 – 3 StR 74/21 Rn. 13; Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 166/01 Rn. 7). Hieran fehlt es. Das Landgericht hätte näher darlegen müssen, aufgrund welcher Beweisumstände es von den festgestellten Tatzeiträumen und der in den Fällen 1-93 und 95-130 abgeurteilten Mindestanzahl von Taten überzeugt war. Zugleich hätte die Strafkammer auf diesem Hintergrund ihre Beweiserwägungen darstellen müssen, die die Einbettung der Einzelfälle 94, 131 und 132 in das Gesamtgeschehen und damit das hier jeweils festgestellte Alter der Nebenklägerin tragen.“

Ich verstehe es nicht. Wenn ich schon lese: „Die Strafkammer teilt schon den wesentlichen Inhalt der Einlassung des Angeklagten nicht mit, von dem die weiteren Anforderungen an die Überzeugungsbildung und deren Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen abhingen.“ Und das bei einer großen Strafkammer. Da sollte man doch davon ausgehen können, dass zumindest der Vorsitzende weiß, wie man eine vernünftige Beweiswürdigung macht. Offenbar ist das aber nicht der Fall. Zumindest hier nicht…..

Alkohol III: Nachtrunkbehauptung im Verkehrsrecht, oder: Wenn Eheleute sich streiten

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Und dann noch aus dem Verkehrecht der LG Itzehoe, Beschl. v. 19.02.2024 – 14 Qs 9/24. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen Verdachts der Trunkenheit im Verkehr im Verfahren wegen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis.

Zugrunde liegt eine in der Praxis ja nicht seltene Konstellation. Eheleute trinken gemeinsam Alkohol, man streitet sich, die Ehefrau nimmt die Kinder und fährt zu einer Freundin. Der Ehemann ruft die Polizei an und teilt mir, dass seine Ehefrau alkoholisiert unterwegs ist/war. Die Polizei trifft die Ehefrau bei der Freundin an und es wird eine Blutentnahme angeordnet. Das Ergebnis  der Blutprobe würde dann „reichen“. Aber es kommt die Einlassung: Bei der Freundin ist es zu einem Nachtrunk gekommen. Und die hatte hier zumindest vorläufig Erfolg. Denn das LG hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) aufgehoben:

„Vorliegend kann nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen zwar angenommen werden, dass die Beschwerdeführerin am 12.11.2023 gegen 21:14 Uhr in Lutzhorn das Kraftfahrzeug Mercedes-Benz mit dem amtlichen Kennzeichen pp. nach dem vorherigen Genuss alkoholischer Getränke geführt hat – es kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen indes nicht mit der erforderlichen großen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass sie zum Zeitpunkt der Fahrt auch eine Butalkoholkonzentration von mindestens 1,1 °/00 aufwies.

Der dahingehende Tatverdacht beruht derzeit ausschließlich auf der Aussage des Ehemannes der Beschuldigten gegenüber der Polizei, welcher am Tattag um 21:05 Uhr die Dienststelle in Elmshorn kontaktierte und angab, seine Ehefrau habe sich nach einem Streit stark alkoholisiert und schwankend mit dem Fahrzeug entfernt, sowie den damit korrespondierenden Angaben der Zeugen PK pp. und POM pp., welche die Beschuldigte am Tattag um 22:34 Uhr an der antrafen und einen Atemalkoholgeruch feststellten sowie den Analyseergebnissen der um 23:42 Uhr und 00:12 Uhr bei der Beschwerdeführerin entnommenen Blutproben, die einen BAK-Wert von 1,85 und 1,72 °/00 aufwiesen.

Diese Beweismittel sind jedoch nicht ohne weiteres geeignet, den dringenden Tatverdacht einer Trunkenheitsfahrt gern. § 316 Abs. 1, 2 StGB zu begründen, denn der unmittelbare Schluss, dass die Beschwerdeführerin bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der Autofahrt eine Blutalkoholkonzentration von über 1,1 °/00 aufwies, kann daraus nicht gezogen werden.

a) Die Beschwerdeführerin selbst hat den Tatvorwurf bestritten und sich gegenüber den Polizei-beamten zuletzt dahingehend eingelassen, sie habe vor Fahrtantritt zwischen 17:00 Uhr und 20:00 Uhr in einem Restaurant 0,5 I Bier und drei bis vier 2 cl Gläser Ouzo getrunken – größere Mengen Alkohol, nämlich 0,33 I Bier und etwa 15 cl Ouzo, habe sie hingegen erst nach Fahrtende bei ihrer Freundin, der Zeugin pp. konsumiert. Diese Einlassung, nach der sich die Beschwerdeführerin während der Autofahrt allenfalls im Zustand relativer Fahruntüchtigkeit befunden hat, wird sich nicht ohne Weiteres widerlegen lassen.

Der Ehemann der Beschuldigten, der bisher keine Angaben zur Trinkmenge der Beschuldigten gemacht hat, gibt nunmehr an, diese habe vor Fahrtantritt in einem Restaurant zwei Bier und drei bis vier Ouzo getrunken, er habe die Polizei lediglich aus Verärgerung und Wut nach der Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau gerufen. Die Zeugin pp. hat darüber hinaus an Eides statt versichert, die Beschwerdeführerin habe nach ihrer Ankunft bei ihr gegen 21:00 Uhr bis 22:00 Uhr ein Bier getrunken und den Großteil einer Ouzo-Flasche geleert. Diese Aussagen stützen die Einlassung der Beschwerdeführerin und sind nicht geeignet, den gegen sie erhobenen Vorwurf der Trunkenheitsfahrt im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit zu begründen.

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass das Aussageverhalten der Zeugen und die Einlassung der Beschuldigten inkonsistent sind und es sich auch um nachträglich abgesprochene Aussage handeln kann. So gab die Beschuldigte selbst zunächst an, sie habe nach der Fahrt in ihrem Fahrzeug Alkohol konsumiert, wenig später korrigierte sie die Aussage dahingehend, sie habe nach Fahrtende mit ihrer Freundin drei bis vier Bier getrunken und nach Durchführung des Atemalkoholtests gab sie schließlich an, gegen 17:30 Uhr zwei Weißweinschorlen und einen Ouzo und gegen 21:15 Uhr bei Frau pp. zwei bis drei Bier getrunken zu haben. Auch wirft es jedenfalls Fragen auf, dass die Zeugin pp.  gegenüber der Polizei zunächst angegeben haben soll, dass beide Frauen bei ihr keinen Alkohol konsumiert hätten. Sofern sie nunmehr behauptet, sie habe die Frage nach etwaigem Alkoholkonsum lediglich auf sich bezogen beantwortet, da es darum gegangen sei, die Beschwerdeführerin im Verlaufe der Nacht mit dem Fahrzeug von der Wache abzuholen, muss der Wahrheitsgehalt dieser Aussage ggf. nach Anhörung der Vernehmungsbeamten ermittelt werden. Die Kammer hält die Frage nach einer (ausschließlichen) Alkoholisierung der Zeugin im Rahmen der gegen die Beschwerdeführerin geführten Ermittlungen wegen einer Trunkenheitsfahrt für wenig wahrscheinlich; es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Niederschrift der Aussage der Zeugin pp. nicht von den vernehmenden Beamten (PKW POM pp. ) selbst, sondern von dem Zeugen POMA pp. gefertigt worden ist.

In diesem Zusammenhang muss auch berücksichtigt werden, dass der Ehemann der Beschuldigten die erste Aussage gegenüber der Polizei im Streit mit der Beschwerdeführerin getätigt hat, was eine kritische Würdigung der Aussage erfordert, da eine Belastungstendenz und eine etwaige Dramatisierung der Umstände jedenfalls nicht fernliegend erscheint. Für letzteres würde auch sprechen, dass er gegenüber der Polizei zunächst angab, die Beschwerdeführerin habe einen schwankenden Gang aufgewiesen, wohingegen die Polizeibeamten PK pp. und POM pp. bei der Beschwerdeführerin keinerlei Ausfallerscheinungen feststellen konnten.

Letztlich sind die Unstimmigkeiten innerhalb der Aussagen allenfalls geeignet einen hinreichenden Tatverdacht einer Trunkenheitsfahrt gem. § 203 StPO zu begründen, es kann indes nicht mit der notwendigen hohen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Beschwerdeführerin diese Tat auch begangen hat.

b) Auch die Ergebnisse der doppelten Blutprobenentnahme sind nicht geeignet, die Nachtrunkbehauptung der Beschwerdeführerin zu widerlegen.

Ein Rückschluss von einer gemessenen Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Blutentnahme auf die relevante Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Fahrt ist grundsätzlich dann möglich, wenn in der dazwischenliegenden Zeit ein regelhafter Verlauf der Blutalkoholkurve unterstellt werden kann; Nachtrunkeinlassungen erschweren diesen Rückschluss zugunsten des Beschuldigten (LG Oldenburg, Beschluss vom 24. Mai 2022 – 4 Qs 155/22 m.w.N.). In geeigneten Fällen kann eine Nachtrunkbehauptung jedoch durch die Ergebnisse einer Doppelblutentnahme widerlegt werden. Dem liegt zugrunde, dass die Zeitspanne während welcher die Blutalkoholkonzentration nach dem letzten Alkoholkonsum bis zur Erreichung ihres Maximums steigt – die sog. Anflutungsphase – im Regelfall etwa 30 Minuten bis zu zwei Stunden beträgt, wenngleich sie im Einzelfall von Person zu Person variiert (LG Oldenburg, Beschluss vom 24. Mai 2022 – 4 Qs 14 Qs 9/24 m.w.N.). In dieser Phase ist mithin mit steigenden Blutalkoholkonzentrationswerten zu rechnen, sodass in Fällen, in denen die Analysen einer ersten, in zeitlich engem Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Tatgeschehen entnommenen Blutprobe, und einer zweiten, im Abstand von 30 Minuten entnommenen Blutprobe, eine sinkende Blutalkoholkonzentration ergibt, die Nachtrunkbehauptung in der Regel als widerlegt angesehen werden kann (vgl. a.a.O.). Für einen solchen Rückschluss muss die Entnahme der ersten Blutprobe allerdings spätestens 45 Minuten nach Trinkende erfolgen (zu den weiteren Voraussetzungen vgl. ausführlich a.a.O. m.w.N.). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt, denn das Blut für die erste Blutprobe zur Bestimmung der Blutalkoholkonzentration wurde der Beschwerdeführerin erst um 23:42 Uhr entnommen – und mithin knapp 1,5 Stunden nach dem behaupteten Trinkende um 22:15 Uhr. In diesem Fall verbietet sich der Rückschluss, dass die sinkenden Werte belegen, dass die Nachtrunkbehauptung unwahr ist, da auch im Falle des Nachtrunks die Anflutungsphase zum Zeitpunkt der zweiten Blutprobenentnahme bereits beendet wäre und die „Abbauphase“ begonnen hätte.

Der Nachweis einer absoluten Fahruntüchtigkeit zum maßgeblichen Zeitpunkt der Fahrt lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit führen.“

Schon erstaunlich, dass das LG die verschiedenen, sich teilweise widersprechenden Aussagen nicht einfach mit „unglaubhaft“ abgetan hat. Man darf gespannt sein, wie das AG damit umgeht.

Und: die erwähnte Entscheidung des LG Oldenburg hatte ich hier übrigens auch vorgestellt, und zwar hier.