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Beweisrecht II: Beweisantrag „ins Blaue hinein“, oder: Achtung, wichtige Entscheidung zum neuen Recht!!

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Bei der zweiten Entscheidung des Tages, dem BGH, Beschl. v. 16.03.2021 – 5 StR 35/21 – handelt es sich um die m.E. erste Entscheidung des BGH zum neuen Recht des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO. Es geht nämlich um die Frage der „Ernsthaftigkeit“ des Beweisbegehrens. Stichwort auch: Antrag aufs Geratewohl oder „ins Blaue“. Der BGH hält insoweit an der früheren Rechtsprechung zu dieser Frage fest.

Der Entscheidung lag folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

„a) Der Verteidiger des Angeklagten hat am 6. August 2020 (dem 19. von 22 Hauptverhandlungstagen der seit Dezember 2019 laufenden Hauptverhandlung) beantragt, den Zeugen G. zum Beweis der Tatsache zu hören, dass der Angeklagte diesen am 23. Oktober 2018 gegen 22 Uhr in H. getroffen, sich kurz mit ihm unterhalten und ihm von einer Tankstelle eine Schachtel Zigaretten und Kekse bzw. Zwieback nebst Kassenbon mitgebracht habe. Der Zeuge G. führe eine Art Kassenbuch bzw. sammele Kassenbons, weshalb er diesen Einkauf nachvollziehen könne. Ziel des Antrags war, den Angeklagten wegen dieses Alibis als Mittäter zweier Überfälle am 23. Oktober 2018 gegen 22 Uhr in M. und gegen 23 Uhr in N. (Taten 2 und 3) auszuschließen.

Das Landgericht hat den Antrag mit am nächsten Hauptverhandlungstag verkündeten Beschluss abgelehnt. Es handele sich lediglich um einen nach Amtsermittlungsgrundsätzen zu behandelnden Beweisermittlungsantrag, weil die Beweistatsache „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ behauptet werde. Der Einkauf an einer Tankstelle sei belanglos und kaum markant. Eine Zuordnung zu einem konkreten Datum aus der Erinnerung sei nach fast zwei Jahren weder dem Angeklagten noch dem Zeugen möglich. Hätte der seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte eine nachvollziehbare Erinnerung an das nunmehr behauptete Alibi gehabt, wäre seine geständige Einlassung vom 7. Hauptverhandlungstag, die er am 10. Hauptverhandlungstag widerrufen habe, nicht erklärbar, weil er dort nicht nur die Fahrten zu den einzelnen Tatorten, sondern auch Einzelheiten der jeweiligen Tatabläufe geschildert habe. Gegen eine – im Beweisantrag behauptete – reale Erinnerung des Angeklagten an das unter Beweis gestellte Geschehen sprächen auch das späte Vorbringen und der bisherige Verlauf der Beweisaufnahme zu konkreten Alibibehauptungen bezüglich zweier anderer Tatzeitpunkte (Taten 1 und 4); die von ihm jeweils dazu benannten drei Zeugen hätten die Alibibehauptungen nicht bestätigen oder sich nicht erinnern können. Zur Erforschung der Wahrheit sei die Beweiserhebung von Amts wegen (§ 244 Abs. 2 StPO) nicht geboten.“

Dazu der BGH:

„b) Die Begründung, mit der das Landgericht den auf Beweiserhebung gerichteten Antrag als Beweisermittlungsantrag und nicht als Beweisantrag behandelt hat, stellt sich im Ergebnis als zutreffend dar. Zwar ergibt sich – anders als der Generalbundesanwalt meint – schon aus dem Antrag selbst durch Schilderung der Wahrnehmungssituation, dass der Zeuge zu der unter Beweis gestellten Tatsache aufgrund eigenen Erlebens Angaben machen können soll (sogenannte „Konnexität“ zwischen Beweistatsache und Beweismittel; vgl. § 244 Abs. 3 Satz 1 a.E. StPO; hierzu näher BGH, Urteil vom 28. November 1997 – 3 StR 114/97, BGHSt 43, 321, 329 f.; Beschluss vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011, 169, 170; Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 244 Rn. 21a ff. mwN). Die Wertung des Landgerichts, der Antrag sei nur „ins Blaue hinein“ und „aufs Geratewohl“, also nicht ernsthaft gestellt und deshalb kein Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO, erweist sich aber als rechtsfehlerfrei.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt ein auf Beweiserhebung gerichteter Antrag keinen Beweisantrag im Rechtssinne dar, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung lediglich „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ aufgestellt wird, so dass es sich nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. März 1989 – 3 StR 486/88, NStZ 1989, 334; vom 10. April 1992 – 3 StR 388/91, NStZ 1992, 397; vom 10. November 1992 – 5 StR 474/92, NStZ 1993, 143; vom 5. Februar 2002 – 3 StR 482/01, NStZ 2002, 383; vom 7. November 2002 – 3 StR 216/02, NStZ 2004, 51; vom 5. März 2003 – 2 StR 405/02, NStZ 2003, 497; vom 4. April 2006 – 4 StR 30/06, NStZ 2006, 405; vom 12. März 2008 – 2 StR 549/07, NStZ 2008, 474; vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011, 169; vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, NStZ 2013, 476; vom 6. April 2018 – 1 StR 88/18, StraFo 2018, 433, 434; Urteile vom 6. Dezember 1983 – 5 StR 677/83, StV 1985, 311; vom 12. Juni 1997 – 5 StR 58/97, NJW 1997, 2762, 2764; vom 2. Februar 1999 – 1 StR 590/98, NStZ 1999, 312; vom 14. April 1999 – 3 StR 22/99, NJW 1999, 2683, 2684; vom 13. Juni 2007 – 4 StR 100/07, NStZ 2008, 52; vom 4. Dezember 2008 – 1 StR 327/08, NStZ 2009, 226; vom 11. April 2013 – 2 StR 504/12, NStZ 2013, 536, 537; vgl. auch KG, StV 2015, 103; NStZ 2015, 419; OLG Köln, NStZ 2008, 584; OLG Bamberg, NStZ 2018, 235; BVerwG, NVwZ 2017, 1388).

Trotz der von weiten Teilen der Literatur (vgl. nur Löwe/Rosenberg/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 109 ff.; KK-StPO/Krehl, 8. Aufl., § 244 Rn. 73; MükoStPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn. 128 ff.; SK-StPO/Frister, StPO, 5. Aufl., § 244 Rn. 50; Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl., S. 84 f.; Schneider, NStZ 2012, 169, 170) und auch Teilen der Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. September 2007 – 3 StR 354/07, StV 2008, 9; vom 20. Juli 2010 – 3 StR 218/10, StraFo 2010, 466; vom 27. September 2011 – 3 StR 296/11; vgl. auch BGH, Beschluss vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011, 169, 170) an dieser Rechtsfigur bereits zuvor geübten gewichtigen Kritik und ungeachtet der während des Gesetzgebungsverfahrens (vgl. Schneider, ZRP 2019, 126, 128 f.) und im Rahmen der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Bundestages insoweit geäußerten Bedenken (vgl. Mosbacher, Stellungnahme S. 8, abrufbar unter https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen/stellungnahmen-665734; vgl. dagegen BT-Drucks. 19/15161 S.11) hat der Gesetzgeber bei der Neuregelung des Beweisantragsrechts durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2121) ausdrücklich an der bisherigen Rechtsauffassung festhalten wollen. In der Gesetzesbegründung zur Neufassung von § 244 Abs. 3 StPO heißt es: „Ferner sollen Beweisbehauptungen ‚aufs Geratewohl‘ oder ‚ins Blaue hinein‘, denen es an der gebotenen Ernsthaftigkeit des Verlangens mangelt, von den Gerichten nach § 244 Absatz 3 Satz 1 StPO-E nicht als Beweisanträge behandelt werden müssen“ (BT-Drucks. 19/14747 S. 34). Seinen objektiven Ausdruck hat dieser gesetzgeberische Wille in dem Definitionsmerkmal „ernsthaft“ in § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO gefunden (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2020 – 3 StR 291/20, NStZ-RR 2021, 57; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn. 21d). Diese ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung (vgl. aber auch Claus, NStZ 2020, 57, 60; Schäuble, NStZ 2020, 377, 381) ist ungeachtet des Umstandes hinzunehmen, dass sich dadurch ein systematisch schwer auflösbarer Widerspruch zur Neuregelung in § 244 Abs. 6 Satz 2 StPO ergibt (näher Güntge, StraFo 2021, 92, 98; Schäuble, NStZ 2020, 377, 381 f.; zur Problematik auch Börner, NStZ 2020, 460; Claus, aaO, S. 60; vgl. bereits BGH, Beschluss vom 19. September 2007 – 3 StR 354/07, StV 2008, 9).

Weil sich weder aus dem Gesetzestext noch aus der Gesetzesbegründung ergibt, dass der Gesetzgeber die bisher von der Rechtsprechung gestellten strengen Anforderungen in diesen Fällen ändern wollte, gelten diese wie zuvor. Die Frage, ob ein „aufs Geratewohl“ gestellter Antrag vorliegt, beurteilt sich danach aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, NStZ 2013, 476 mwN). Es kommt dagegen nicht darauf an, ob das Tatgericht eine beantragte Beweiserhebung für erforderlich hält (vgl. BGH, Urteil vom 11. April 2013 – 2 StR 504/12, NStZ 2013, 536, 537 mwN). Es ist dem Antragsteller grundsätzlich nicht verwehrt, auch solche Tatsachen zum Gegenstand eines Beweisantrags zu machen, deren Richtigkeit er lediglich vermutet oder für möglich hält (vgl. BGH, jeweils aaO, mwN). Nicht ausreichend für die Einordnung als Beweisermittlungsantrag ist zudem, dass die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisbehauptung ergeben hat oder dass die unter Beweis gestellte Tatsache objektiv ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheint oder eine andere Möglichkeit nähergelegen hätte (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, aaO, mwN). Weil die Herabstufung eines ansonsten formgerechten Beweisantrags zu einem bloß unter Aufklärungsgesichtspunkten beachtlichen Beweisermittlungsantrag (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 1992 – 5 StR 474/92, NStZ 1993, 143, 144 mwN) regelmäßig in ein Spannungsverhältnis zu den notwendig starken Beweisteilhaberechten der Verfahrensbeteiligten und dem das Beweisantragsrecht prägenden Verbot der Beweisantizipation gerät (näher Schäuble, NStZ 2020, 377, 381), ist bei der Ablehnung derartiger Anträge mangels Ernsthaftigkeit – wie die bisherige Rechtsprechung zeigt – äußerste Zurückhaltung geboten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 21e). Die Ablehnung eines Beweisantrags als „ins Blaue hinein” oder „aufs Geratewohl” gestellt wird demnach nur ausnahmsweise in Betracht kommen und erfordert einen hohen argumentativen Aufwand des Tatrichters, der nicht durch die bloße Behauptung, er sei davon überzeugt, dass die Beweisbehauptung aus der Luft gegriffen worden sei, ersetzt werden kann (BGH, Beschluss vom 7. November 2002 – 3 StR 216/02, NStZ 2004, 51).

Ob es dem Antrag an der notwendigen Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens mangelt, lässt sich regelmäßig nur aus einer Gesamtschau aller insoweit relevanten Faktoren ableiten. Dabei können der Inhalt des Beweisbegehrens, die bisherige Beweissituation und das bisherige Prozessverhalten des Antragstellers berücksichtigt werden. Ein tragfähiges Indiz für den Mangel an Ernsthaftigkeit kann etwa sein, dass eine Mehrzahl neutraler Zeugen eine Tatsache übereinstimmend bekundet hat und ohne Beleg für entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte das Gegenteil in das Wissen eines weiteren, völlig neu benannten Zeugen gestellt wird, dessen Zuverlässigkeit offensichtlichen Zweifeln begegnet (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 1997 – 5 StR 58/97, NJW 1997, 2762, 2764; Beschluss vom 5. Februar 2002 – 3 StR 482/01, NStZ 2002, 383). Erforderlich ist, dass sich die Bestätigung der Beweisbehauptung nach dem Verlauf der bereits durchgeführten Beweisaufnahme als offensichtlich unwahrscheinlich darstellt (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, NStZ 2013, 476, 478).

Eine solche Ablehnung mangels Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens bedarf einer begründeten Entscheidung durch den Vorsitzenden oder das Gericht, aus der sich die hierfür wesentlichen Gründe in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Form ergeben. Zudem kann es erforderlich sein, den Antragsteller zuvor zu seinen Wissensquellen oder den Gründen seiner Vermutung zu befragen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1983 – 5 StR 677/83, StV 1985, 311; KG, NStZ 2015, 419, 421; OLG Köln, NStZ 2008, 584; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 21g); eine Rüge mit dieser Angriffsrichtung ist vorliegend nicht erhoben.

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Ablehnung des auf Vernehmung des Zeugen G. gerichteten Antrags revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat in seinem ablehnenden Beschluss mit mehreren Argumenten seine Einschätzung belegt, der Antrag sei nicht ernstlich gemeint, sondern lediglich „ins Blaue hinein“ und „aufs Geratewohl“ gestellt. Dabei durfte es namentlich auf die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme (glaubhaftes, allerdings widerrufenes Teilgeständnis des Angeklagten zu seiner Anwesenheit an den Tatorten; Scheitern anderweitiger Alibibehauptungen bei drei von ihm benannten Zeugen), sein Prozessverhalten (erst Teilgeständnis, dann Widerruf; trotz eineinhalb Jahren Untersuchungshaft und mehrfacher vorheriger Einlassung Präsentation eines Alibizeugen erst am 19. Hauptverhandlungstag) und die auf der Hand liegenden Zweifel an einer Erinnerung des fast zwei Jahre zurückliegenden Alltagsvorgangs verweisen. Dass sich das Landgericht in seinem Ablehnungsbeschluss nicht ausdrücklich auch noch mit der für sich gesehen bereits unwahrscheinlichen Behauptung der Aufbewahrung eines diesbezüglichen Kassenbons durch den Zeugen über fast zwei Jahre beschäftigt hat, bleibt demgegenüber ohne Belang. Weder die Begründung des Landgerichts noch das nur eingeschränkt überprüfbare Ergebnis seiner Bewertung lassen Rechtsfehler erkennen.“

Sorry, war ein bisschen mehr Text. Aber ist m.E. ja auch eine wichtige Entscheidung

Beweisrecht I: Aufbereitung von Videosequenzen, oder: Vorsorglicher Beweisantrag

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Heute dann ein wenig Beweisrecht, also § 244 StPO und drumherum.

Als erstes hier der BGH, Beschl. v. 17.03.2021 – 4 StR 540/20- in dem der BGH „ergänzend bemerkt“ hat:

„1. Die Rügen, das Landgericht habe bei der Ablehnung der Anträge auf Aufbereitung von Videosequenzen nebst Herstellung von Einzelbildern gegen Verfahrensrecht verstoßen, haben keinen Erfolg. Bei diesen Anträgen handelte es sich nicht um Beweisanträge im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO, sondern um nach Maßgabe der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zu beurteilende Beweisermittlungsanträge. Denn es wurde darin kein bestimmtes Beweismittel bezeichnet (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 8. Juli 2014 – 3 StR 240/14, NStZ 2015, 295). Vielmehr zielten die Anträge darauf ab, bis dahin noch nicht vorhandene Augenscheinsobjekte herzustellen, von denen dann (gegebenenfalls) einzelne als konkrete Beweismittel in Betracht kommen sollten (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli 1997 – 3 StR 71/97, NStZ 1997, 562 [zur Beiziehung von Krankenunterlagen]). Eine Verletzung der Aufklärungspflicht ist nicht dargetan.

2. Soweit die Revision geltend macht, die Strafkammer habe die Vorschrift des § 244 Abs. 6 StPO verletzt, weil sie Anträge auf Vernehmung des Polizeibeamten PK N. zu Angaben der Zeugin S. bei ihrer polizeilichen Vernehmung nicht beschieden habe, entspricht das Vorbringen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO. Die Anträge wurden „vorsorglich“ gestellt. Die Revision hätte daher vortragen müssen, unter welcher Bedingung die Antragstellung erfolgte und warum diese Bedingung eingetreten ist, sodass ihre Ablehnung nur durch einen Beschluss unter den Voraussetzungen des § 244 Abs. 3 StPO erfolgen durfte (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 1998 ? 1 StR 418/98, NStZ-RR 1999, 1, 3 bei Miebach/Sander; siehe dazu auch BGH, Beschluss vom 23. Juli 2013 – 3 StR 118/13, NStZ-RR 2013, 349). Zudem wird nicht mitgeteilt, ob die Vernehmungsinhalte auf andere Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Eine zulässige Aufklärungsrüge ist nicht erhoben.“

StPO I: Beweisantrag, oder: Die nicht „offensichtlich ins Blaue gestellte“ Beweisbehauptung

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Heute dann mal ein wenig StPO.

Und ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 3 StR 291/20. Das LG Wuppertal hat den Angeklagten u.a. wegen Vergewaltigung in fünf Fällen verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die mit der Verfahrensrüge Erfolg hatte:

„1. Die zulässige Rüge, mit welcher der Angeklagte die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags geltend macht, dringt durch.

a) Dem liegt Folgendes zugrunde:

Die Strafkammer hat den Angeklagten wegen insgesamt sieben Taten zu Lasten seiner Ehefrau verurteilt, darunter ein am 10. Dezember 2016 begangener sexueller Übergriff. Das Landgericht hat sich dabei vor allem auf die Angaben der Geschädigten gestützt, da der Angeklagte das Geschehen abgestritten und sich unter anderem eingelassen hat, am Wochenende des 10. und 11. Dezember 2016 bei einer Verlobungsfeier in P. gewesen zu sein. Nachdem die Strafkam- mer dazu einen von den Verteidigern benannten Zeugen aus F. vernom- men und die Vernehmung zweier weiterer Zeugen wegen Unerreichbarkeit abgelehnt hatte, haben die Verteidiger die Vernehmung eines als ehemaligen Lehrer des Angeklagten bezeichneten und namentlich mit Anschrift benannten Zeugen aus T. beantragt.

Der Antrag hat zum Gegenstand, dass der Angeklagte sich vom 9. bis 11. Dezember 2016 in P. befunden und an einer Verlobungsfeier teilgenommen habe, der Zeuge bei diesem Fest den Angeklagten zeigende Fotos gemacht habe, er zur Übergabe der Bilder bereit sei und sich aus diesen das Aufnahmedatum ergebe. Das Landgericht hat den Antrag und weitere Anträge mit der Begründung abgelehnt, es handele sich lediglich .um solche zur Beweisausforschung, mit denen erst brauchbares Verteidigungsmittel aufgefunden werden soll“; die Aufklärungspflicht gebiete nicht, dem nachzukommen. Die Behauptungen zu gefertigten Fotos und zur Übergabebereitschaft der Zeugen seien „offensichtlich ins Blaue gestellt worden“, da die Verteidigung ihre zugrundeliegenden Erkenntnisse nicht darlege. Soweit alle zurückgewiesenen Anträge das Ziel verfolgten, die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin in Frage zu stellen, seien sie bei vorläufiger Würdigung selbst im Falle des Erwiesenseins aller in ihnen aufgestellten Behauptungen nicht geeignet, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin und der Glaubhaftigkeit ihrer Bekundungen zu wecken.

b) Diese Begründung trägt die Ablehnung des Antrags nicht. Sie schöpft den Inhalt des Antrages nicht aus (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 24. Juni 2008 – 3 StR 179/08, NStZ 2008, 707; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn. 87) und benennt hinsichtlich der Alibibehauptung keinen Ablehnungsgrund nach § 244 Abs. 3 Satz 2 und 3, Abs. 5 Satz 2 StPO.

Auf das Vorbringen, dass der Angeklagte sich vom 9. bis 11. Dezember 2016 in P. befunden und an einer Verlobungsfeier teilgenommen habe, ist die Strafkammer in dem Beschluss nicht eingegangen, sondern lediglich auf die weiteren Behauptungen, der Zeuge habe Fotos aufgenommen, der Angeklagte sei darauf zu erkennen und der Zeuge zur Übergabe der Bilder bereit. In Bezug auf den unter Beweis gestellten Aufenthalt in P. ist die Bewertung des Landge- richts nicht nachvollziehbar, der Antrag habe allein eine Beweisausforschung zum Gegenstand. Bei dem nicht in den Blick genommenen Vorbringen handelt es sich nach den weiteren Umständen um eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO nF, welche die Schuldfrage betrifft (vgl. zum Alibibeweis BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18, StraFo 2018, 522, 523). Zudem ist mit dem benannten Zeugen ein Beweismittel bestimmt bezeichnet worden und dem Antrag zu entnehmen, weshalb der Zeuge die behauptete Tatsache belegen können soll; er soll laut Beweisantrag selbst an der Feier teilgenommen haben. Schließlich fehlt eine Grundlage für die Annahme, die Beweisaufnahme sei insoweit nicht gemäß § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO ernsthaft verlangt (s. zu „ins Blaue gestellten“ Anträgen BT-Drucks. 19/14747 S. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn. 21d ff.; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 110 ff.).

Dem Beschluss des Landgerichts ist auch im Gesamtzusammenhang kein Grund zu entnehmen, aus dem der Beweisantrag in gesetzlich zulässiger Weise abgelehnt worden ist. Ungeachtet der Tatsache, dass ein solcher nicht genannt wird, trifft die zusammenfassende Erwägung nicht zu, dass die Beweisbehauptung selbst im Falle des Erwiesenseins nicht zu Zweifeln an der Aussage der Geschädigten führen könne. Stünde nämlich die Anwesenheit des Angeklagten zur Tatzeit in P. fest, hätte er nicht zugleich die Tat in Deutschland begehen können.“

OWi II: Ablehnung eines Beweisantrages ohne Begründung, oder: Das geht auch in Bayern nicht

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Die zweite Entscheidung kommt aus Bayern, und zwar vom BayObLG. Dort hatte der Betroffene gegen seineVerurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung geltend gemacht, dass das AG einen Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens ohne Begründung abgelehnt hat. Die GStA fand das wohl nicht so schlimm und hatte beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet zu verwerfen. Das BayObLG meint hingegen im BayObLG, Beschl. v. 04.12.2020 – 201 ObOWi 1471/20 -, dass das selbst in bayern 🙂 nicht geht:

„1. Der Verfahrensrüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Verteidiger beantragte in der Hauptverhandlung vom 17.07.2020 nach Angaben des Verteidigers zur Fahrereigenschaft sowie Vernehmung des Messbeamten als Zeugen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die vorliegende Messung nicht den Vorgaben der Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts ESO 3.0 genügt und daher nicht verwertbar ist. Das Fahrzeug des Betroffenen habe sich fast die ganze Fahrzeuglänge vor der Fotolinie befunden, hätte sich aber nach der Bedienungsanleitung auf Höhe der markierten Fotolinie befinden müssen. Das Amtsgericht lehnte diesen Beweisantrag ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 17.07.2020 per Beschluss mit dem Wortlaut „Der Antrag wird zurückgewiesen.“ ab. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass der Beweisantrag aufgrund der Aussage des Messbeamten gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zu-rückgewiesen werden konnte. Den Beweisantrag hatte der Verteidiger dem Amtsgericht zusätzlich bereits einen Tag vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich übermittelt.

2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags er-weist sich als begründet, weil die gerichtliche Ablehnungsentscheidung rechtlicher Überprüfung nicht standhält. Die Ablehnung unbedingter Beweisanträge darf nicht den Urteilsgründen überlassen werden. Die Ablehnung eines Beweisantrags hat gemäß § 71 Abs. 1 OWiG, § 244 Abs. 6 StPO durch einen noch vor Schluss der Beweisaufnahme mit Gründen zu versehenen und mit diesen gemäß § 273 Abs. 1 StPO zu protokollierenden Gerichtsbeschluss zu erfolgen (BGHSt 40, 287, 288; OLG Köln, Beschl. v. 30.01.1970 – 1 Ws [OWi] 9/70 = BeckRs 9998, 109184; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 63. Aufl. § 244 Rn. 82 m.w.N.; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 77 Rn. 23). Die Begründung soll den Antragsteller davon in Kenntnis setzen, wie das Gericht seinen Antrag beurteilt. Er soll dadurch in die Lage versetzt werden, sein weiteres Verteidigungs- bzw. Prozessverhalten auf die neue Verfahrenssituation rechtzeitig einzustellen (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 04.12.2006 – 3 Ss OWi 1614/06 [unveröffentlicht]). Hier liegt überhaupt keine Begründung der Ablehnung vor, es wurde lediglich der Antrag „zurückgewiesen“. Die willkürliche Ablehnung eines Beweisantrags, also die Ablehnung eines Beweisantrags ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückzuführende Begründung, die unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist, verletzt aber das rechtliche Gehör (BVerfG NJW 1992, 2811). Daran ändert auch die nachträgliche Begründung der Ablehnung des Beweisantrags im Urteil nichts. Denn daraus kann nicht geschlossen werden, aus welchen Gründen der Beweisantrag in der Hauptverhandlung abgelehnt worden ist.“

StPO I: Hilfsbeweisantrag der StA, oder: Wenn die StA kein bestimmtes Beweismittel nennt

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Der heutige Donnerstag bringt hier dann mal wieder Entscheidungen zur StPO.

Ich eröffne mit dem BGH, Urt. v. 14.10.2020 – 5 StR 279/20. Verurteilt worden ist der Angeklagten K. wegen Beihilfe zur versuchten unerlaubten Durchfuhr von Kriegswaffen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, der Angeklagten Z. ist freigesprochen worden. Die gegen dieses Urteil gerichteten und zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen der Staatsanwaltschaft waren beim BGH hinsichtlich des Freispruchs des Angeklagten Z. erfolgreich, während die Revision des Angeklagten K. mit der Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs führt.

Hier will ich aus der etwas verwickelten Revisionsentscheidung nur die Ausführungen des BGH zur Revision der StA betreffend den K vorstellen. Gerügt worden waren von der StA u.a. Verfahrensfehler. Die sieht der BGH nicht:

„a) Verfahrensrechtliche Mängel deckt die Revision nicht auf.

aa) Die Rüge unzutreffender Bescheidung eines Hilfsbeweisantrags ist bereits unzulässig, denn entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO trägt die Beschwerdeführerin den Inhalt zahlreicher in dem Antrag und im Revisionsvorbringen in Bezug genommener Unterlagen nicht vor.

Die Rüge wäre auch unbegründet. Bei dem Antrag handelt es sich nicht um einen Beweisantrag im Rechtssinne (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO). Zu Ziffer 1 ihres Antrags hat die Staatsanwaltschaft die Verlesung eines Rechtshilfeersuchens der Staatsanwaltschaft Bosnien-Herzegowina zum Beweis verschiedener Tatsachen beantragt. Aus dem Antrag wird schon nicht klar, weshalb die Verlesung eines derartigen Schriftstücks überhaupt die behaupteten Beweisergebnisse belegen können soll, so dass es an der erforderlichen Konnexität mangelt (vgl. § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO). Soweit die Staatsanwaltschaft bezüglich Ziffer 2 bis 4 ihres Antrags entweder die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls oder die Vernehmung des vernommenen Zeugen beantragt hat, stellt dies keinen zulässigen Beweisantrag dar, weil der Antragsteller ein bestimmtes Beweismittel zu benennen hat, mit dem Beweis erhoben werden soll, und nicht mehrere alternativ (vgl. § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO; vgl. dagegen zur – zulässigen – kumulativen Beweismittelbenennung Dallmeyer, in Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl., Rn. 118 f. mwN). Bezüglich Ziffer 5 des Antrags wird nicht bestimmt behauptet, welche konkreten Beweistatsachen der Zeuge Sa. bekunden soll, sondern lediglich geschildert, was ein in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommener Polizeibeamter ausgesagt hat. Auch dies entspricht nicht den Anforderungen des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO. Zulässige Aufklärungsrügen sind insoweit nicht erhoben.

bb) Ob die Staatsanwaltschaft mit ihrer weiteren Revisionsbegründung vom 5. Mai 2020 angesichts der Schilderung zahlreicher Verfahrensvorgänge konkrete weitere Verfahrensrügen erheben wollte (und gegebenenfalls welche), erschließt sich dem Senat aus dem Revisionsvorbringen nicht.“