Beweisrecht II: Beweisantrag „ins Blaue hinein“, oder: Achtung, wichtige Entscheidung zum neuen Recht!!

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Bei der zweiten Entscheidung des Tages, dem BGH, Beschl. v. 16.03.2021 – 5 StR 35/21 – handelt es sich um die m.E. erste Entscheidung des BGH zum neuen Recht des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO. Es geht nämlich um die Frage der „Ernsthaftigkeit“ des Beweisbegehrens. Stichwort auch: Antrag aufs Geratewohl oder „ins Blaue“. Der BGH hält insoweit an der früheren Rechtsprechung zu dieser Frage fest.

Der Entscheidung lag folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

„a) Der Verteidiger des Angeklagten hat am 6. August 2020 (dem 19. von 22 Hauptverhandlungstagen der seit Dezember 2019 laufenden Hauptverhandlung) beantragt, den Zeugen G. zum Beweis der Tatsache zu hören, dass der Angeklagte diesen am 23. Oktober 2018 gegen 22 Uhr in H. getroffen, sich kurz mit ihm unterhalten und ihm von einer Tankstelle eine Schachtel Zigaretten und Kekse bzw. Zwieback nebst Kassenbon mitgebracht habe. Der Zeuge G. führe eine Art Kassenbuch bzw. sammele Kassenbons, weshalb er diesen Einkauf nachvollziehen könne. Ziel des Antrags war, den Angeklagten wegen dieses Alibis als Mittäter zweier Überfälle am 23. Oktober 2018 gegen 22 Uhr in M. und gegen 23 Uhr in N. (Taten 2 und 3) auszuschließen.

Das Landgericht hat den Antrag mit am nächsten Hauptverhandlungstag verkündeten Beschluss abgelehnt. Es handele sich lediglich um einen nach Amtsermittlungsgrundsätzen zu behandelnden Beweisermittlungsantrag, weil die Beweistatsache „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ behauptet werde. Der Einkauf an einer Tankstelle sei belanglos und kaum markant. Eine Zuordnung zu einem konkreten Datum aus der Erinnerung sei nach fast zwei Jahren weder dem Angeklagten noch dem Zeugen möglich. Hätte der seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte eine nachvollziehbare Erinnerung an das nunmehr behauptete Alibi gehabt, wäre seine geständige Einlassung vom 7. Hauptverhandlungstag, die er am 10. Hauptverhandlungstag widerrufen habe, nicht erklärbar, weil er dort nicht nur die Fahrten zu den einzelnen Tatorten, sondern auch Einzelheiten der jeweiligen Tatabläufe geschildert habe. Gegen eine – im Beweisantrag behauptete – reale Erinnerung des Angeklagten an das unter Beweis gestellte Geschehen sprächen auch das späte Vorbringen und der bisherige Verlauf der Beweisaufnahme zu konkreten Alibibehauptungen bezüglich zweier anderer Tatzeitpunkte (Taten 1 und 4); die von ihm jeweils dazu benannten drei Zeugen hätten die Alibibehauptungen nicht bestätigen oder sich nicht erinnern können. Zur Erforschung der Wahrheit sei die Beweiserhebung von Amts wegen (§ 244 Abs. 2 StPO) nicht geboten.“

Dazu der BGH:

„b) Die Begründung, mit der das Landgericht den auf Beweiserhebung gerichteten Antrag als Beweisermittlungsantrag und nicht als Beweisantrag behandelt hat, stellt sich im Ergebnis als zutreffend dar. Zwar ergibt sich – anders als der Generalbundesanwalt meint – schon aus dem Antrag selbst durch Schilderung der Wahrnehmungssituation, dass der Zeuge zu der unter Beweis gestellten Tatsache aufgrund eigenen Erlebens Angaben machen können soll (sogenannte „Konnexität“ zwischen Beweistatsache und Beweismittel; vgl. § 244 Abs. 3 Satz 1 a.E. StPO; hierzu näher BGH, Urteil vom 28. November 1997 – 3 StR 114/97, BGHSt 43, 321, 329 f.; Beschluss vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011, 169, 170; Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 244 Rn. 21a ff. mwN). Die Wertung des Landgerichts, der Antrag sei nur „ins Blaue hinein“ und „aufs Geratewohl“, also nicht ernsthaft gestellt und deshalb kein Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO, erweist sich aber als rechtsfehlerfrei.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt ein auf Beweiserhebung gerichteter Antrag keinen Beweisantrag im Rechtssinne dar, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung lediglich „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue hinein“ aufgestellt wird, so dass es sich nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. März 1989 – 3 StR 486/88, NStZ 1989, 334; vom 10. April 1992 – 3 StR 388/91, NStZ 1992, 397; vom 10. November 1992 – 5 StR 474/92, NStZ 1993, 143; vom 5. Februar 2002 – 3 StR 482/01, NStZ 2002, 383; vom 7. November 2002 – 3 StR 216/02, NStZ 2004, 51; vom 5. März 2003 – 2 StR 405/02, NStZ 2003, 497; vom 4. April 2006 – 4 StR 30/06, NStZ 2006, 405; vom 12. März 2008 – 2 StR 549/07, NStZ 2008, 474; vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011, 169; vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, NStZ 2013, 476; vom 6. April 2018 – 1 StR 88/18, StraFo 2018, 433, 434; Urteile vom 6. Dezember 1983 – 5 StR 677/83, StV 1985, 311; vom 12. Juni 1997 – 5 StR 58/97, NJW 1997, 2762, 2764; vom 2. Februar 1999 – 1 StR 590/98, NStZ 1999, 312; vom 14. April 1999 – 3 StR 22/99, NJW 1999, 2683, 2684; vom 13. Juni 2007 – 4 StR 100/07, NStZ 2008, 52; vom 4. Dezember 2008 – 1 StR 327/08, NStZ 2009, 226; vom 11. April 2013 – 2 StR 504/12, NStZ 2013, 536, 537; vgl. auch KG, StV 2015, 103; NStZ 2015, 419; OLG Köln, NStZ 2008, 584; OLG Bamberg, NStZ 2018, 235; BVerwG, NVwZ 2017, 1388).

Trotz der von weiten Teilen der Literatur (vgl. nur Löwe/Rosenberg/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 109 ff.; KK-StPO/Krehl, 8. Aufl., § 244 Rn. 73; MükoStPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn. 128 ff.; SK-StPO/Frister, StPO, 5. Aufl., § 244 Rn. 50; Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl., S. 84 f.; Schneider, NStZ 2012, 169, 170) und auch Teilen der Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. September 2007 – 3 StR 354/07, StV 2008, 9; vom 20. Juli 2010 – 3 StR 218/10, StraFo 2010, 466; vom 27. September 2011 – 3 StR 296/11; vgl. auch BGH, Beschluss vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011, 169, 170) an dieser Rechtsfigur bereits zuvor geübten gewichtigen Kritik und ungeachtet der während des Gesetzgebungsverfahrens (vgl. Schneider, ZRP 2019, 126, 128 f.) und im Rahmen der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Bundestages insoweit geäußerten Bedenken (vgl. Mosbacher, Stellungnahme S. 8, abrufbar unter https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen/stellungnahmen-665734; vgl. dagegen BT-Drucks. 19/15161 S.11) hat der Gesetzgeber bei der Neuregelung des Beweisantragsrechts durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2121) ausdrücklich an der bisherigen Rechtsauffassung festhalten wollen. In der Gesetzesbegründung zur Neufassung von § 244 Abs. 3 StPO heißt es: „Ferner sollen Beweisbehauptungen ‚aufs Geratewohl‘ oder ‚ins Blaue hinein‘, denen es an der gebotenen Ernsthaftigkeit des Verlangens mangelt, von den Gerichten nach § 244 Absatz 3 Satz 1 StPO-E nicht als Beweisanträge behandelt werden müssen“ (BT-Drucks. 19/14747 S. 34). Seinen objektiven Ausdruck hat dieser gesetzgeberische Wille in dem Definitionsmerkmal „ernsthaft“ in § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO gefunden (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2020 – 3 StR 291/20, NStZ-RR 2021, 57; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn. 21d). Diese ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung (vgl. aber auch Claus, NStZ 2020, 57, 60; Schäuble, NStZ 2020, 377, 381) ist ungeachtet des Umstandes hinzunehmen, dass sich dadurch ein systematisch schwer auflösbarer Widerspruch zur Neuregelung in § 244 Abs. 6 Satz 2 StPO ergibt (näher Güntge, StraFo 2021, 92, 98; Schäuble, NStZ 2020, 377, 381 f.; zur Problematik auch Börner, NStZ 2020, 460; Claus, aaO, S. 60; vgl. bereits BGH, Beschluss vom 19. September 2007 – 3 StR 354/07, StV 2008, 9).

Weil sich weder aus dem Gesetzestext noch aus der Gesetzesbegründung ergibt, dass der Gesetzgeber die bisher von der Rechtsprechung gestellten strengen Anforderungen in diesen Fällen ändern wollte, gelten diese wie zuvor. Die Frage, ob ein „aufs Geratewohl“ gestellter Antrag vorliegt, beurteilt sich danach aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, NStZ 2013, 476 mwN). Es kommt dagegen nicht darauf an, ob das Tatgericht eine beantragte Beweiserhebung für erforderlich hält (vgl. BGH, Urteil vom 11. April 2013 – 2 StR 504/12, NStZ 2013, 536, 537 mwN). Es ist dem Antragsteller grundsätzlich nicht verwehrt, auch solche Tatsachen zum Gegenstand eines Beweisantrags zu machen, deren Richtigkeit er lediglich vermutet oder für möglich hält (vgl. BGH, jeweils aaO, mwN). Nicht ausreichend für die Einordnung als Beweisermittlungsantrag ist zudem, dass die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisbehauptung ergeben hat oder dass die unter Beweis gestellte Tatsache objektiv ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheint oder eine andere Möglichkeit nähergelegen hätte (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, aaO, mwN). Weil die Herabstufung eines ansonsten formgerechten Beweisantrags zu einem bloß unter Aufklärungsgesichtspunkten beachtlichen Beweisermittlungsantrag (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 1992 – 5 StR 474/92, NStZ 1993, 143, 144 mwN) regelmäßig in ein Spannungsverhältnis zu den notwendig starken Beweisteilhaberechten der Verfahrensbeteiligten und dem das Beweisantragsrecht prägenden Verbot der Beweisantizipation gerät (näher Schäuble, NStZ 2020, 377, 381), ist bei der Ablehnung derartiger Anträge mangels Ernsthaftigkeit – wie die bisherige Rechtsprechung zeigt – äußerste Zurückhaltung geboten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 21e). Die Ablehnung eines Beweisantrags als „ins Blaue hinein” oder „aufs Geratewohl” gestellt wird demnach nur ausnahmsweise in Betracht kommen und erfordert einen hohen argumentativen Aufwand des Tatrichters, der nicht durch die bloße Behauptung, er sei davon überzeugt, dass die Beweisbehauptung aus der Luft gegriffen worden sei, ersetzt werden kann (BGH, Beschluss vom 7. November 2002 – 3 StR 216/02, NStZ 2004, 51).

Ob es dem Antrag an der notwendigen Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens mangelt, lässt sich regelmäßig nur aus einer Gesamtschau aller insoweit relevanten Faktoren ableiten. Dabei können der Inhalt des Beweisbegehrens, die bisherige Beweissituation und das bisherige Prozessverhalten des Antragstellers berücksichtigt werden. Ein tragfähiges Indiz für den Mangel an Ernsthaftigkeit kann etwa sein, dass eine Mehrzahl neutraler Zeugen eine Tatsache übereinstimmend bekundet hat und ohne Beleg für entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte das Gegenteil in das Wissen eines weiteren, völlig neu benannten Zeugen gestellt wird, dessen Zuverlässigkeit offensichtlichen Zweifeln begegnet (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 1997 – 5 StR 58/97, NJW 1997, 2762, 2764; Beschluss vom 5. Februar 2002 – 3 StR 482/01, NStZ 2002, 383). Erforderlich ist, dass sich die Bestätigung der Beweisbehauptung nach dem Verlauf der bereits durchgeführten Beweisaufnahme als offensichtlich unwahrscheinlich darstellt (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 372/12, NStZ 2013, 476, 478).

Eine solche Ablehnung mangels Ernsthaftigkeit des Beweisbegehrens bedarf einer begründeten Entscheidung durch den Vorsitzenden oder das Gericht, aus der sich die hierfür wesentlichen Gründe in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Form ergeben. Zudem kann es erforderlich sein, den Antragsteller zuvor zu seinen Wissensquellen oder den Gründen seiner Vermutung zu befragen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1983 – 5 StR 677/83, StV 1985, 311; KG, NStZ 2015, 419, 421; OLG Köln, NStZ 2008, 584; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 21g); eine Rüge mit dieser Angriffsrichtung ist vorliegend nicht erhoben.

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Ablehnung des auf Vernehmung des Zeugen G. gerichteten Antrags revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat in seinem ablehnenden Beschluss mit mehreren Argumenten seine Einschätzung belegt, der Antrag sei nicht ernstlich gemeint, sondern lediglich „ins Blaue hinein“ und „aufs Geratewohl“ gestellt. Dabei durfte es namentlich auf die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme (glaubhaftes, allerdings widerrufenes Teilgeständnis des Angeklagten zu seiner Anwesenheit an den Tatorten; Scheitern anderweitiger Alibibehauptungen bei drei von ihm benannten Zeugen), sein Prozessverhalten (erst Teilgeständnis, dann Widerruf; trotz eineinhalb Jahren Untersuchungshaft und mehrfacher vorheriger Einlassung Präsentation eines Alibizeugen erst am 19. Hauptverhandlungstag) und die auf der Hand liegenden Zweifel an einer Erinnerung des fast zwei Jahre zurückliegenden Alltagsvorgangs verweisen. Dass sich das Landgericht in seinem Ablehnungsbeschluss nicht ausdrücklich auch noch mit der für sich gesehen bereits unwahrscheinlichen Behauptung der Aufbewahrung eines diesbezüglichen Kassenbons durch den Zeugen über fast zwei Jahre beschäftigt hat, bleibt demgegenüber ohne Belang. Weder die Begründung des Landgerichts noch das nur eingeschränkt überprüfbare Ergebnis seiner Bewertung lassen Rechtsfehler erkennen.“

Sorry, war ein bisschen mehr Text. Aber ist m.E. ja auch eine wichtige Entscheidung

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